
4
„Alles Gute, Mann", sagte Lenard freudig, als Lain die Treppe runterkam.
„Und, fühlst du dich schon anders?", fragte Cole, der kurz von seinem Tablet aufblickte und Lain ein Brötchen zuschob, als dieser sich setzte.
„Nicht anders als gestern", murmelte Lain, der diese Frage seit Jahren jeden Geburtstag erleiden musste und auch jetzt mit 15 noch nicht verstand, wieso man sich auf einen Schlag anders fühlen sollte, nur weil man gealtert war. Er alterte doch sowieso jeden Tag vor sich hin.
„Da du dir ja nichts gewünscht hast, haben wir lieber nichts besorgt, ehe es dir nicht gefallen hätte", meldete sich Arianne zu Wort. Auch das hörte er jedes Jahr und nickte nur stumm.
Ihm fiel auf, dass das Haar seiner Ziehmutter zum Zopf geflochten war, was sie sonst nie tat. Er musste lächeln über diese kleine Aufmerksamkeit.
„Ich habe schon ein Geschenk für dich", verkündete Lenard und Lain sah überrascht zu ihm über den Tisch.
„Ich werde heute alle deine Hausaufgaben machen. Na, freust du dich?"
Lain grinste seinen Freund kopfschüttelnd an.
„Ich muss ablehnen, ich möchte meine Noten ungern in Gefahr bringen. Aber danke."
Lenard sah in gespielt böse an.
„Okay okay", ergab sich Lain, „Mathe und Physik darfst du übernehmen."
Cole und Arianne hörten dem Gespräch mit strengen Gesichtern zu.
„Keiner macht irgendwem die Hausaufgaben. Wenn ihr später erfolgreich sein wollt, müsst ihr auch alles selbst machen. Fangt besser gar nicht so an", schimpfte Arianne und gab der fröhlichen Stimmung so einen kleinen Dämpfer.
Lain nahm es ihr nicht übel. Eltern mussten so sein, nicht?
„Auf, ihr kommt noch zu spät."
Cole sammelte das Geschirr ein und gab den Jungen ihre Pausenbrote.
In der Schule sprach niemand Lain auf seinen Geburtstag an. Wahrscheinlich wusste keiner davon, allerdings wusste Lain auch nicht, wann irgendjemand aus seiner Klasse Geburtstag hatte. Er war froh darüber, auf halbherzige Glückwünsche konnte er gut verzichten.
Bevor der Unterricht anfing, sah Lain in seine Schultasche. Das rosa Törtchen war darin, eingewickelt in weißes Papier.
Mittlerweile war Lain nicht mehr so überzeugt von seinem Vorhaben, weswegen er sich ausnahmsweise auf den Unterricht freute. Er wollte von seinem Plan abgelenkt werden, damit er nicht zu viel darüber nachdachte und die Idee nicht verwarf.
Sechs Stunden später klingelte es, Schule aus.
Lain entschuldigte sich bei Lenard und eilte nach draußen, wusste genau, wo er sie finden würde.
Er sah sie draußen auf dem Schotterweg gehen und wusste, dass nun sein Moment gekommen war. Coleen allein anzutreffen war eine Seltenheit, die er nutzen musste. Schnell holte er das Törtchen aus seiner Tasche und eilte ihr hinterher.
„Coleen!", rief er außer Atem, sein Herz zersprang beinahe vor Aufregung. Er würde endlich mit Coleen Niles sprechen!
Elegant drehte sie sich auf dem Absatz um.
„Was ist?"
Der glanzlose Blick, so völlig ohne positive Regung, ließ ihn kurz zurückschrecken und an seinem Plan zweifeln.
Andererseits konnte Coleen ihre Gefühle gut zurückhalten. Vielleicht war sie ja genauso aufgeregt wie er?
„Ich möchte dir etwas sagen", setzte er an, doch blitzschnell hob sie die rechte Hand.
„Stopp."
Lains Stimme erstarb.
„Bevor du weitermachst und dich danach zu Tode heulst – du liebst mich nicht. Okay? Du hast mich nie geliebt und wirst es nie." Gelangweilt blickte Coleen auf ihre perfekten Fingernägel. „Mit 30 wirst du Tracy Rinetree heiraten, mit ihr süße Kinderchen zeugen und glücklich bis ins hohe Alter Bauberichte schreiben. Ich komme da nicht mehr vor. Da das jetzt geklärt ist – ich muss Hausaufgaben machen."
Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie noch hinzufügte: „Ach ja. Ich mag kein rosa."
Sie ging, als wäre nichts vorgefallen.
Mit offenem Mund starrte Lain ihr hinterher. Was zur Hölle hatte sie da geredet? Tracy wer? Bauberichte?
Er hätte es wissen müssen. Sie hatte nichts für einen zurückgezogenen, unbekannten Typen wie ihn übrig. Stattdessen wollte sie ihn auch noch mit so einer dämlichen Story verarschen.
Nur dumm, dass das seine Gefühle nicht ausgelöscht hatte.
Das Törtchen ließ er achtlos auf den Boden fallen und rannte weg, wütend auf sich selbst, dass er so naiv war.
Lains Lieblingsplatz war frei, wie immer.
Er setzte sich auf die Bank, stützte die Ellbogen auf seine Knie und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Er riss sich soweit zusammen, dass er nicht weinen musste. Die Blöße wollte er sich nicht geben – es ging doch nur um irgendein Mädchen, dass er besonders gern mochte.
Unterbewusst ging es jedoch um mehr als nur ein Mädchen.
Es ging darum, dass nichts in seinem Leben perfekt lief.
Jeder in Lains Umfeld schien geradewegs auf eine glückliche Zukunft zuzusteuern – sei es durch bemerkenswert gute schulische Leistungen, durch ein gesundes soziales Umfeld mit Freunden und Familie oder einfach dadurch, nicht anders zu sein.
Viel würde er dafür geben, zu wissen, wie viele in seiner Schule ebenfalls Kontaktlinsen brauchten oder irgendwelche Merkmale versteckten, die nicht der Norm entsprachen.
Sein Gefühl sagte ihm, dass er der einzige war. Doch warum nur? Womit hatte er das verdient?
Vielleicht sollte er einfach melden, dass er blaue Augen hatte.
Möglicherweise könnte man ihm erklären, was es damit auf sich hatte und den Fehler beheben, sodass er sich endlich wohl in seiner Haut fühlen konnte und sein Leben vielleicht klarer verlief.
Nur wieso sträubte sich alles in ihm, wenn er es in Erwägung zog, sich an Experten zu wenden?
Es war sogar mehr als nur ein Sträuben, es war viel mehr eine Alarmanlage, die in seinem Kopf dröhnte.
Er fragte sich, ob es mit seinen verschwundenen Eltern zu tun hatte. Immerhin hatte er immer mal wieder diese merkwürdigen Erinnerungen, die mit ihnen in Verbindung standen. Nur, dass er sich nie ihre Gesichter vor Augen führen konnte, so sehr er es auch versuchte.
Seufzend fuhr er sich durch die Haare.
Vielleicht hatte Coleen Recht. Vielleicht würde er Berichteschreiber werden und heiraten.
Doch vor ihm lag noch ein langer, kurvenreicher Weg.
Einige Wochen vergingen ereignislos.
Die Pausen verbrachte er abseits des Hofes, um Coleen nicht sehen zu müssen.
Der Nachhilfeunterricht bei Tons war langweilig, aber zeigte erste Erfolge.
Nichts war ungewöhnlich, bis Herr Tons anfing, seltsame Fragen zu stellen.
„Hast du das Gefühl, dass das, was du tust, Sinn ergibt?", fragte er beiläufig, während Lain an einer komplexen Rechnung arbeitete.
„Oh, habe ich etwas falsch gemacht?", fragte er überrascht und begann, seinen Lösungsweg noch einmal zu überprüfen.
„Nein. Es ist eine Frage. Die Antwort findest du nicht auf deinem Tablet."
Irritiert sah Lain auf.
„Geht es überhaupt noch um Mathe?"
Sein Lehrer zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. „Geht es das?", setzte er mit ruhiger Stimme hinzu.
Lain zog die Augenbrauen hoch und legte seinen Pen ab.
Lässig lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme.
„Ich weiß nicht, ob ich ehrlich sein darf", sagte er, „Denn meine ehrliche Antwort wäre: Nein. Ich sehe keinen Sinn."
In diesem Gespräch ging es eindeutig nicht mehr um Mathematik, was Lain beunruhigte. Andererseits war er neugierig.
„Das ist interessant", erwiderte Herr Tons, „Jeder Schüler, den ich das je gefragt habe, hat ohne nachzudenken mit einem Ja geantwortet. Die Stunde ist für heute beendet."
Lain schluckte. Hatte er einen Fehler gemacht?
Mit mulmigem Gefühl ging er durchs Schulhaus.
Bevor er rausging lehnte er sich an die Wand und dachte nach.
Sein Lehrer hatte von Lain wissen wollen, ob er einen Sinn in seinem Dasein sah. Er hatte einfach nur ehrlich geantwortet. Was war daran verwerflich? Vermutlich interpretierte er einfach zu viel in das Verhalten seiner Mitmenschen hinein. Herr Tons war auch nur ein Mensch – ein seltsamer, neugieriger Mensch, aber nicht weiter ungewöhnlich.
Er wollte gerade gehen, als er Stimmen hinter sich im Gang hörte.
Die eine Stimme gehörte Herr Tons – aber auch die zweite Stimme war Lain wohlbekannt.
