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Schweigend ging Lain neben Lenard her, der nach seinem Besuch im Hof auf ihn gewartet hatte.
Immer wieder warf er Lain fragende Blicke zu, doch Lain war zu beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken, um ihn aufzuklären.
Was könnte Herr Tons von ihm wollen?
In diesem Ordner hatte Lain Fotos und Berichte über sich gefunden, die Tons oder andere Verfolger von ihm gemacht haben mussten.
Doch was war so interessant an einem fünfzehnjährigen Jungen?
Lenard hielt die Stille nicht mehr aus.
„Ich habe deinen Lehrer für dich abgelenkt. Langsam würde ich gern wissen, wofür – ich meine, ich bin extra deswegen länger in der Schule geblieben. Also, was ist los?"
Lain seufzte und verdrängte die vielen Fragen aus seinem Kopf, um sich auf Lenard konzentrieren zu können.
Er würde ihm nichts von dem Ordner erzählen.
Derartiges zu finden hatte Lain niemals erwartet, immerhin ging es ihm nur um Beweise für eine normwidrige Beziehung zwischen Coleen und Tons.
Doch selbst das wollte er Lain nicht erzählen, es wäre zu peinlich.
„Der Grund war dämlich. Hat sowieso nicht funktioniert", erklärte er schlicht.
„Du hast mir versprochen, dass du es mir erzählst! Das war eine meiner Bedingungen!", entgegnete Lenard aufgebracht.
Okay, dann eben eine Lüge.
„Ich hatte gehofft, die Prüfungsergebnisse des letzten Mathetests in seiner Tasche zu finden. Natürlich hatte er sie nicht dabei."
Lenard rollte mit den Augen.
„Warum hätte er sie jetzt schon haben sollen? Wir kriegen den Test erst nächste Woche raus. Als ob du so ungeduldig bist."
Etwas in Lenards Stimme verriet seine Zweifel an Lains Geschichte, doch er hakte nicht weiter nach.
Sie verfielen wieder in Schweigen.
Lenard holte nach einer Weile sein Tablet hervor und tippte, während sie bis zur Unterführung an der Straße entlanggingen.
Lain sah sich immer wieder um.
Noch nie war ihm irgendjemand aufgefallen, der ihn möglicherweise beschattete.
In dem Ordner waren allerdings Fotos von den unterschiedlichsten Orten gewesen, an denen sich Lain aufgehalten hatte.
Er ärgerte sich, dass er so wenig Zeit gehabt hatte. So hatte er nicht nachsehen können, ob auch Fotos von seinem Zimmer dabei gewesen sind.
Ein Schauer überkam ihn bei dem Gedanken, in seinen eigenen vier Wänden beobachtet zu werden.
„Ist dir eigentlich schonmal irgendwas komisches aufgefallen?", fragte er Lenard beiläufig, während er mit dem Blick die Umgebung studierte.
„Definiere ‚irgendwas komisches'", antwortete sein Freund, ohne von seinem Tablet aufzusehen.
„Merkwürdige Personen, die du immer wieder triffst."
„Ohh ja, und ob", antwortete Lenard energisch, was Lain aufhorchen ließ. „Zum Beispiel Celine Heathers, die starrt mich immer richtig krank an. Oder Jason, hast du schonmal mit dem geredet? Ziemlich creepy. Ach ja, Lucas Zerley natürlich. Der war auch mega seltsam."
Lain hörte nur noch mit halbem Ohr hin. War ja klar, dass Lenard nichts Wichtiges aufgefallen war. Er war ja nicht der, der beschattet wurde.
Doch dann sagte Lenard doch noch etwas, das Lains Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Coleen Niles ist auch eine von diesen merkwürdigen Leuten. Wenn nicht sogar die Merkwürdigste."
„Du kennst Coleen?", fragte Lain überrascht und spürte sofort seinen Puls an Geschwindigkeit zulegen.
Lenard zuckte mit den Schultern und sah unsicher zur Seite.
„Na ja. Kennen ist übertrieben."
Misstrauisch beobachtete Lain Lenards seltsames Verhalten. Lenard war doch nicht etwa an Coleen interessiert?
„Woher?", fragte er mit fester Stimme, sodass Lenard ihn irritiert ansah.
„Ach, man. Ich hätte nichts sagen sollen. Ich meine, sie wollte nicht, dass ich darüber rede und es ist auch nicht wichtig. Ehrlich!"
Abrupt blieb Lain stehen.
„Worüber solltest du nicht reden?" Langsam riss Lain der Geduldsfaden. Er musste wissen, was Lenard mit Coleen zu tun hatte.
Verzweifelt knetete Lenard seine Hände, fasste dann aber endlich einen Entschluss.
„Okay, ich sag's dir. Aber mach kein Drama draus, es ist wirklich nichts Wichtiges, glaube ich. Sie hat mich total über dich ausgequetscht. Wollte ganz komische Sachen wissen. Wie lang du im Bad brauchst, wann du ins Bett gehst und was du in deinem Zimmer so machst. Keine Ahnung, warum sie das wissen wollte, aber sie hat mir gesagt, wenn ich dir davon erzähle, meldet sie mich bei der Ordnungswache, weil ich...ach egal." Plötzlich errötete er und kratzte sich verlegen am Kopf.
Lain interessierte nicht, weswegen Coleen Lenard melden könnte. Er war einfach nur fassungslos, dass Coleen seinen besten Freund über ihn ausgefragt hatte.
„Wann war das?", fragte er.
„Das ist schon fast vier Monate her", antwortete Lenard und bedeutete Lain, weiterzugehen, da sie mitten auf dem Gehweg standen und die Passanten umständlich um sie herumgehen mussten.
Lain setzte sich in Bewegung.
Vor vier Monaten hatte Coleen Informationen über ihn gesammelt, also lange bevor Lain ihr sein Liebesgeständnis machen wollte. Das hieß, die beiden Dinge standen nicht in Verbindung.
Konnte es möglich sein, dass Coleen ihn gemeinsam mit Herr Tons beschattete? Unmöglich. Das wäre vollkommen absurd.
Aber warum sonst sollte sie sonst andere Menschen über ihn ausfragen?
Eine verrückte Theorie bildete sich in seinem Kopf: Vielleicht sah Tons Lain als Konkurrent und wollte herausfinden, ob er Chancen bei Coleen hatte.
Sofort verwarf er die Theorie.
Dann würde Coleen ja nicht Teil seiner Beschatter sein.
Was, wenn er sie einfach darauf ansprach? Nein, dann würde er riskieren, dass sie Lenard wegen irgendwas bei der Ordnungswache meldete.
Mal wieder hatte er keine Möglichkeit, seine offenen Fragen zu klären. Nichts Neues.
„He, schau, da vorne!", riss Lenard Lain aus seinen Gedanken.
Ehe Lain reagieren konnte, rannte Lenard bereits los.
Verwirrt verfolgte er seinen Freund und sah, wohin er wollte.
Eine kleine Menschentraube hatte sich vor der Unterführung gebildet.
Na toll, entweder mussten sie sich da durch quetschen oder einen Umweg gehen.
„Lenaaard....komm zurück, ich will nach Hause."
Doch sein Freund ignorierte ihn und stürzte sich voller Neugier in die Menge.
„Machen Sie keine Probleme und kommen Sie einfach mit", erklang die bedrohliche Stimme eines Ordnungswächters.
Jetzt auch interessiert schob Lain sich hinter Lenard zwischen die gaffenden Passanten.
„Nein, ich gehe da nicht nochmal hin. Niemals!"
Ein verzweifelter Mann krallte sich am Geländer unten in der Unterführung fest und der Ordnungswächter, der an ihm zog, bekam ihn nicht von der Stelle.
„Wenn Sie nicht loslassen, muss ich zu härteren Methoden greifen. Möchten Sie das?"
Angsterfüllt krampfte der Mann sich noch mehr zusammen.
„Lass uns verschwinden", raunte Lain Lenard zu, doch dieser schüttelte energisch den Kopf.
„Lass mich. Hier gibt's so selten was zu sehen."
Lain dachte darüber nach, allein zu verschwinden, aber irgendwie zog das Geschehen auch ihn an.
„Bitte!", flehte der Mann, doch nun reichte es dem Ordnungswächter. Er holte eine Art Pistole hervor und hielt sie dem Mann an den Hals.
Die Menge hielt die Luft an.
Der Wächter drückte ab. Sofort erschlaffte der Körper des Mannes, er war betäubt worden.
Grob warf der Ordnungswächter den Mann über seine Schulter, dann sprach er etwas in ein Funkgerät.
Kaum war er damit fertig, fiel sein Blick auf die Zuschauer.
„Ihr da. Schnelle Inspektion, wenn ihr schon mal hier seid. Auf auf, Bewegung!", rief er den Menschen barsch zu.
Brav reihten die Passanten sich auf, um die Inspektion über sich ergehen zu lassen: Der Ordnungswächter hielt jedem kurz ein Gerät an die Stirn und ging dabei Daten auf seinem Tablet durch.
