"𝕰s hat geklingelt..."
Das Murmeln war ganz nah an Izaiahs Ohr, fast spürte er den sanften Hauch von Atem in seinem Nacken.
"Ich weiß," erwiderte er nur, und zog die Bettdecke höher.
"...Schon wieder."
"Hab ich gehört." Er wälzte sich auf die andere Seite, drehte sich dahin, wo die Matratze sich unter einem weiteren Gewicht senkte. "Komm her...", murmelte er und streckte die Hand aus, konnte unter den Fingerspitzen schon die vertraute Rundung einer schmalen Hüfte spüren - Als es wieder klingelte.
Mit einem frustrierten Knurren setzte er sich auf. Welcher elendige Bastard klingelte schon an einem-!
...Naja, wenn er so darüber nachdachte, war er sich gar nicht mehr so sicher, welcher Wochentag heute war. - Aber früh um-!
...Obwohl, als er die dichten Jalousien mit den Fingern einen Spalt aufschob, stand die blendende Sonne schon ziemlich hoch am Himmel, und von dem Wecker, dem er schon eine Ewigkeit lang kein Gehör mehr geschenkt hatte, blinkte ihm auch vorwurfsvoll ein PM entgegen.
Da schien ihn jemand wirklich unbedingt sehen zu wollen. Mittlerweile hielt, welcher lebensmüde Idiot es auch war, die Klingel durchgedrückt.
"Ich komm ja, verdammt nochmal!", zischte er und bahnte sich humpelnd irgendwie seinen Weg zur Wohnungstür, indem er sich an Wänden und Schränken voranzog. Energisch riss er die Tür auf, hatte schon eine hitzige Drohung auf der Zunge, die Hand für eine wütende Geste gehoben, und-
"Viv."
"Lass mich rein."
Er ließ die Hand sinken, und überlegte einen Moment zu lang, ob er die Tür wohl einfach wieder zuknallen konnte. Sie hatte schon einen Fuß in seiner Wohnung und schob sich an ihm vorbei.
"Hallo meine liebste Vivien. Es freut mich so, dich zu sehen. Aber natürlich darfst du rein kommen!", rief er ihr hinterher und warf resigniert die Tür ins Schloss, während sie unbeirrt auf sein Wohnzimmer zusteuerte. Im Türrahmen blieb sie jedoch wie versteinert stehen, und er konnte sie endlich einholen.
"...Heilige Scheiße, Izaiah," murmelte sie, und ihre Augen wanderten haltlos durch den Raum. Sie wusste wohl nicht so recht, was sie zuerst entsetzt anstarren sollte.
Den schiefen Turm von Pisa aus fettigen Takeout-Boxen, der neben dem Sofatisch in die Höhe ragte? Oder das fast schon kunstvolle Arrangement leerer Tablettenblister auf dem Tisch? Die wenigen kleinen Flecken Boden, die unter all dem Müll nur hier und da hervorschauten? Vielleicht ja das Klebeband, das mehr schlecht als recht das eingeschlagene Fenster zusammenhielt.
Dann richteten ihre dunklen, kritischen Augen sich auf ihn. Er konnte nicht genau wissen, was sie sahen, denn sein Spiegel lag schon längst in hunderten Scherben in seinem Bad verteilt, doch er vermutete, seit dem letzten Blick hinein hatte sich die Lage wohl kaum verbessert.
Er hob die Hand, fühlte die kratzigen Stoppeln auf seinem Kinn, den verfilzten Knoten von Haaren an seinem Hinterkopf. Seine aufgeplatzte Lippe pochte noch immer. Zusammen mit Vivien äugte er die seltsamen Flecken auf seinem Shirt und musste sich selbst eingestehen, dass er keinen Schimmer hatte, ob sie Stunden, Tage, oder Wochen alt waren.
Langsam schmerzte das Stehen zu sehr. Diesmal schob er sich an ihr vorbei, und ließ sich mit einem Ächzen auf sein Sofa fallen.
"Du humpelst," merkte Vivien an.
"Ist mir schon aufgefallen."
"Dein Bein? Was sagen die Ärzte dazu?"
Er zuckte mit den Schultern.
"Was soll das heißen? Du warst doch wohl im Krankenhaus..."
"War ich," beschwichtigte er. "Zum Kugel Rausholen und Nähen, und sogar zum Fädenziehen. Das reicht ja wohl."
"...Nein?! Was ist mit Physiotherapie? Kontrollen, dass es richtig heilt? Das war eine verdammte Schusswunde, kein Papierschnitt. Wenn du Pech hast, kannst du vielleicht nie wieder vernünftig gehen, oder leidest ein Leben lang an chronischen Schmerzen-"
Wieder zuckte er nur mit den Schultern, wofür sie ihn, offenbar sprachlos, anstarrte.
"Weißt du, Viv, ich zeige mein intensives Verlangen nach Besuch und Kontakt immer dadurch, dass ich die Tür nicht aufmache. ...Kaffee?", fragte er irgendwann.
Sie klappte ihren Kiefer wieder hoch. "Tee. Grüner. ...Bleib sitzen, ich mach's selbst," fügte sie an, und begab sich auf die abenteuerliche Klettertour in die kleine Küche nebenan.
Er hörte zu, wie sie durch Schubladen und Schränke kramte und lehnte sich auf dem Sofa zurück, schloss die Augen und tat sein Bestes, das Ziehen in seinem linken Oberschenkel zu ignorieren. Das war noch gar nichts. Er hatte schon schlimmere Tage gehabt, an denen er nicht aus seinem Bett hätte aufstehen können, wenn er es gewollt hätte.
Wenn er einfach nur schnell genug wieder einschlief, bevor sie fertig war, dann müsste er nicht mehr mit ihr reden. Und wie verlockend der Schlaf doch war... Eine Stimme flüsterte schon seinen Namen in sein Ohr, eine Wärme beugte sich von der Sofalehne aus über ihn. Und waren das Fingerspitzen, die über seiner Wange schwebten?
Lauter als nötig stellte Vivien zwei Tassen auf dem Sofatisch ab. "Was ist das?", fragte sie, und er musste nicht die Augen aufmachen, um zu ahnen, auf was sie wohl deutete.
Vor lauter Schulterzucken würde er heute wohl noch Muskelkater kriegen. Sollte sie es sich doch selbst ansehen, wenn sie ihn schon verurteilen wollte.
"Unisom, Sominex, Nytol...", las sie vor. "Das sind... Schlaftabletten. Keine Schmerzmittel?"
Still schüttelte er den Kopf. Die Schmerzen waren ihm recht. Die hatte er sich redlich verdient.
"...Wann hast du das letzte Mal die Wohnung verlassen?"
Als er die Augen wieder öffnete, bestätigte sich seine Vermutung, dass sie ihn durchdringend musterte. "...Vorvorgestern. Glaub ich."
Sie neigte den Kopf. "Und wann bist du das letzte Mal weiter gegangen als in die nächste Bar, um eine Prügelei mit betrunkenen Fremden anzufangen?"
Ertappt ließ er den Finger von seiner aufgeplatzten Lippe sinken, und seine Stille sagte ihr wohl alles, was sie wissen musste.
"Heilige. Scheiße. Izaiah," wiederholte sie.
"Meine Rede," stimmte Junis zu.
"Sh," machte Izaiah und erntete einen verwirrten Blick von Vivien.
Moth sagte nichts, um ihn zu verteidigen. Moth sprach generell nur noch wenig, doch Izaiah nahm es ihm nicht übel. Immerhin war er nur noch ein ausgeblichenes Bandshirt über der Sessellehne. Allerdings war Junis auch nur eine Brille mit gebrochenen Gläsern auf dem Sofatisch.
Das ganze hatte vor etwa zwei Wochen angefangen, glaubte er zumindest. Es war schwer zu sagen, wenn die Tage mittlerweile nur noch in eine graue Masse ineinander verschwommen.
Wann auch immer es gewesen war, als der Sonnenuntergang an diesem Tag schon tiefrot durch die Schlitze in seinen Jalousien strahlte, hatte er sich schließlich irgendwann aus dem Bett gerollt. Im Handgemenge mit der Kaffeemaschine hatte er wohl lang gar nicht bemerkt, dass Junis neben ihm stand.
Junis, in blutigem Shirt und deren Lieblingsjacke, mit kaputter Brille und Blut über deren Mund und Kinn verschmiert.
"Verpiss dich," hatte er gezischt und das Mahlwerk zugeknallt. "-Koch mir jetzt meinen verfickten Kaffee, oder du landest auf dem Sperrmüll!- Hau ab. Ich rede nicht mit Toten."
"Warum nicht?"
Später wusste Izaiah nicht mehr, ob er Junis je die Frage beantwortet hatte. Dey hatte auf jeden Fall immer noch über ihm gestanden und ihn erwartungsvoll gemustert, als er auf den Küchenfliesen wieder zu sich gekommen war.
"Sie starrt dich an," warnte Junis ihn vor, und tatsächlich tat Vivien genau das.
"Das Bein, die Pillen, die Prügeleien...", sagte sie leise. "Du legst es doch nur darauf an, dass dich irgendetwas davon umbringt."
"Hm." Er brauchte wohl gar nicht zu versuchen, es abzustreiten. "Ja, ich will Gott treffen und ihm in die Fresse hauen, diesem verdammten, elendigen B-"
Die Wanduhr, die bis jetzt auf wundersame Weise heil gebleiben war, krachte zu Boden.
"Woah!", grinste Junis. "Ich glaube, hier spukt's."
Vivien war mitten in ihrer Bewegung eingefroren und hatte einige Nuancen an Farbe verloren, doch nachdem er ihr einige Sekunden gelassen hatte, um tief durchzuatmen, stellte er erleichtert fest, dass sie nicht kurz davor war, in eine heftige Panikattacke zu rutschen.
"Also, was willst du hier?", fragte er schließlich.
Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa. Das bedeutete wohl, sie plante nicht, sonderlich zeitnah wieder zu verschwinden. Großartig. "Du hast meine Nachrichten ignoriert. Meine Anrufe auch."
Er sah sich um. Irgendwo hier musste sein Handy liegen, vielleicht unter dem Stapel ungeöffneter Post im Flur. Stimmt, das Ding hatte er lang nicht mehr zu Augen bekommen. Gesucht danach hatte er aber auch nicht. Essen bestellen konnte er auch mit dem Laptop.
"...Ich brauche dich. Wir brauchen dich."
"Nein."
"Ich weiß, es ist schwer für dich, und ich wäre nicht hier, wenn-"
"Nein, Viv."
"-Wenn es nicht wirklich dringend wäre."
"Ich komme nicht zurück, Vivien. Nie wieder."
Wofür wollten sie ihn denn zurück? Er hatte eine Aufgabe gehabt, eine einzige, und darin hätte er wohl spektakulärer nicht versagen können.
Irgendwo hatte sie offenbar noch einen sauberen Löffel gefunden, mit dem sie in ihrem Tee herumrührte. Als er schon das fünfte Mal mit einem leisen klink! gegen den Tassenrand kam, öffnete er den Mund, um sie nach Hause zu schicken, doch sie kam ihm zuvor.
"Ich... war die einzige auf Junis' Beerdigung," sagte sie langsam. "Egal, was ich versucht habe, um... um deren Mutter ausfindig zu machen, ich konnte sie einfach nicht finden. Ich habe die Zeitung in deren Heimatort kontaktiert, dass sie eine Todesanzeige schreiben, ich dachte, sie würde es wissen wollen..."
"Sie hat den Kontakt abgebrochen. Nach der letzten Überdosis," erklärte er und musterte ihr blasses Gesicht, die dunklen Ringe unter ihren Augen. Vielleicht sollte er ihr eine von den Packungen auf dem Tisch anbieten. Er hatte sicher genug Schlaftabletten, um ein kleines Dorf lahm zu legen.
Sie hatte eine frische dünne Narbe, quer über ihre Nasenbrücke bis knapp unter ihr rechtes Auge. Der Vollmond konnte nicht lang her sein. Bis vor ein paar Wochen hätte er das noch genau gewusst. Sie trug selten Narben nach einem Vollmond davon. In den Stunden danach konnte ihr Körper die heftigsten Brüche in wahnsinnigen Geschwindigkeiten heilen, wenn man sie vorher schnell und gut genug richtete. Meistens hatten das Junis und Moth getan. Cam hatte sie aus dem Wald nach Hause gefahren, Junis und Moth Brüche gerichtet, Wunden genäht, und er hatte meistens zugesehen, und sich darum gekümmert, dass sie eine weiche Decke, ein Glas Wasser und Schmerztabletten hatte, wenn sie aufwachte.
Du warst auch zum Vollmond allein, dachte er, und er musste nicht fragen und sie nicht antworten, damit er wusste, dass es wahr war.
"Sorry." Er sah sie an und konnte sich nicht dazu bringen, etwas zu fühlen. Junis und Moth waren tot, und alles andere hatte mit einem Mal seine Bedeutung verloren.
Seine Wut hatte in den Stunden danach das halbe Büro zu Kleinholz zerschlagen, und die Tage danach hatten seine Tränen ihn ertränkt. Seitdem war einfach nichts mehr in ihm außer gähnende Leere, die auch das fettigste Fast Food und die nächste Barprügelei nicht füllen konnten. "Cam hätte doch kommen können."
"Cam geht nicht auf Beerdigungen. Sie war nicht mal auf der von ihrem Sohn," erwiderte Vivien ernst.
"Oh." Oh. Bis gerade eben hatte er nicht einmal gewusst, dass Cam einen Sohn gehabt hatte.
"Wegen ihr bin ich hier. Ich wusste, dass mit ihr etwas nicht stimmt."
Er sah auf.
"Jetzt hat sie dich doch," neckte Junis.
"Sie hat mich überhaupt nicht," verteidigte er sich zischend. Vivien hob verwirrt eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.
"...Warum? Wahrscheinlich sitzt sie zu Hause und trinkt sich den Verstand weg. Und wenn du mich fragst, gut für sie. Gönn ihr mal eine Pause."
"Ich habe ihr eine Woche lang eine Pause gegönnt. Und eine zweite. - Ich hatte seit mehr als einem Monat kein einziges Lebenszeichen von ihr gesehen, Izaiah. Sie hat nicht auf meine Nachrichten geantwortet, sie ist nicht ans Telefon gegangen, sie hat nicht die Tür aufgemacht. Durch die Fenster sieht es aus, als wäre sie schon lang nicht mehr zu Hause gewesen."
"Hm." Von ihm hatte sie auch nichts gehört, und seine Wohnung sah aus, als hätte Hurricane Katrina darin gewütet, doch um ihn hatte sie sich offenbar nicht solche Sorgen gemacht.
"Sie hat mein SOS ignoriert," gestand Vivien fast kleinlaut. Ihre Hände zitterten, und irgendetwas zwang Izaiah dazu, eine eigene über ihre zu legen. "Die Nachricht kam an. Cam würde niemals mein SOS ignorieren. Und dann... Dann kam das Foto."
"Das Foto?", hakte Izaiah nach.
Mit einem selbstgefälligen Grinsen verschränkte Junis die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich neben ihnen auf dem Sofa zurück. "...Uuund sie hat dich."
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