PROLOG
Winter zog über den Kontinent Tamur wie ein unheilvoller Schatten. Früher liebte Nasha die kälteste Jahreszeit, doch im Laufe der Jahre und Jahrzehnte war alles verschwommen und in der Leere verschwunden, die die Einsamkeit mit sich brachte. Sie dachte, nun wäre es endlich vorbei. Sie dachte, sie könne gehen und zurückkehren zu ihren Ahnen, in dem Wissen, dass draußen Schnee die Häuserdächer bedeckte und irgendwo in diesem Moment eine neue Hexe erschaffen worden wäre. Sie dachte, sie würde nun endlich heimkehren können.
Ihre Schritte erzeugten kaum mehr als ein leises Pochen auf dem Kopfsteinpflaster, Straßenlaternen erleuchteten die breiten Straßen. Stimmen und Gelächter vom Marktplatz her und aus den kleinen Kantinen am Straßenrand übertönten jedes Geräusch, das sich nicht gegen die Lautstärke durchsetzen könnte. Ihre Gedanken gehörten zu dieser Minderheit, die selbst das übertönen konnten.
"Magierin, wir brauchen Eure Hilfe, bitte!"
Die Bitten zweier besorgter Eltern, die Angst hatten, sie müssten einen Preis zahlen für Nashas Magie. Ein kleines Mädchen, der auf ein Dach geklettert war, um die Sterne zu sehen. Sie war gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Die Familie konnte sich keine Schmerzmittel oder Medikamente leisten. Sie hatte ihr einen ihrer Tränke verabreicht, es würde in einem oder zwei Monaten wieder alles verheilt sein.
"Verschwinde, Hexe. Verzieh' dich zurück in den Süden."
Die giftigen Worte der Stadtwache. Reiche Männer, die ihre Hilfe noch nie gebraucht hatten und eine Frau fürchteten, die nicht alterte und den Titel Hexe trug. Männer, die sich nicht trauten, mehr gegen sie zu unternehmen, aus Angst vor der Macht der Natur und der Sterne.
"Danke, Myr'arcia. Ich schulde Euch was."
Dieses Wort. Myr'arcia. Es verfolgte sie in ihren Erinnerungen und im Hier und Jetzt, ja sogar bis in ihre Träume. Es war eine unglaubliche Verantwortung, und doch nahmen die Leute ihrer Stadt den Begriff in den Mund wie einen Ehrentitel. Es war keine Ehre, es war Pflicht und nicht weniger bedeutete dieser Begriff.
"Lasst mich einfach in Frieden, Nasha. Wir kamen auch ohne Eure Magie gut klar."
Die müde Stimme eines Bäckers, der sich seit Jahren mit demselben Problemen quälte. Jeden Morgen kaufte sie bei ihm ein, fragte ihn wie es seiner Familie ging und jedes Mal lief das Gespräch freundlich, fast freundschaftlich. Bis sie ihm Hilfe anbot, egal ob magischer Art oder nicht. Dann wandelte sich die Stimmung ins Gegenteile und er schickte sie jedes Mal mit ähnlichen Worten fort.
"Tut doch etwas, Myr'arcia! Ihr seid eine Hexe, warum tut ihr denn nichts?"
Das Flehen einer Mutter, die ihren Sohn in den Mienen verloren hatte, der Hass in ihren Augen als sie erkannte, dass selbst die letzte der Hexen nichts dagegen tun konnte. Die Sterne hatten ihn sich geholt und nicht einmal Nasha konnte das rückgängig machen. Nicht einmal ein Gott wäre dazu in der LageSein Gesicht blitzte in ihren Gedanken auf.
"Ich werde dich vermissen, Nasha. Ich bete zu Mawi, dass wir uns erneut begegnen werden."
Ihre beste Freundin, nur wenige Jahre jünger als sie. Immer noch wunderschön war Vanya, selbst im Alter von 94 Jahren und ohne die bleibende Jugend einer Hexe. Schneeweißes Haar, in viele kleine Zöpfe geflochten und auf dem Hinterkopf hochgesteckt und sich von ihrer braunen Haut abhebend. Wache, grüne Augen, um die sich stets kleine Lachfalten bildeten. Ein Lächeln zierte meistens ihr Gesicht, doch man sollte ihre Güte nie mit Sanftmütigkeit verwechseln. Vanya war wie ein Sommersturm, der jederzeit aufkommen und wieder abflachen konnte, von einer Sekunde auf die andere, und gewissermaßen liebte Nasha ihre Freundin dafür. Es tat weh, zu wissen, dass sie sie allein in dieser Welt zurücklassen würde. Wenn die Hexe etwas bereute, dann wohl das.
Und dass sie nicht mehr hatte tun können. Dass ihre Taten im Heilen von gebrochenen Knochen und dem Verhindern von Taschendiebstählen bestanden hatten. Sie wusste nicht, ob sie dafür geschaffen worden war, ob das alles war, doch wenn es so war, so musste sie das wohl akzeptieren.
Mittlerweile war Nasha zuhause angekommen, ein altes Gebäude ohne nennenswerte Verzierungen oder Anzeichen von Reichtum, bloß Holz und Ziegel. Sie sah aus dem geöffneten Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien und zu stürmen, stattdessen war es still und dunkel in Vjenn, der Vierten Stadt. Die Stadt der Häfen, des Überseehandels und der Fischerei, obwohl letzteres nur den ärmeren Vierteln zu bemerken war. Irgendwo in der Ferne war Pferdewiehern und Kinderlachen zu hören, wenn alles still war konnte man die Möwen an der Küste hören. Ein Lächeln tauchte auf den Lippen der Hexe auf. Das war es, wofür sie hundert Jahre lang gekämpft hatte, was sie zu beschützen versucht hatte. Sie wünschte sich, dass es etwas genutzt hatte. Dass jede kleine Tat, jeder kleine Trank und jede geheilte Wunde das Leben in dieser Stadt etwas besser, etwas lebenswerter gemacht hatte.
Sie seufzte schweren Herzens und ihr Atem verwandelte sich in weiße Wolken, die vor ihr in der kalten Luft tanzten und schwebten nach oben, verschmolzen mit der Nacht. Ihre langen, dünnen Finger schlossen sich um das Fenster und schlossen es. Die Wärme des nur schwach flackernden Kamins kroch bloß schleichend langsam zurück in ihre Knochen, doch das machte nichts. Es würde nichts bringen, die spärlichen Flammen jetzt zu nähren. Morgen würde Nasha ihr Licht und ihre Hitze nicht mehr brauchen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro