Ist Liebe Genug?
Der Morgen war ruhig, beinahe zu ruhig.
Minho war schon früh zur Arbeit aufgebrochen, mit einem flüchtigen Kuss auf meine Stirn und einem Lächeln, das nur halb die Müdigkeit verbarg, die wir beide noch spürten. Jetzt war die Wohnung leer und ich war allein mit meinen Gedanken.
Ich ließ mich auf die Couch fallen, zog mein Skizzenbuch heran und schaltete die Musikanlage ein.
Musik war immer mein Zufluchtsort, der einzige Ort, an dem die Welt für eine Weile verstummte.
Die ersten Klänge von „Fatal Trouble“ erfüllten den Raum, dunkel und kraftvoll.
Ich schloss die Augen, ließ die Melodie durch mich hindurchfließen, bis sie meine Hände leitete. Mein Stift berührte das Papier, und ich begann zu zeichnen.
Zwei Gesichter formten sich langsam auf der Seite. Sie waren kaum erkennbar, die Konturen nur angedeutet, doch sie schienen eine Geschichte zu erzählen. Ihre Augen waren leer, ihre Lippen still, aber etwas an ihnen sprach von einer tiefen Verbindung.
Ich zeichnete Risse, die sich durch ihre Gesichter zogen, wie Narben, die von innen kamen. Die Risse waren unregelmäßig, wild, als ob die Zeit und die Sünde sie gezeichnet hätten. Ich stellte mir vor, dass sie einst Menschen gewesen waren – Menschen, die sich gegenseitig begehrten, aber deren Liebe von Dunkelheit durchdrungen war.
Vielleicht war es genau das, was mich an der Geschichte faszinierte: Die Idee, dass Liebe gleichzeitig ein Segen und eine Sünde sein konnte. Dass man jemanden so sehr wollen konnte, dass es einen zerstörte.
Die Musik wechselte. „Moonstruck“ begann zu spielen, und sofort spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Die Melodie war sanft, fast melancholisch und die Worte schienen direkt in mein Innerstes zu sprechen.
Ich hielt inne, mein Stift schwebte über dem Papier. Die Bilder des Albtraums von letzter Nacht fluteten meinen Geist. Die Stimmen von Minhos Eltern, die Zweifel, die Kälte in Minhos Augen, als er sich von mir abwandte. Ich spürte, wie meine Kehle sich zuschnürte, und mein Blick verschwamm.
„Denkst du wirklich, du bist gut genug für ihn?“
Die Frage dröhnte erneut in meinem Kopf, und ich spürte, wie Tränen hinter meinen Augen brannten. Ich biss mir auf die Unterlippe und zwang mich, weiterzuatmen. Aber die Musik ließ es nicht zu. Jede Note schien die Mauer in mir ein Stück weiter einzureißen.
Ich dachte an Minho. An die Art, wie er mich ansah, wie er lächelte, wie er mich in seinen Armen hielt, als würde er mich niemals loslassen wollen.
Und dennoch – was, wenn der Traum recht hatte? Was, wenn ich ihn nicht halten konnte? Was, wenn ich ihn verlor?
Eine Träne rollte über meine Wange und tropfte auf das Papier. Ich wischte sie hastig weg, aber die Zeichnung war bereits fleckig geworden. Die beiden Gesichter sahen jetzt noch zerbrechlicher aus, als wären sie dabei, auseinanderzubrechen.
Ich legte den Stift beiseite und zog die Knie an meine Brust. Die Musik lief weiter, ein stiller Zeuge meiner Gedanken.
„Bitte“, flüsterte ich in den leeren Raum.
„Bitte lass mich ihn nicht verlieren.“
Ich wusste nicht, an wen ich die Worte richtete – an mich selbst, an den Himmel oder an die leere Wohnung. Aber sie fühlten sich wichtig an, als ob sie etwas verändern könnten.
Ich schloss die Augen und ließ die Musik mich einhüllen, wie eine Decke, die zumindest für einen Moment die Angst in mir dämpfte. Und obwohl ich wusste, dass ich später wieder aufstehen und weitermachen musste, erlaubte ich mir für diesen Augenblick, einfach nur zu fühlen.
Das Klingeln an der Tür hallte durch die Wohnung und riss mich aus meinen Gedanken.
Mein Herz machte einen kleinen Sprung, und ich spürte, wie meine Hände feucht wurden.
Minho? Nein, das konnte nicht sein. Er war bei der Arbeit. Vielleicht ein Postbote? Ich hoffte es, aber irgendetwas an dem plötzlichen Geräusch ließ mich innehalten.
Langsam stand ich auf, legte ich den Bleistift neben mein Skizzenheft und wischte mir das Graphit von den Fingern. Ich ging zur Tür, meine Schritte zögerlich, als hätte ich eine Vorahnung, dass das, was auf mich wartete, nicht gut war.
Als ich die Tür öffnete, traf es mich wie ein Schlag.
Minhos Eltern.