Lain hatte keine Lust auf mehr Verzögerung und wollte dem Ordnungswächter nicht näher kommen, als nötig.
„Lass uns gehen, Lenard."
„Ich wurde aber schon länger nicht mehr inspiziert. Wäre beruhigend, zu wissen, ob noch alles okay mit mir ist", erwiderte Lenard schulterzuckend und stellte sich als Letzter in die Reihe.
Diesmal gab Lain nicht nach.
Er verließ den Schauplatz und ging den längeren Umweg nach Hause.
Lenard sah Lain immer wieder seltsam an, während sie aßen.
„Irgendwas Neues?", fragte Cole freundlich und machte sich über seinen Rollbraten her.
„Nein", antwortete Lain gelangweilt.
Lenard runzelte die Stirn.
„Hab' ich was im Gesicht?", fragte Lain gereizt, da ihm Lenards Gestarre langsam auf die Nerven ging.
Sofort sah Lenard auf seinen Teller.
„Nein, ich habe mich nur gefragt, ob du sauer auf mich bist."
Verwundert hob Lain eine Augenbraue.
„Nee, wieso sollte ich?"
„Na, weil du heute ohne mich nach Hause gegangen bist. Das hat mich gewundert. Dabei kann ich mich an keinen Streit erinnern."
Lain war verwirrt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich vorgehe, weil mir die Inspektion zu lange gedauert hätte. Dank dem Stress in der Unterführung musste ich ja den Umweg gehen."
„Was'n für'n Schdress?", fragte Lenard mit vollem Mund. „Ich bin auch ganz normal durch die Unterführung gegangen."
Lain ließ seine Gabel fallen. Verarschte Lenard ihn oder wusste er wirklich nicht, wovon Lain sprach? Dabei ist der Vorfall noch keine zwei Stunden her!
„Was war denn in der Unterführung?", fragte Arianne hellhörig.
„Nichts interessantes", antwortete Lain, immer noch verwirrt über Lenards Aussage, doch er war sich sicher, dass es mit der Inspektion zu tun hatte.
Lain selbst hatte oft das Gefühl, dass Dinge plötzlich aus seinem Gedächtnis verschwanden und vielleicht war mit Lenard und den anderen Passanten dasselbe gemacht worden.
„Wenn du Stress hast, kannst du uns das sagen", meinte Cole plötzlich und sah Lain über seine Gabel hinweg an.
Lain nickte nur stumm.
Selbst wenn er Stress hätte, würde er damit nicht zu Cole und Arianne gehen. Zu wem könnte er eigentlich gehen? Bisher hatte er seine Probleme immer mit sich selbst ausgemacht.
Unwillkürlich fragte er sich, ob Lenard mit seinen Eltern über alles sprach. Derartiges hatte er nie mitbekommen. Vermutlich hatte Lenard einfach keine Probleme.
Kein Wunder, wenn man sich an das System hielt und sich freudig von Ordnungswächtern überprüfen ließ, dachte Lain bitter.
„Ich geh hoch", verkündete Lain, brachte seinen Teller weg und hastete die Treppen nach oben.
In seinem Zimmer ließ er sich auf sein Bett fallen und ließ den Tag Revue passieren.
Sein Lehrer und Coleen sammelten Informationen über ihn.
Immer noch hatte er keine Idee, was sie von ihm wollen könnten. Unbändige Liebe konnte es ja nicht sein, sonst hätte Coleen ihn nicht abgewiesen. Und sollte Tons ein kranker Stalker sein, der hinter minderjährigen Jungs her war – nein, das wäre viel zu absurd. Obwohl, vielleicht gab er Lain deshalb Einzelnachhilfe? Gott, bloß nicht.
Allein bei der Vorstellung schüttelte es ihn.
Bei dem Thema kam er nicht weiter.
Dann der Vorfall in der Unterführung. Der Mann, der irgendetwas angestellt haben muss und deshalb von einem Ordnungswächter abgeholt wurde. Der Mann hatte schreckliche Angst gehabt.
Die Erinnerung daran wurde den Zuschauern anscheinend bei der Inspektion genommen. Aber wie war so etwas überhaupt möglich? Wurde sie überhaupt jedem Zuschauer genommen oder ist Lenard auf dem Rückweg nur auf den Kopf gefallen und hat alles vergessen? Nein, Lain wusste, dass manchmal Erinnerungen verschwanden, er hatte es schon selbst erlebt.
Unschlüssig wälzte er sich hin und her.
Er wollte beiden Dingen auf den Grund gehen.
Aber wie sollte er das anstellen?
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