Kapitel 20
NIALL
Meine Augen trieften vor all den unbekannten Namen, Daten und Fotos, die Ed mir in den vergangenen zwei Stunden ohne Pause über den Tisch des Verhörraums hinweg hingeschoben hatte. Und jedes Mal hatte er dabei einen so bittenden Ausdruck im Gesicht, dass ich ihn am liebsten angeschrien, gepackt und geschüttelt hätte. Was hatten meine ehemaligen Kollegen denn für ein Bild von der Realität? Wussten sie denn nicht, dass all die brutalen Zwischenfälle der letzten Monate auf Adams Konto gingen, nicht auf das von Zayn? Hatten sie Adam und seine Leute denn überhaupt nicht auf den Schirm?
Darüber hinaus hörten sie einfach nicht auf, mich wie einen gemeingefährlichen, gesuchten Schwerstverbrecher zu behandeln. Ich konnte nicht behaupten, die Handschellen allzu lange hätte ertragen zu müssen, aber bereits jetzt, nach hundertfünfundzwanzig Minuten, spürte ich, wie das eigentlich recht leichte Metall an meinen Handgelenken schwer wurde und die Haut dort zu reizen begann.
„Bernard Hale."
Ich blickte nicht auf, als Ed unter leisem Rascheln von Papier einen weiteren Dokumentbogen zutage förderte und ihn mein Sichtfeld schob. Der metallene Tisch reflektierte das Neonlicht in dem kalten, kahlen Raum auf irritierende Art und Weise und schmerzte unbarmherzig in meinen ohnehin schon empfindlichen Augen. Ich musste das Foto auf dem Auszug der Personalakte des armen Teufels, der von Adam vor einigen Tagen erschossen worden war, nur flüchtig mit einem Blick streifen, um zu wissen, dass ich ihn verdammt nochmal nicht kannte. Weder direkt noch indirekt.
Ein Schwall Luft verließ in einem Ausdruck der Verzweiflung meine Lungen. „Wie bei den letzten dreiundsechzig Leuten. Ich kenne ihn nicht, Ed."
Ed ließ die Akte auf den Tisch fallen und fuhr sich in einer Geste der absoluten Ernüchterung durch sein flammend rotes Haar, dem offenbar schon seit längerer Zeit kein Haarschnitt mehr gegönnt worden war. „Niall, hör mir zu. Denkst du, für mich ist das hier ein Zuckerschlecken? Komm schon! Du weißt genau, wie es läuft: Je eher zu kooperierst, desto schneller sind wir hier fertig."
„Ich KANN nicht kooperieren, wenn ich nichts weiß! Herrgott!" Wie aus dem Nichts spürte ich verärgert, wie plötzlich unerwartete Tränen mein Sichtfeld zu verschleiern begannen. Wütend zwinkerte ich sie aus dem Weg und ballte unter leisem Klirren der Handschellen die Hände zu Fäusten. Die Erschöpfung, die Frustration, die Verzweiflung, die Wut, die Enttäuschung und eine ganze Palette weiterer, teilweise komplett gegensätzlicher Emotionslagen machten sowohl Körper als auch Psyche allmählich die Hölle heiß.
Mit einer zitternden Hand fuhr ich mir übers Gesicht und wischte das verräterische Salzwasser aus den Augenwinkeln. „Wie lange wollt ihr mich noch zerlegen, Ed? Hm? Wie lange noch? Und ich kann euch nicht mehr sagen als das, was ich verdammt nochmal schon GESAGT HABE!"
Ed gab sich ungerührt, aber ich sah, wie er angespannt schluckte. Auch wenn er es sich weitgehend nicht anmerken ließ, so nahm ihn diese Situation genauso mit wie mich selbst. „Das war nicht viel, Niall. Lediglich die vage Behauptung, dass die Fälle der letzten Monate, die sich vom Schema her ganz zufällig genau mit den vergangenen der Maliks decken, nicht von Zayns Leuten stammen." Unvermittelt schlug er mit der Faust auf den metallenen Tisch, der ein protestierendes Knarzen von sich ab. „Herrgott nochmal, Niall! Wenn du uns schon anlügen willst, dann gib dir wenigstens ein bisschen Mühe!"
Ich biss die Zähne zusammen und starrte gen Decke. Wie sollte ich diesen sturen Vollpfosten nur verklickern, dass sie auf dem völlig falschen Dampfer waren? Adams bewusst gestreute Indizien am Tatort, die allesamt die frühere Malik-Handschrift aufwiesen, konnten vielleicht die Öffentlichkeit und die skandalhungrigen Medien täuschen, aber doch kein verdammtes Spezialeinsatzkommando mit jahrelanger Erfahrung, in dem noch verdammtere Profis am Werk sein sollten. Von besagten Profis konnte ich hier herzlich wenig erkennen. Was ich bisher vom einst so professionellen, angesehenen, respektablen Team meines Vaters gesehen hatte, überzeugte mich davon, dass sie immer mehr zu einem emotionsgesteuerten, verbohrten Haufen aus Ermittler-Fanatikern wurden, die verbissen an einem längst vergangenen Fall festhielten, um ihre Ehre zu retten.
Wie gerne hätte ich den Tisch gepackt, ihn mit einem Brüllen gegen die Wand geschleudert und die ganzen für mich aussagelosen Dokumente und Akten darunter vergraben.
