Verborgene Momente
Der Morgen war ungewöhnlich still, als ich die Augen öffnete.
Minho lag noch neben mir, seine Atmung tief und gleichmäßig. Normalerweise war er der Erste, der aufstand, die Routineperson, die immer alles im Griff hatte. Aber heute war es anders. Es fühlte sich an, als ob etwas in der Luft lag, eine Spannung, die ich nicht genau greifen konnte.
Ich streckte mich und blieb noch einen Moment liegen, während ich ihn beobachtete.
Sein Gesicht war so entspannt im Schlaf, fast weich, ganz anders als der Minho, den die Welt kannte – dieser unnahbare, kontrollierte Mann, der selten zeigte, was wirklich in ihm vorging.
Plötzlich zuckte er leicht zusammen, sein Gesicht verzog sich in einem Ausdruck, der fast wie Schmerz wirkte.
„Minho?“ fragte ich leise und berührte vorsichtig seine Schulter. Er öffnete die Augen mit einem scharfen Einatmen, als ob er aus einem Albtraum erwacht wäre.
„Jisung...“ Er sah mich an, seine Stimme war rau, fast ein Flüstern. Für einen Moment sagte keiner von uns etwas, und ich konnte sehen, wie er sich sammelte, die Emotionen hinter einer unsichtbaren Wand zurückdrängte, wie er es immer tat.
„Alles okay?“ fragte ich schließlich, auch wenn ich die Antwort schon kannte. Minho war nie der Typ, der offen über seine Gefühle sprach. Wenn etwas nicht stimmte, musste man es aus ihm herausziehen – oder geduldig warten, bis er von selbst redete.
„Ja“, antwortete er, aber sein Blick wich meinem aus.
„Nur ein Traum. Nichts Wichtiges.“
Ich setzte mich auf, die Decke um mich geschlungen, und sah ihn eindringlich an.
„Minho, du weißt, dass ich nicht aufhöre zu fragen, bis du ehrlich bist. Was ist los?“
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Es ist nichts, wirklich. Ich hab nur... über etwas nachgedacht. Über uns.“
„Über uns?“ Mein Herz schlug ein wenig schneller, und ich war mir nicht sicher, ob es wegen der Art war, wie er das sagte, oder weil ich mir plötzlich Sorgen machte.
„Was meinst du?“
Er zögerte, sein Blick wanderte zum Fenster. „Manchmal frage ich mich, ob ich... genug für dich bin.“
Ich blinzelte überrascht. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. „Was? Minho, woher kommt das jetzt?“
„Ich weiß nicht“, murmelte er, seine Stimme leiser.
„Du bist so... lebendig. Du bringst Licht in jeden Raum, und ich... na ja, ich bin nicht so. Ich bin meistens einfach nur da. Manchmal denke ich, du jemanden verdienst, der dir mehr gibt, weißt du?“
Ich lachte leise, nicht weil es lustig war, sondern weil es so absurd war, dass er so dachte.
„Minho, das ist Schwachsinn. Du bist genau das, was ich will. Was ich brauche. Du bist immer für mich da, auch wenn du nicht viel sagst. Du gibst mir Halt, wenn ich ihn brauche. Und ehrlich? Ich könnte niemals jemanden lieben, der nicht so ist wie du.“
Er sah mich an, und in seinen Augen lag eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung. „Meinst du das wirklich ernst?“
„Natürlich meine ich das so“, sagte ich und legte meine Hand auf seine.
„Minho, ich liebe dich. Mit all deinen stillen Momenten, deinen ernsten Blicken, deinem Bedürfnis, alles perfekt zu machen. Es ist genau das, was dich ausmacht.“
Für einen Moment sagte er nichts, dann zog er mich plötzlich in eine feste Umarmung. Sein Griff war stark, fast verzweifelt, als ob er Angst hätte, mich loszulassen.
„Ich liebe dich auch, Jisung“, flüsterte er, seine Stimme fast brüchig. „Mehr als ich dir jemals zeigen kann.“
„Das reicht mir“, sagte ich leise gegen seine Schulter. „Das reicht mir vollkommen.“
In diesem Moment fühlte es sich an, als ob die Spannung, die den Morgen durchzogen hatte, sich endlich auflöste. Und obwohl die Welt draußen immer noch wartete, gab es für uns gerade nur diesen einen Augenblick.