Kurz überlegte er, einfach schnell den Gang runter zu laufen und heim zu gehen, doch die Neugier siegte.
Unauffällig schob er sich hinter einen Schrank gefüllt mit Lernmaterialien, kurz bevor die Besitzer der Stimmen in sein Sichtfeld kamen.
Coleen Niles redete auf Herrn Tons ein, der stumm nickte.
Dann sah sie ihn flehentlich an und strich ihm mit der Hand sanft über den Arm.
Sie blieben stehen und Herr Tons sah sich eilig nach links und rechts um, ehe er Coleen in die Arme schloss.
Sie nuschelte noch irgendetwas, dann löste sie sich von ihm und eilte in die andere Richtung davon.
Herr Tons sah ihr nach, rief ihr „Ich verspreche es!" hinterher und setzte sich wieder in Bewegung. Kurz sah er in die Richtung des Schrankes, doch bemerkte nichts ungewöhnliches. Auch er verschwand nun wieder aus Lains Blick.
Lain hatte die ganze Zeit die Luft angehalten.
Das soeben Gesehene schockierte ihn – Coleen und Herr Tons standen sich derart nahe?
War Tons etwa ein Pädophiler?
Coleen und Lains Mathelehrer – das konnte doch nicht wahr sein!
Leider ergab es aber einen verstörenden Sinn. Wenn Coleen an alten Männern interessiert war, überraschte es Lain nicht mehr, dass seine Gefühle sie völlig kalt ließen.
Lain raffte sich auf und verschwand endlich aus dem Gebäude. Von dieser Schule hatte er genug.
Während der ganzen Nachhilfestunde beobachtete Lain seinen Lehrer aus den Augenwinkeln.
Beide hatten das Gespräch von letzter Woche mit keinem Wort erwähnt und Lain hatte nicht vor, den Anfang zu machen.
Quälend langsam löste er seine Aufgaben, in der Hoffnung, dass Tons etwas sagen oder tun würde. Irgendwas, das Lain Aufschluss über seine Absichten gab.
Herr Tons wirkte abwesend an diesem Tag. Immer wieder glitt sein Blick zum Fenster oder auf seine schwarze Uhr.
Lain blickte auf. Er konnte dieses Schweigen nicht mehr lange ertragen.
Gut, dann machte er eben den Anfang.
Gerade hatte er den Mund geöffnet, als es klopfte.
Augenblicklich fuhr Herr Tons von seinem Stuhl hoch.
„Herein!", rief er.
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Lenards unsicheres Gesicht sah ins Zimmer hinein.
Er warf Lain einen kurzen Blick zu, woraufhin dieser zur Antwort nickte. Er hatte den Plan also doch nicht vergessen.
„Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen. Kann nicht warten", erklärte er an Tons gewandt.
„Stört es dich, wenn ich..."
„Nein. Gehen Sie nur", unterbrach Lain die Frage seines Lehrers.
Kaum schloss Tons die Tür hinter sich, stürzte Lain zu dessen Tasche. Es musste doch irgendwelche handfeste Beweise geben, dass zwischen Coleen und ihm etwas lief. Es ging Lain zwar nichts an, doch er musste es wissen. Und wo sollte er sonst suchen, wenn nicht in Tons' Sachen?
Das Tablet rührte er nicht an – persönliche Tablets waren nur mit dem Fingerabdruck des Besitzers verwendbar und meldeten jeden unzulässigen Fingerabdruck an die Ordnungswache.
Doch vielleicht konnte er etwas anderes finden. Eine Kamera mit Bildern von ihr drauf. Einen handgeschriebenen Liebesbrief.
Während er in den Akten und Ordnern wühlte, kam er sich unheimlich dumm vor. Es wäre schon ziemlich blöd von seinem Lehrer, würde er solche Dinge mit sich herumtragen.
Dann sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war nur ein unauffälliger Ordner aus echtem Papier.
In schmalen, schwarzen Buchstaben stand „Bless" darauf. Lains Name.
Er griff danach, als er Schritte vor der Tür hörte.
Lenards Stimme, die noch irgendeine belanglose Frage stellte, nur, um Tons abzulenken.
Eilig blätterte Lain den Ordner durch, dann stopfte er ihn zurück, schloss hektisch die Tasche und setzte sich schnell zurück auf seinen Platz.
Als Herr Tons eintrat, tat Lain, als arbeitete er konzentriert an seinen Aufgaben.
Doch seine Gedanken rasten wild durcheinander.
Nervös kaute er auf seiner Unterlippe.
Nur ein kurzer Blick auf seinen Lehrer, der wieder abwesend zum Fenster blickte.
Doch etwas an dieser Abwesenheit wirkte faul, seit Lain es wusste:
Sein Lehrer beschattete ihn.
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