~Fiftytwo~
Die erste Vorlesung hatte ich verpasst, aber damit hatte ich mich schon in Yonathans Auto abgefunden. Da die Prüfungsvorbereitungen im vollem Gang waren, fielen viele der Vorlesung komplett aus, weshalb ich beschloss im zweiten Block meine Hausarbeit in der Bibliothek auszuarbeiten. Sie würde sechzig Prozent meiner Gesamtnote beinhalten. Daher musste sie perfekt sein!
Mit meinem Laptop setzte ich mich an einen der hintersten Tische und fing an alle möglichen Bücher über Rechtswissenschaften zusammenzusuchen. Nach nur fünfzehn Minuten herrschte absolutes Chaos auf meinem Tisch. Bücher lagen aufgeschlagen kreuz und quer. Notizzettel klebten auf hunderten Seiten. Paragrafen über Paragrafen sprengten meine Gedanken.
Es war das erste Mal seit drei Wochen, dass ich mich so intensiv mit meinem Studium befasste, dass ich sogar völlig vergaß, dass ich anders als andere Studenten war. Jeder in meinem Kopf schien die Flucht zu ergreifen, sobald ich mich mit Jura beschäftige. Sollte mir recht sein.
Nach einer weiteren Stunde hatte ich ungefähr die Hälfte der Arbeit fertig. Der Abgabetermin war erst in einer Wochen, aber ich wollte sie nicht auf den letzten Drücker beenden und dann keine Zeit mehr für Korrekturen haben.
„Wo zur Hölle hast du gesteckt?", flüsterte eine wütende Stimme, weshalb ich meinen Kopf von meinem Laptop hob. Cynthia saß vor mir und sah überhaupt nicht zufrieden aus. „Und wieso siehst du aus, als wärst du durch den Fleischwolf gezogen?"
„Der Fleischwolf heißt Yonathan", erklärte ich nur. Sie starrte mich mit offenem Mund an.
„Du hast die erste Vorlesung verpasst für ...", begann sie und neigte ihren Kopf über all die Bücher zu meinem Gesicht.
„Wir hatten ein wenig was zu klären", meinte ich ausweichend und begann mit glühenden Wangen die ersten Bücher wegzuräumen.
„Mit seinem Schwanz in dir?"
Fassungslos blickte ich mich in der Bibliothek um, als ihre Worte mir regelrecht entgegen flogen. Einige andere Kommilitonen sahen zu uns rüber, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten.
„Cynthia!", flüsterte ich erzürnt. Es war nicht so, dass es ein Geheimnis war, mit wem ich zusammen war. Vor allem, weil Nate mich häufig zur Uni fuhr und auch abholte. Dennoch war es mir unangenehm, wenn mich andere Studenten ansahen und daraufhin miteinander plauderten.
„Sorry", wisperte sie zurück. „Ihr klärt eure Sachen auf echt schräge Art."
„Wir klären es ja nicht währenddessen", rollte ich mit den Augen und wollte ihr absolut nicht mehr dazu erzählen müssen. „Sag mir lieber, was mit dir und Aljoscha war! Er hat sich heute Morgen nichts anmerken lassen."
„Aljoscha?", fragte sie perplex.
„Alexej, Stenjas Bruder", half ich ihr auf die Sprünge und wollte ihr am liebsten auf die blasse Stirn klopfen.
„Ah. Er ist ... nett", erklärte sie. Mit gehobenen Augenbrauen wartete ich darauf, dass sie mehr dazu sagen würde, doch das tat sie nicht.
„Echt jetzt? Nett?! Das ist der kleine Bruder von Scheiße!"
„Was soll ich dir sagen? Er hat mich nach Hause gebracht, wir hatten Sex, alles entspannt", zuckte sie mit den Schultern. Für die nächsten Sekunden starrte ich sie einfach nur völlig fassungslos an.
„Sieh mich nicht so an!"
„Wie soll ich dich denn ansehen?!", raunte ich in einem Bühnerflüsterton, der nur noch mehr Blicke auf uns zog. „Wie? Was? Oh mein Gott!"
Cynthia grinste mich schief an, stand auf und lief zu dem Bücherregalen links von uns. Noch immer wie erstarrt, sah ich ihr nach, ehe ein Blitz mich wachrüttelte und ich wie von der Tarantel gestochen ihr folgte.