Minho stand gerade an der Tür, bereit, mit mir hinauszugehen, als sein Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche, runzelte die Stirn, als er auf das Display blickte, und nahm den Anruf an.
„Ja?“
Ich konnte den genauen Wortlaut der Person am anderen Ende nicht hören, aber Minhos Gesichtsausdruck veränderte sich. Er nickte ein paar Mal, seine Kieferpartie angespannt, bevor er leise sagte: „Verstanden. Ich komme.“
Er legte auf und sah mich an, seine Augen voller Bedauern.
„Jisung... ich muss los. Es ist wichtig.“
Ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen und zwang mich zu einem Lächeln. „Natürlich. Arbeit, oder?“
Minho nickte. „Ja. Ich habe es versucht zu vermeiden, aber manchmal...“ Er brach ab, suchte nach den richtigen Worten.
„Ich weiß, wir wollten heute zusammen Zeit verbringen. Es tut mir leid.“
„Hey“, sagte ich und legte ihm eine Hand auf den Arm.
„Mach dir keinen Kopf. Ich verstehe das. Es ist nur... weißt du, manchmal wünsche ich mir, dass wir wieder jung und frei wären, ohne all diese Verpflichtungen.“
Minho lachte, ein stiller melancholischer Klang.
„Jung und frei, ja. Manchmal denke ich auch daran. Aber wir sind nicht mehr dieselben wie damals.“
Ich grinste. „Minho, wir sind gerade mal drei Jahre älter geworden. Hör auf, so zu reden, als wärst du ein alter Mann.“
Er zog die Augenbrauen hoch, konnte ein leichtes Lächeln aber nicht unterdrücken. „Drei Jahre können eine Menge verändern.“
„Vielleicht“, sagte ich, „aber sie machen uns nicht weniger cool.“
Minho schüttelte den Kopf, sein Lächeln verschwand nicht. „Du bist unmöglich.“
„Ich weiß.“ Ich trat einen Schritt zurück und winkte ihm zu.
„Geh, bevor du Ärger bekommst. Ich bleibe hier und finde etwas anderes, um mich zu beschäftigen.“
Er zögerte kurz, dann zog er mich in eine schnelle Umarmung. „Ich komme so schnell zurück, wie ich kann.“
„Ich warte auf dich“, antwortete ich und sah ihm nach, als er die Tür hinter sich schloss.
Nachdem Minho gegangen war, setzte ich mich in unser Wohnzimmer, die Stille des Hauses jetzt viel deutlicher spürbar.
Ich starrte eine Weile auf die leere Leinwand, die ich gestern aufgestellt hatte. Die Idee für ein neues Bild schwirrte schon seit Tagen in meinem herum, aber ich hatte nie die Ruhe gefunden, sie umzusetzen.
Heute war der perfekte Moment.
Ich nahm meinen Bleistift zur Hand und begann, die ersten Linien zu ziehen. Zunächst waren es nur einfache Konturen, aber mit jedem Strich formte sich das Bild klarer heraus. Es war eine abstrakte Darstellung – ein Spiel aus Licht und Schatten, das zwei Figuren darstellte, die sich aneinander festhielten, als ob sie sich nie loslassen wollten.
Während ich arbeitete, verlor ich mich in den Bewegungen, ließ die Gedanken an Minho und unser Gespräch vorhin in die Zeichnung einfließen. Es war beruhigend, die Emotionen auf die Leinwand zu bringen, sie in etwas Greifbares zu verwandeln.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich schließlich innehielt und das Bild betrachtete. Es war noch nicht fertig, aber es war ein guter Anfang.
Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Minho es verstehen würde, wenn er es sah.
Mit einem tiefen Atemzug legte ich die Stifte beiseite und lehnte mich zurück. Die Sonne war mittlerweile tiefer gesunken, warf ein warmes Licht durch die Fenster.
Es war still, aber nicht unangenehm. Ich wusste, dass er bald wieder da sein würde.
Und bis dahin war ich zufrieden damit, in dieser Ruhe zu verweilen.
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