5. Kapitel
Der Himmel hatte sich dunkelrot gefärbt, während wir schweigend durch den Wald liefen. Vor mir konnte ich schemenhaft die Gestalten von Doom und Lyca erkennen, die Seite an Seite durch die Düsternis trotteten, neben mir hatte Shrewy auf allen Vieren sichtlich Probleme damit, das Tempo mitzuhalten.
„Sollen wir...etwas langsamer machen?", fragte ich vorsichtig, nachdem ich mir das eine Weile angesehen hatte. Shrewy drehte mir den Kopf zu.
„Nein", keifte er beleidigt, „Ich komme mit. Siehst du doch."
Schnaubend sah ich wieder nach vorne. Ich erinnerte mich noch gut an den Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, und es tat mir jedes Mal aufs neue weh. Er hatte so verzweifelt gewirkt, als er neben seiner Mutter um seinen Vater getrauert hatte. Damals war er noch nicht so arrogant gewesen. Damals hatte er alle, die bei mir gewesen waren, Espasa und Samantha, sichtlich berührt. Nun allerdings zweifelte ich daran, dass er jemals wieder irgendwen rühren würde.
Die Bäume um uns herum wurde zunehmend weniger, je weiter wir vorankamen. Ein roter Himmel erschien dort, wo eben noch Wipfel, Äste und Blätter gewesen waren, dunkle Wolkenfetzen wurden vom Wind gejagt. Vor mir erstreckte sich nun eine Wiese, hier und dort erhoben sich Hügel voller Büsche, an denen reife Beeren verführerisch im Abendrot schimmerten und geöffnete Blüten einen hinreißenden Duft verströmten. Dennoch hatte dieser Ort etwas Bedrohliches, daran änderten auf die letzten, einfallenden Sonnenstrahlen. Eine unnatürlich Stille lag in der Luft, kein Gras raschelte, kein Ast wurde vom Wind bewegt. Es war, wie als sie die Zeit eingefroren und habe diesen Ort zum Schweigen verdammt. Auch war es, wie als würde ein leichter Dunst den Himmel trüben. Ich konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich war mir fast sicher, dass ein schwarzer Nebel in der Luft lag.
Ein Schauer lief durch meinen Körper. Trotz der brühenden Sommerhitze war mir auf einmal kalt.
Doom verlangsamte seinen Schritt und auch ich bremste langsam ab, in ein langsames, fast vorsichtiges Schleichen.
Und dann war es auf einmal vor uns.
Graue Felswände erhoben sich in den Himmel, gezackt ragten ihre abgebrochenen Spitzen ins Abendlicht. Einst musste dies ein mächtiger Berg gewesen war, doch nun fehlte der Gipfel, es sah aus, wie als sei er vor nicht allzu lager Zeit weggesprengt worden.
Vor fast eineinhalb Jahren.
Die Gesteinstrümmer hatten sich überall verteilt. Kleine Steine waren bis zum Rande der Grasfläche geschleudert worden, und die Brocken wurden immer größer, je näher ich der Naturkonstruktion kam. Die Abhänge waren zwar steil, schienen aber gut begehbar zu sein, gerade da überall hervorstehende Steine den Aufstieg erleichtern würden.
Um mich herum verstreuten sich die Pokémon. In Zweiergruppen verschwanden sie in den Bodenkuhlen, schnupperten im Gras herum oder machten sich daran, den steinigen Abhang hinaufzuklettern und in Schlitzen und Öffnungen in der Felswand zu verschwinden.
Offensichtlich waren wir da und es gab keine weiteren Angaben mehr.
„Komm mit."
Shrewy, der kurz angehalten war, um zu verschnaufe, hoppelte nun weiter und sah mich über seine Schulter auffordernd an. „Ich weiß, wo wir hingehen."
Er führte mich einen Abhang hinunter, ein paar Meter vor uns klaffte ein Abhang im Boden, der in eine kleine, schluchtartige Vertiefung führte. Doch Shrewy wollte nicht dorthin. Er blieb vor einem kleinen, runden Loch im Boden stehen.
„Gehst du vor?", fragte er mich, wie als habe ich die genauste Ahnung von dem, was wir hier taten. Dabei war alles, was ich wusste, dass wir Kristallsplitter sammeln sollten.