Die Luft schien aus meinen Lungen zu weichen, als ich ihre ernsten Gesichter sah.
Minhos Mutter trug eine perfekt sitzende Bluse und hielt ihre Handtasche fest umklammert, als ob sie sich hier unwohl fühlte. Sein Vater stand aufrecht, die Hände in den Taschen und sein Blick fühlte sich an, als würde er direkt durch mich hindurchsehen.
„Oh“, brachte ich schließlich hervor, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. „Hallo.“
„Hallo, Jisung“, sagte Minhos Mutter mit einem Lächeln, das alles andere als freundlich war. Ihre Stimme war ruhig, aber die Kälte darin war unüberhörbar.
„Wir müssen mit dir reden.“
Ich schluckte, unsicher, was ich sagen sollte. Mein erster Impuls war, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber das konnte ich nicht machen. Das waren Minhos Eltern.
Stattdessen trat ich zur Seite und ließ sie herein, obwohl mir bei dem Gedanken übel wurde.
Sie gingen ins Wohnzimmer, bewegten sich, als ob sie sich überall fehl am Platz fühlten. Oder als ob ich fehl am Platz war. Sie setzten sich auf die Couch und ich blieb stehen, meine Arme um meinen Körper geschlungen, während ich sie beobachtete.
„Minho ist nicht hier“, sagte ich schließlich und brach die unangenehme Stille.
„Das wissen wir“, sagte sein Vater, seine Stimme knapp und geschäftsmäßig.
„Wir sind nicht wegen ihm hier. Wir sind wegen dir hier.“
Ich spürte, wie mein Herz einen Schlag aussetzte.
Minhos Mutter schürzte die Lippen und musterte mich mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.
„Wir haben lange darüber nachgedacht, Jisung“, begann sie. „Und wir glauben, es ist Zeit, dass wir offen miteinander reden.“
„Offen reden?“, fragte ich vorsichtig. Meine Stimme zitterte leicht, obwohl ich versuchte, ruhig zu bleiben.
Sein Vater beugte sich leicht vor, seine Augen waren hart und direkt.
„Hör zu, Junge. Wir wissen, dass du denkst, du tust Minho gut. Aber die Wahrheit ist, dass es das genaue Gegenteil ist.“
Die Worte trafen mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Ich spürte, wie mein Magen sich zusammenzog und ich war mir plötzlich meiner Position, meiner Kleidung und der Farbflecken darauf bewusst.
„Ich... ich verstehe nicht“, stammelte ich.
„Es ist nicht deine Schuld“, fuhr er fort, als ob er mich beruhigen wollte, doch seine Worte machten alles nur schlimmer.
„Aber Minho hat eine Zukunft vor sich, eine echte Zukunft. Und diese Beziehung wird ihn nur zurückhalten.“
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte.
„Zurückhalten?“, wiederholte ich und hörte, wie meine Stimme an Schärfe gewann. „Minho liebt mich und ich liebe ihn. Wie kann das ihn zurückhalten?“
Seine Mutter seufzte schwer, als ob sie diesen Moment erwartet hatte. „Manchmal ist Liebe nicht genug. Manchmal muss man die Person, die man liebt, gehen lassen, damit sie das Leben führen kann, das sie verdient.“
Ich schüttelte den Kopf, fühlte, wie meine Hände zitterten.
„Ihr versteht nicht... Minho und ich... wir gehören zusammen.“
„Vielleicht denkst du das jetzt“, sagte sein Vater ruhig. „Aber wenn du ihn wirklich liebst, dann musst du ihn loslassen. Für ihn. Für seine Zukunft. Du willst doch nicht, dass er eines Tages aufwacht und merkt, dass er alles verloren hat, weil er sich für dich entschieden hat, oder?“
Seine Worte schnitten tief und ich fühlte, wie meine Kehle sich zuschnürte. Ich wollte etwas sagen, wollte schreien, dass sie Unrecht hatten, aber die Worte blieben mir im Hals stecken.
Minhos Mutter sah mich mit einem fast mitleidigen Blick an.
„Das ist nicht persönlich, Jisung. Wir wollen nur das Beste für ihn. Und das Beste für ihn... bist du nicht.“
Ich wusste nicht, wie lange ich da stand, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Die Welt schien stillzustehen, und alles, was ich spürte, war der Schmerz, der sich wie ein Messer in meine Brust bohrte.
„Denk darüber nach“, sagte sein Vater schließlich, als sie aufstanden, bereit zu gehen.
„Wenn du ihn wirklich liebst, wirst du die richtige Entscheidung treffen.“
Ich konnte nichts erwidern. Sie gingen zur Tür, und ich hörte das leise Klicken, als sie sie hinter sich schlossen.
Und dann war ich allein.
Meine Beine gaben nach und ich sank auf den Boden, das Gesicht in den Händen vergraben. Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider, ließen mich an allem zweifeln. An mir. An Minho. An uns.
„Wenn du ihn wirklich liebst...“
Ich wusste nicht mehr, was richtig, geschweige denn, was falsch war.
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