„Du verarschst mich!", flüsterte ich hinter ihrem Rücken. Sie zog desinteressiert ein Buch aus dem Regal und blätterte es ebenso gelangweilt durch.
„Wieso sollte ich dich verarschen?" Sie ging weiter, umrundete das Regal und wieder blieb ich erstarrt stehen. Sie konnte mir sowas doch nicht beiläufig erzählen und nicht wissen, dass mich das absolut aufwühlte.
Wieder zog sie eines der Bücher hervor und schaute mich durch die Lücke hindurch an. „Ich kenne Typen wie ihn. Das war eine einmalige Sache, also alles cool."
„Typen, wie ... Einmalige ...?"
„Wenn du so stotterst, wirkst du nicht besonders intelligent", lachte sie und stellte das Buch zurück.
„Weil er mein bester Freund ist und du die einzige Freundin bist, die ich habe", warf ich die Hände in die Luft. Ob sie es über das Regal hinweg gehört hatte, wusste ich nicht. Doch sie kam wieder zu mir und sah mich entschuldigend an.
„Das ändert auch nichts daran. Wir sind beide erwachsen und können Sex von Liebe unterscheiden." Gut, ich verstand, dass sie es offenbar wirklich locker sah, aber ich würde erst beruhigt sein, wenn ich mir sicher sein konnte, dass Aljoscha genauso dachte.
„Wie weit bist du mit deiner Hausarbeit?", wechselte sie das Thema, als ich zurück zum Tisch ging und die restlichen Bücher zuschlug.
„Ist noch eine Menge Arbeit, aber ich schaffe das. Übers Wochenende werde ich sie beenden, dann habe ich noch Zeit, um sie auszubessern."
Sie nickte und schien mit der Antwort zufrieden zu sein. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machte, weil ich so viel anderes im Kopf hatte, umso froher war ich, dass sie mich unterstützte.
***
Während des Mittags und auch der letzten Vorlesung versuchte ich Cynthia immer wieder Details zu entlocken über letzte Nacht. Doch jedes Mal, wenn ich eine andere Frage stellte, grinste sie und sagte: „Eine Frau genießt und schweigt."
Es war zum verrückt werden! Dieser Gedanke, wie sie mit Aljoscha Sex hatte ließ mich einfach nicht mehr los.
„Also hast du ihn zuerst geküsst?", fragte ich als wir die Fakultät verließen.
„Du wirst nicht locker lassen, oder?", erwiderte sie nur belustigt.
„Ist er denn mit dir reingekommen oder ..." Sie schaute mich bedeutungsvoll an und teilte ihre Gedanken mit mir wortlos. „Oh mein Gott! Im Auto?" Sie legte einen Schritt zu und ich trottete ihr eilig hinterher, während ich versuchte, meine Tasche über meine Schulter zu heben und nicht über meine eigenen Füße zu fallen.
„Du bist echt nervig, wenn du etwas wissen willst", meinte sie, als wir am Tor ankamen und sie ruckartig stehenblieb. Ich rannte in ihren Rücken und sah verwundert über ihre Schulter.
Demjan stand in einem teuren Anzug an einem mattgrauen Mercedes und sah dabei fast genauso aus wie Yonathan. Hätte er nicht hellere Haare und würden die Tattoos nicht fehlen, könnte man die beiden tatsächlich miteinander verwechseln.
„Heilige Scheiße", raunte Cynthia. Sie hatte Demjan zwar kurz im Penthouse gesehen, aber ich musste ihr recht geben, dass der Anblick weitaus tiefer ging. Vor allem, als dann auch noch Kirill um das Auto schlenderte.
Seine blonden Haare waren die letzten Wochen gewachsen und fielen ihn mittlerweile in die Stirn. Dennoch wirkte er unheimlich, wie er die Kapuze seines Sweaters bis tief in die Stirn trug und seinen grünen Augen somit einen dunklen Schatten verlieh.
Wäre er nicht mein Cousin, würde ich niemals freiwillig mit ihm in ein Auto steigen!
„Weißt du, was ich nicht verstehe?", hauchte Cynthia, während sie die beiden Russen ebenso anstarrte. Ich war froh, dass wir noch weit genug weg waren und Demjan und Kirill somit nur geduldig warten mussten. „Wie können die Brüder von Yonathan so durch und durch russisch sein, wohingegen er absolut amerikanisch ist?"