Ich wandte den Blick von Eds starrem Gesicht ab und schloss die Augen. Die Wirkung der Schmerzmittelinjektion ließ allmählich nach und beschenkte mich still und leise mit der Rückkehr der pochenden Kopfschmerzen. Die Situation in Kombination mit diesem beschissenen Neonlicht verstärkte alles nur noch weiter. „Ed, das ist aussichtslos." Meine Stimme war überraschend fest. Zwar leise und unüberhörbar erschöpft, aber fest. „Wir reden gegeneinander an, wir arbeiten gegeneinander. Siehst du denn nicht, dass wir ein- und denselben Feind haben? Adam Levine und sein immer weiter wachsender Haufen aus Kriminellen. Während wir uns hier zerlegen und ihr Zayn das Leben schwer macht, lasst ihr Adam fröhlich weiter morden und ausrauben und habt noch dazu nichts Besseres zu tun, als Zayn die Schuld in die Schuhe zu schieben? Was für eine Art von Ermittlungsteam seid ihr denn? Ich weiß ja nicht, wann ihr euch so verändert habt, aber es war definitiv keine Veränderung ins Positive."
Ed lachte ungläubig auf, und für einen Augenblick sah ich all seine Emotionen wie in einem offenen Buch vor. „Dann wärst du mal besser hiergeblieben, um die Veränderung live beobachten zu können. Das wäre sicherlich ein fantastisches Schauspiel gewesen!" Er lehnte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. „Weißt du überhaupt, was hier die letzten Monate los war? Wie wir uns alle den Arsch aufgerissen haben, um dich zu finden?"
„Ihr wusstet besser als alles andere, dass ich nicht gefunden werden wollte", schoss ich zurück. Immer dieselbe Diskussion. „Ihr wusstet, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen meinem Vater und mir war, wie sehr ich nicht mehr unter seiner Fuchtel leben wollte. Und dennoch jagt ihr mich mit all eurer Gewalt quer durch die Weltschicht. Ich verstehe es nicht!"
„Weil du egoistisch bist!", schrie Ed mich plötzlich an. „Vollkommen egoistisch! Nicht eine Sekunde hast du an deine Familie, deine Freunde gedacht, hab ich recht? Du bist mit deinem Verbrecherliebhaber durchgebrannt, bei einem unserer eigenen Einsätze in einem verdammten Café, während eines Einsatzes gegen Zayn Malik! Ohne Vorwarnung, ohne alles. Wir ..." Er brach schockiert ab, als ihm aufging, dass er als professioneller Ermittler, der eigentlich nur einen Komplizen befragen sollte, genau jenen Komplizen gerade quer über den Verhörtisch hinweg mit persönlichen Vorwürfen zuschrie.
Berechtigte Vorwürfe.
Aber mein Geduldsfaden war zu nah am Zerreißen, als das ich das jetzt noch offen hätte zugeben können. Ich war müde, hatte Kopfschmerzen, wurde mit ungerechtfertigten Verbrechen konfrontiert und war einfach nur AM ENDE. So fühlte man sich wohl unter psychischer, verbaler Folter.
„Wir sind hier fertig." Eds Gesicht wurde zu einer Maske der Distanziertheit, bevor er den Knopf der Sprechanlage betätigte. „Wes."
Beinahe im selben Moment sprang die metallverstärkte Tür auf und ein breitschultriger Typ mit Vollbart trat ein. Stirnrunzelnd starrte ich ihn an, und ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Das war der rücksichtslose Idiot, der mich im Kaufhaus fast erschossen und mir beim Zugriff des Teams das Gehirn zu Brei geschlagen hatte. Mein Vater hatte offenbar tatsächlich neue Leute rekrutiert – die beunruhigenderweise entgegen der Leitungsbefehle zu ungerechtfertigter Gewalt neigten.
Außerdem kam er mir abgesehen von diesen Zusammentreffen von woanders her extrem bekannt vor, und das nicht auf die positive Art.
„Kennen wir uns?", fragte ich ihn unwirsch, während er meinen Oberarm packte und mich ziemlich unsanft auf die Beine zog.
Wes, wie Ed ihn genannt hatte, verzog keine Miene, aber seine Augen flackerten kurz auf, während er damit mein Gesicht scannte. „Das bezweifle ich, Blondie. Und jetzt Abmarsch."
Mein Gehirn arbeitete pausenlos, während ich mich gedankenverloren und widerstandlos von Wes durch den kurzen Flur der Einsatzzentrale zur Zelle zurückführen ließ.
Blondie.
So hatte mich Zayn in unserer Zeit als Feinde genannt. Nein, nicht nur Zayn, sondern auch Adam und Justin, die mich von Anfang an nur umbringen hatten wollen. Diese erniedrigende, gönnerhafte Bezeichnung in Bezug auf meine hellen Haare schien ein merkwürdiges Verbrecherding zu sein.
Die Tatsache, dass einer der Mitarbeiter meines Vaters mich nun so nannte, nistete sich als ungutes Gefühl in meinem Magen ein und wollte auch nicht verschwinden, als Wes sich schon lange wieder verzogen und mich allein in der Stille der Zelle zurückgelassen hatte.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich spürte, dass von Wes eine Gefahr ausging, die ich nicht einzuordnen wusste.Irgendetwas bahnte sich an.
Und meine Person schien mal wieder mittendrin zu stecken.
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