„Lieber du", riet ich ihm daher. Ich hatte zwar das Gefühl, diesen Ort schon einmal gesehen zu haben, aber ich kannte mich nicht aus, und ich wollte mich ungern irgendwo verirren. Nicht hier, nicht an diesem Ort. Dafür war mir die Atmosphäre zu beängstigend. Ich zitterte schon.
Ohne ein weiteres Wort schlüpfte Shrewy in das Loch hinein. Ich folgte ihm, ohne länger nachzudenken, was mich dahinter erwarten könnte.
Ich spürte Erde unter meinen Pfoten, der Geruch nach nassem Boden, Staub und alten Wurzeln schlug mir entgegen. Anfangs war es schwer, sich durch den erdigen Gang zu zwängen, aber nach ein paar Schritten wurde er breiter. Allerdings konnte ich nur ein kleine Stück vor mir erneut das abendliche Licht schimmern sehen, die Schattengestalt von Shrewy zeichnete sich vor dem hellen Rot ab. Der Gang führte nach unten, ehe er auf einem schmalen Felsvorsprung endete. Wir befanden uns nun in einer Art Schacht, Felsvorsprünge führten wie Treppenstufen nach unten auf den Grund herab. Dort erkannte ich eine dicke Schicht aus Kieselsteinen, Erde und vertrockneten Blättern. Ranken wanden sich die Wände nach oben, sie hielten Risse zusammen und waren teilweise ineinander verschlungen. Auch schien vor längerer Zeit ein Baum in den Schacht gestürzt zu sein, der verrottende Stamm lag, von dichtem Moos und Pilzen bewachsen, auf einem Bett aus Kies.
Als wir die Felsvorsprünge langsam nach unten kletterten, erkannte ich einen schmalen Eingang in den Wänden des Schachtes. Dahinter erwartete uns Dunkelheit, nur ein minimaler Lichtschimmer drang daraus hervor.
Unten angekommen blieb Shrewy stehen und wartete auf mich. Wir sagten nichts, tauschten nur einen kurzen Blick. Dann hopste er nach vorne, verschwand in der Wand, und ich folgte ihm durch den schmalen Schlitz.
Mit dem Tageslicht im Rücken erkannte ich eine geräumige Höhle. Breite Tropfsteine ragten von der Decke herab, die Wände waren gesäumt mit einer Menge Felsvorsprünge, seltsamen, halb vertrockneten Pflanzen und Öffnungen, die scheinbar tiefer in die Höhle führten. Die Pflanzen trugen Blüten, die schwach in der Dunkelheit glühten, wie rote Sterne in der bedrückenden Finsternis.
Ein schmaler Pfad führte durch ein Feld von Steinen, hohe Stalagmiten grenzten ihn von den restlichen Steinen ab, die den Boden rau und uneben und die Durchquerung der Höhle außerhalb des Pfades sicherlich sehr gefährlich machten. Die Stalagmiten waren teilweise abgebrochen, da sich vor langer Zeit scheinbar große Felsbrocken aus der Decke gelöst hatten und überall eingeschlagen waren. Trotzdem schien es nahezu unmöglich, sie zu überwinden – wenn man nicht gerade fliegen oder sehr gut klettern konnten.
Shrewy führte mich den Pfad entlang, tiefer in die Dunkelheit. Das Licht hinter uns schwand, bald waren wir alleine mit dem schwachen Glühen der Pflanzen, und unsere Schritte verhalten sofort in der Finsternis.
„Bist du sicher, dass wir hier Kristallsplitter finden werden?", fragte ich vorsichtig, woraufhin ich ein leises Schnauben von Shrewy vernahm.
„Hier vermutlich nicht", antwortete er, „Aber soweit ich weiß, kommt man hier tiefer in die Höhle hinein."
Mit einem Schaudern erinnerte ich mich an das Gängesystem voll von leuchtenden Kristallen, in dem ich eine viel zu lange Zeit meines Lebens gefangen gehalten worden war.
Umgeben von durchgedrehten Orakeln, mörderischen Echsen, gewaltbereiten Drachen und einer erschreckenden Menge an schlafenden Pokémon. Mit flauem Gefühl im Magen erinnerte ich mich zurück an den Tag, an dem ich hier aufgewacht war. An diesem Tag hatte ich diese schlafenden Pokémon gesehen. Ich hatte eines gesehen, das unter seinen Alpträume gelitten hatte, und sie alle hatten so friedlich und leblos ausgesehen. Und beinahe wäre ich eines von ihnen geworden.
Gleichzeitig fragte ich mich, was aus ihnen geworden war. Bei meiner Flucht hatte ich, eher weniger absichtlich, den Beschwörstein, besagtem Kristall, von dem wir die Bruchstücke nun suchten, und mit ihm große Teile der Höhle gesprengt. Wie gesagt, nicht wirklich absichtlich.
Waren die Schlafenden von Trümmern erschlagen worden? Waren sie aufgewacht? Waren sie verhungert, verdurstet oder anderweitig zu Tode gekommen? Oder lagen sie noch da, so wie ich sie verlassen hatte, und waren nach wie vor von ihren Alpträumen geplagt?
Als ich ein leises Tappen hinter mir vernahm, blieb ich schlagartig stehen. Wieder blitzte ein Déjà-vu in meinen Gedanken auf.
Ich kannte diesen Ort. Definitiv.
Ich war hier schon einmal gewesen.
Und ich hatte auch damals Schritte gehört.
Dies war der Ort, an den mich Leaf, ein Folipurba, einst geführt hatte, um mich aus der Höhle zu befreien, dies war der Ort, an dem ich einmal fast entkommen war. Daher kannte ich auch den Schacht, daher kannte ich auch den Gang in der Erde. Bis dorthin war ich gekommen. Bis dorthin und nie weiter.
Doch jetzt war Leaf nicht hier – er war ebenfalls in einen ewigen Schlaf voller Alpträume geschickt worden.
„Hast du das auch gehört?", riss mich Shrewy aus meinen Gedanken. Ich hörte, wie er beunruhigt über den Boden scharrte. „Diese Schritte gerade, meine ich."
Ich nickte, bis mir einfiel, dass er mich nicht sehen konnte. „Ja", bestätigte ich. Shrewy grummelte etwas unverständliches. „Wer ist da?", rief er nun in die Finsternis hinein. Keine Antwort. Nur das leise Scharren von Krallen über Gestein.
Ich sah mich, ein wenig verängstigt, in der Dunkelheit um. Mein Herz schlug wild gegen meine Rippen. Ich wusste nicht ganz, was ich erwartete, aber ich traute dieser Höhle alles zu. Fast erwartete ich, von einer lauerten Gestalt aus den Schatten angesprungen zu werden.
Als ich mich umsah, erstarrte ich auf einmal mitten in der Bewegung.
Es kauerte auf einem der Stalagmiten, die den Pfad säumten. Was genau es für ein Pokémon war, konnte ich nicht erkennen, dafür war es einfach viel zu dunkel. Alles, was ich sah, war sein aufrechter Körperbau und die Krallen, die bedrohlich im Restlicht schimmerten.
„Shrewy...", setzte ich gerade an, als auf einmal ein markerschütternder Schrei durch die Höhle hallte. Bevor er überhaupt eine Chance hatte, den Kopf herumzureißen, stieß das unbekannte Pokémon sich vom Gestein ab. Es flog durch die Luft, kreischte noch einmal wie besessen, dann allerdings donnerte es von oben auf mich nieder. Ich wurde krachend zu Boden gedrückt, scharfe Krallen bohrten sich in meine Schultern. Ich schrie auf.
„Kaito?", hörte ich Shrewy entsetzt keuchen, doch im nächsten Moment hörte ich nur noch ein Wimmern und einen Aufschlag. Scheinbar war er einfach achtlos weggetreten worden.
„Du...", grollte eine Stimme, die mir irgendwie vertraut war, allerdings nicht so dunkel und bedrohlich, „..du bist nicht Doom!"
Er jagte seine Krallen einmal über meine Ohren. Heißes Blut strömte hervor, die warmen Tropfen liefen meine Schulter hinunter. Es folgte ein Schlag auf meine Stirn, der meinen Kopf kurz schwirren ließ. Diese Zeit meiner Benommenheit nutze mein Angreifer, um sich von mir zu lösen und auf Shrewy zu hechten. Zumindest schloss ich das aus seinem schmerzerfüllten Aufschrei.
Kurz danach hörte ich Schritte. Kratzende Schritte, die sich eilig entfernten, sie verhallten zwischen den Felswänden, wie als sei nichts geschehen.
Wir waren wieder alleine in der Dunkelheit, eine brennende Frage hat sich in mein Gehirn gebrannt.
Was zur Hölle war das?
~
Sollte ich irgendwo Slashy statt Shrewy geschrieben haben, weißt mich bitte darauf hin^^"
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