Cynthia verstand so einiges nicht, denn sie wusste natürlich nicht viel über den Aufenthalt der Russen.
„Weil er bei seiner Mom in der USA aufgewachsen ist. Genau genommen sind Demjan und Maxim auch nur seine Halbbrüder, die bei seinem Vater groß geworden sind", erklärte ich. „Yonathans Mutter hielt nicht viel von den russischen Traditionen, dennoch ist Nates zweiter Name Jakob, benannt nach seinem Großvater."
„Deswegen nennen ihn die Russen anders?"
„Jascha ist die russische Form von Jakob. Genauso wie Aljoscha die russische Form von Alexej ist", sagte ich schulterzuckend. Es war verrückt, wie normal all das für mich geworden war, obwohl ich vor wenigen Monaten ebenso im Dunklen getappt war.
„Und Stenja?", fragte sie.
„Stephan, aber eigentlich nennt ihn wirklich niemand so."
„Das ist voll spannend. Ich finde es schön, dass sie Yonathan nach dem Anschlag auf seine Firma unterstützen. Das zeigt, dass sie trotz allem eine gute Bindung zueinander haben. Wurde der Attentäter eigentlich schon gefunden?"
Wenn sie wüsste, dass es eigentlich ganz andere Hintergründe hatte, weshalb sie hier waren, würde sie es nicht mehr so toll finden. Oder, dass ich im Grunde diejenige war, die für den Anschlag auf Nates Firma verantwortlich war. Laut der offiziellen Aussage von Yonathan, erinnerte er sich nicht mehr an den Täter, weshalb die Ermittlungen früher oder später eingestellt werden würden.
„Nein, noch nicht", antwortete ich. „Ich muss jetzt los. Wie schreiben heute Abend." Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung, ehe ich auf Demjan und Kirill zuging und ein ungutes Gefühl bekam. Keiner der beiden hatte mir vorher gesagt, wieso sie mich abholten, weshalb ich nervös vor ihnen stehenblieb.
„Neues Auto?", fragte ich Demjan mit einem zynischen Grinsen.
„Sehr witzig. Ist nur geliehen. Also falls du auf die Idee kommst es zu klauen, es ist vom Eigentümer gechipt."
„Ich habe mir dein Auto auch nur geliehen", erwiderte ich mit klimpernden Wimpern. Ich konnte sehen, wie die Halsschlagader in seinem Hals vor Wut pulsierte, weshalb ich innerlich lachte.
„Fertig mit Klatsch und Tratsch?", fragte Kirill unfreundlich und riss ungeduldig die hintere Tür für mich auf.
„Nennt man Smalltalk. Nicht gerade etwas, womit du dich auskennst", erwiderte ich ebenso abweisend.
„Allein dir dabei zuzusehen, verknotet meine Eingeweide, sodass ich sie mir am liebsten rausreißen will." Er schloss die Tür wieder und ich atmete tief ein. Kirill blieb einfach unverbesserlich.
„Wo fahren wir denn jetzt hin?", fragte ich, als die beiden ebenso auf ihren Plätzen saßen und Demjan den Motor startete. Es gab schon ein skurriles Bild an, wie sie beide vor mir waren. Kirill, der mit einem Arm an der Tür lehnte und seinen Kopf auf die Hand stützte und Demjan, der eine Hand am Lenkrad und die andere locker zwischen seinen Beinen hatte.
„Am Stadtrand befindet sich eine Lagerhalle von uns. Dort treffen wir Jascha", teilte mir Demjan mit.
„Wieso hat er mich denn nicht abgeholt?"
„Weil Daddy mal wieder kurzfristig den Plan ändert und wir wie Idioten springen müssen, wenn er schnipst", erklärte Kirill säuerlich.
Ich ließ es unkommentiert und lehnte mich in den Ledersitzen zurück. Yonathan würde sich schon was dabei gedacht haben.
Nach einer halben Stunde kamen wir auf einem Gelände an, auf dem eine alte verlassene Lagerhalle stand. Die Halle bestand vollständig aus Blech, jedoch war sie schon ziemlich runtergekommen. Das Blech rostete und wies einige Löcher auf. In der direkten Umgebung gab es nichts weiter. Nur ein Feld und dahinter die Ostküste an der Massachusetts Bay.
„Überhaupt nicht gruselig, wenn ihr mich an so einen Ort bringt", nuschelte ich, als ich über das Geländer ging.
„Es ist auch kein Ort für eine Frau, aber die Diskussion haben wir schon einmal gegen Jascha verloren." Demjan ging an mir vorbei zum Kofferraum und holte einen kleinen Koffer hervor.
„Was meinst du?"
„Warum denkst du, wachsen die Mädchen in unseren Familien woanders auf? Weil solche Orte nicht für das schwächere Geschlecht gemacht wurden", erklärte er, nahm einen weiteren Koffer und reichte diesen Kirill.
„Schwächere Geschlecht?" Ich konnte meinen argwöhnischen Ton leider nicht verhindern. Wenn Demjan wirklich noch immer so dachte, dann wunderte es mich nicht, dass er bei Frauen nicht besonders gut ankam. Jedoch stammten diese Worte vermutlich eher von seinem Vater.
„An solchen Orten werden illegale Geschäfte geführt, es wird mit Drogen und Waffen gehandelt und Menschen sterben an solchen Orten", sagte er und sah mich dabei ernst an. „Keine Ahnung, was mein Bruder sich dabei denkt, dich in die Geschäfte der Bratva einzuführen."
Ein eiskalter Schauer lief meinen Rücken herunter. Was meinte Demjan damit, dass Yonathan mich in die Bruderschaft aufnehmen wollte?
„Vielleicht ist er auch einfach nur vorausschauender wie wir", meinte Kirill mit einem vielsagend Blick Richtung Demjan. Offenbar waren sie nicht derselben Meinung.
„Vielleicht", gab Demjan mit gepresster Stimme zurück. „Wir sollten reingehen."
Er schloss den Kofferraum und gemeinsam gingen wir in die alte Lagerhalle. Von innen war es überhaupt nicht wie eine Lagerhalle, sondern glich einem Schießplatz. Es gab mehrere Bahnen. Am Ende hingen Zielscheiben in Form von Menschen. Mir war sofort klar, warum sie mich herbrachten, weshalb ich auch überfordert stehenblieb und anschließend mehrere Schritte rückwärts ging.
„Das könnt ihr vergessen!"
„Sag ich ja, schwächeres Geschlecht", brummte Demjan zu Kirill. Er ging auf einen länglichen dunkelbraunen Tisch zu und platzierte die Koffer auf diesen. „Kläre das am besten mit deinem Freund."
Er öffnete den Koffer und nahm drei schwarze Pistolen heraus, ehe er auch die Magazine dafür auf den Tisch platzierte. Jegliches Blut in meinen Adern gefror und mit starrem Blick sah ich auf die Waffen.
Demjan öffnete auch den nächsten silbernen Koffer und nahm weitere Pistolen heraus, die jedoch völlig anders aussahen.
„Wofür die große Auswahl?", fragte ich. Meine Stimme hätte auch von einer Maus kommen können, so leise und piepsig wie sie war.
„Wie wäre es, wenn du erstmal dichter kommst", schlug er vor und stellte die Koffer auf den Boden. „Und Kirill, du machst Platz für Ly."
„Ly?"
„Mein Gott. Willst du alles, was ich sage wiederholen, wie jemand, der schwer vom Begriff ist?", blaffte Demjan mich an. Ich zuckte von seinem Ton zusammen.
Er könnte ruhig etwas netter sein, wenn er vorhat mir wirklich eine der Waffen in die Hand zu geben!
Kirills Gesichtszüge glätteten sich und er verlor die Strenge in seinem Blick. Er lächelte mich warmherzig an und winkte mich zu sich.
„Schönheit, warum schaust du, als wolltest du jeden Moment einen Massenanschlag verüben?", fragte Ly belustigt, als er meine grimmige Miene bemerkte.
„Stellt euch einfach an den Tisch gegenüber von mir und hört mir zu", meinte Demjan und schob die schwarzen Waffen zu uns. „Bevor ihr schießen lernt, müsst ihr euch mit den Waffen vertraut machen. Dafür will ich, dass ihr die Waffe mit sicheren Griffen auseinander baut und anschließend wieder zusammen."
Während Ly absolut keine Angst zu haben schien und die Waffe in die Hand nahm, betrachtete ich das Ding vor mir nur ängstlich. Das letzte Mal, als ich so eine in der Hand hatte, war nicht unbedingt ein Moment, der in meinen Top Ten kam.
„Die Magazine sind leer", teilte Demjan mir mit weitaus sanfterer Stimme mit. Er schien mein Unbehagen zu sehen, denn er nahm das Magazin und zeigte mir, dass in diesem keine einzige Kugel war. „Es ist an sich nur ein wenig Metall."
Ich nickte und nahm mit zittrigen Händen die Waffe in die Hand. Sie fühlte sich schwer und kalt in meinen Fingern an.
„Ihr haltet beide eine Desert Eagle XIX 6 in der Hand. Diese Waffe ist eine halbautomatische Großkaliberpistole mit acht Schuss. Die Patronen sind 9mm Hülsen." Er nahm selbst seine Waffe in die Hand, legte beide Hände um den Griff und zielte zwischen Ly und mir. Natürlich hatte auch er kein geladenes Magazin drin. „Sie verfügt über eine extrem hohe Eigenpräzision. Zudem ist im Lauf eine Picantinny-Schiene integriert, die ideal für Rexlexvisiere ist."
Er nahm ein solches Visier und steckte es oberhalb der Waffe. „So können Objekte mit einem Leuchtpunkt noch präziser anvisiert werden."
„Mit Objekten meinst du Menschen?", stellte ich eine Frage.
„Nenne es wie du willst. Objekte, Opfer, Menschen. Am Ende zählt nur, wer schneller abdrückt und besser zielt", meinte er mit kühler Stimme. „Ich zeige euch jetzt einmal, wie ihr die Waffe zerlegt. Danach macht ihr es."
Mit geübten Griffen nahm er das leere Magazin aus dem Handgriff, ehe er den Lauf nach hinten zog. „Versichert euch unbedingt immer, dass keine Kugel im Lauf steckt."
Mit dem Daumen drückte er einen Knopf neben dem Abzug ein und mit dem Zeigefinger schob er auf der anderen Seite einen Hebel, ehe er den Lauf der Waffe entfernte.
„Der Lauf steht unter Federdruck, daher achtet darauf, dass es euch nicht um die Ohren fliegt", erklärte er. „Anschließend könnt ihr den Verschluss vom Griffstück entfernen. Die Feder löst sich und fertig seid ihr. Danach einfach wieder zusammenstecken."
Er demonstrierte es uns, allerdings saß jeder seiner Handgriffe so genau, dass es für mein Gehirn kaum möglich war, ihm zu folgen.
„Jetzt seid ihr dran."
Unsicher sah ich zu Ly, der neben mir stand und direkt anfing. Ich verstand, wieso er trainiert werden musste, falls nochmal so eine Situation entstand und Kirill einfach verschwand. Aber was hatte ich mit alldem zu tun?
„Sky", sprach Demjan mich an, als ich mich, auch nachdem Ly fertig war, nicht dazu durchringen konnte, die Waffe nur einen Millimeter zu bewegen.
„Wofür das Ganze?", fragte ich und legte die Pistole zurück auf den Tisch.
„Damit ihr euch mit der Waffe vertraut macht", erklärte Demjan. „Nur Schießen wird euch nichts bringen, wenn ihr kein Gefühl dafür habt."
„Ich meine, wofür muss ich damit vertraut werden?" Natürlich war mir bewusst, dass ich jederzeit in Gefahr geraten konnte, aber ich war nie allein. Irgendwer war immer in meiner Nähe.
„Es ist nie verkehrt, sich selbst schützen zu können", hörte ich Yonathan sagen. Er trat zu uns an den Tisch heran und betrachtete die vielen Waffen. „Und ich muss mir sicher sein, dass du dich zur Not verteidigen kannst."
„Gegenüber wem?", hakte ich ungeduldig nach. Nate hatte in seinem Kopf schon wieder irgendeinen Plan, von dem ich nichts wusste. Und offenbar beinhaltete dieser Plan mich irgendeiner Gefahr auszusetzen.
„Deinem Bruder, zum Beispiel", erwiderte er. Erst da fiel mir auf, dass er ebenso einen solchen Koffer in der Hand hatte, jedoch war der nicht Silber, sondern Gold. „Ich verlange nicht von dir, dass du in einen Krieg ziehst, aber-"
„Wir haben Krieg, falls du es nicht mitbekommen hast", unterbrach Demjan ihn harsch. „Jederzeit könnte irgendwer kommen und einen von uns abknallen."
„Sieh es einfach als Verteidigung an. Man kann nie wissen, was hinter der nächsten Ecke lauert."
„Ich habe dir gesagt, dass es eine miese Idee ist. Sie ist nicht dafür gemacht, mit den gefährlichen Menschen dieser Welt zu konkurrieren!", sagte Demjan und zeigte mit dem Finger auf mich. Die beiden sahen sich mit denselben feindseligen Blick an. Demjans Worte verletzten mich, weil er in mir anscheinend nur ein kleines, gebrochenes Mädchen sah.
Entschlossen nahm ich die Waffe in die Hand und zerlegte sie in nur wenigen Atemzügen vollständig. Danach setzte ich alle Teile wieder zusammen und sah Demjan herausfordernd an.
„Doch genau das ist sie", erwiderte Nate stolz. Sein Bruder rollte genervt mit den Augen, während Yonathan mich anlächelte. „Sie ist eine Kämpferin und wird es mit allem aufnehmen können."
„Gut, gleich nochmal. Bis du es mit verbundenen Augen kannst", sagte Demjan, wobei er den letzten Teil des Satzes nur drohend knurrte.
„Nimm es nicht persönlich, Schönheit. Er hat nur Angst, dass du zuerst auf ihn schießt", lachte Ly, der seine Waffe schon zum zehnten Mal zerlegte.
Es wäre definitiv eine Überlegung wert, zumal er mich auch jetzt nicht gerade nett behandelte. Allerdings war vermutlich jedem in dieser Halle bewusst, dass ich niemals soweit gehen würde. Selbst wenn ich Demjan gehasst hätte, würde ich nie die Macht einer Waffe missbrauchen, wenn nicht mein Leben davon abhing.
Nachdem ich gefühlt hundert Mal dieselben Handgriffe gemacht und es so tief verinnerlicht hatte, dass ich die Waffe sogar im Schlaf hätte zerlegen und zusammensetzen können, stellte Nate sich nah hinter mich.
„Ich habe ein Geschenk für dich", raunte er und schob dabei den goldenen Koffer zu mir. Ich ahnte bereits, was da drin war, weshalb ich meinen Kopf schüttelte.
„Ich will solche Geschenke nicht."
„Ich weiß, aber ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass du eine hast, mit der du umgehen kannst", erwiderte Yonathan. Seufzend nahm ich den Koffer und öffnete ihn, um mit angehaltenem Atem auf den Inhalt zu starren.
Dort lag dieselbe Waffe, wie die, die ich zuvor etliche Male zerlegt hatte. Nur war diese komplett vergoldet und hatte wunderschöne filigrane Rosen am Lauf eingraviert.
„Oh mein Gott", hauchte ich, ehe ich die Pistole aus dem Koffer nahm und diese vorsichtig in die Hand nahm. Die Gravuren zogen sich sogar über den Griff, der wie auch der Rest der Waffe vergoldet war.
Ich wollte nicht wissen, wie viel Geld ich damit in der Hand hielt.
„Demjan hat sie auf Wunsch von mir für dich Maß anfertigen lassen", sagte er. „Selbst die Magazine."
Erst da sah ich nochmals in den Koffer und erkannte die beiden Magazine, die ebenso vollständig vergoldet waren.
„Du bist irre", meinte ich völlig fassungslos. „Nicht nur, dass du mir, nachdem eine meiner Persönlichkeiten dir in die Schulter geschossen hat, eine Waffe schenkst. Sie ist vermutlich mehr wert, als alle Waffen zusammen auf diesem Tisch."
„Du weißt, Geld spielt keine Rolle. Ich dachte mir, wenn ich sie für dich optisch verbessern lasse, gefällt dir der Gedanke etwas besser."
„Wie soll mir der Gedanke, anderen Menschen wehzutun besser gefallen, nur weil die Waffe aus Gold ist?", fragte ich skeptisch.
„Ich verlange nicht, dass du damit Menschen tötest, aber ich kann beruhigt sein, dass du für den Fall der Fälle dich verteidigen kannst", meinte er mit sanfter Stimme. Er strich mir einige Haare von der Schulter und kam meinem Ohr so nahe, dass ich seinen warmen Atem spürte.
„Ich benötige deine Hilfe, um uns alle zu schützen."
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