Ruhe vor dem Sturm | 7
Immer wieder warf Hermine verstohlene Blicke auf die andere Seite des Klassenraumes. Sie hoffte, dass Markus ihre Signale bemerken würde, ehe die Geschichtsstunde um war. Sie hatte seit Wochen nicht mit ihm gesprochen und sie wollte wirklich wissen, wie es Augusta inzwischen ging. Insbesondere nach ihrer eigenen Erfahrung mit Lestrange waren ihre Schuldgefühle über das, was sie mit Tom zusammen diesem Mädchen angetan hatte, schlimmer geworden.
Endlich schien er sie bemerkt zu haben. Sie hob eine Augenbraue und er nickte nur. Zufrieden widmete sie sich wieder ihrem Pergament und schrieb den langweiligen Vortrag von Professor Binns mit. Sie war immer noch jedes Mal aufs Neue überrascht, ihn lebendig zu sehen. Ein Teil von ihre erwartete, dass er einfach eines Tages als Geist auftauchen und weiterlehren würde – wie es den Legenden nach ja wirklich passiert war.
Als die Doppelstunde endlich rum war, ließ sie sich Zeit mit dem Einpacken, um dann als letzte zusammen mit Markus den Raum zu verlassen. Alle anderen Schüler waren bereits zum Mittagessen geeilt, so dass sie zumindest für den Moment unbeobachtet waren.
„Guten Tag, Mr. Longbottom", begrüßte sie ihn höflich, als er sich an ihre Seite stellte.
„Das wünsche ich Ihnen auch", erwiderte er den Gruß.
Kurz standen sie schweigend nebeneinander und starrten auf die andere Seite des Flures, ehe Hermine den Mut fand, das Gespräch zu beginnen. „Ich war noch nie Freund langer Einleitungen, also komme ich direkt zum Punkt. Wie geht es Miss Bargeworthy?"
Zu ihrer Überraschung zeichnete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab. „Gut. Sehr gut. Sie hat es irgendwie geschafft, zu sich selbst zurück zu finden. Oder ein neues Selbst zu finden. Sie ist zumindest wieder genauso angriffslustig, wie sie es vorher gewesen ist."
„Und?", hakte Hermine nach, die deutlich in den geröteten Wangen des anderen Jungen erkannte, dass da noch mehr war.
„WirheiratenimSommer."
Schmunzelnd stellte sie sich direkt vor ihn und faltete herausfordernd die Arme vor der Brust. „Bitte? Was war das?"
„Wir ... wir heiraten im Sommer. Sie hat ja meinen Antrag angenommen. Unsere Familien sind entzückt und meine Mutter ist mit Mrs. Bargeworthy bereits eifrig am Planen." Verlegen kratzte Markus sich den Nacken.
„Oh, das sind freudige Nachrichten. Ich gratuliere Ihnen, dass Ihr Leben trotz allem so gut läuft!" Aufrichtige Freude machte sich in Hermine breit. Natürlich wusste sie, dass Augusta Longbottom noch einen Enkel haben würde, aber mit eigenen Augen mitzuerleben, wie diese traumatisierte junge Frau ihr Leben anpackte und sich nicht unterkriegen ließ, fühlte sich sehr gut an.
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Hermine würde gerne weiter nachhaken, wie Augusta ihr furchtbares Erlebnis verarbeitete, doch sie wusste, dass Markus darüber kaum sprechen wollen würde.
„Miss Dumbledore", setzte der plötzlich an. „Es fällt mir schwer, mein Schweigen zu halten. Es fällt mir schwer, Sie an der Seite von Riddle zu sehen, wenn ich weiß, was er getan hat. Auch wenn ich nicht weiß, was geschehen ist, so habe ich doch gehört, dass auch Sie vor kurzem Opfer von Gewalt geworden sind. Steckt er dahinter?"
Ein Zittern lief durch ihre Körper, doch Hermine zwang sich, dem nicht nachzugeben. Wann immer sie daran dachte, was Lestrange ihr angetan hatte, war es, als öffnete sich ein schwarzes Loch ohne Boden unter ihr, das sie verschlucken wollte. Sie wusste nicht, wie sie da raus kam, also tat sie derzeit ihr bestes, es immer von sich wegzuschieben, wenn Erinnerungen hochkamen. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Es war nicht Tom. Ich mag es kaum aussprechen, insbesondere wenn ich an Miss Bargeworthy denke, doch Tom war es, der mich gerettet hat."
Sie sah, wie Markus die Fäuste ballte. „Es fällt mir schwer, Ihren Worten Glauben zu schenken. Ich weiß, was für ein Monster er ist." Er schluckte und sah zur Seite. Seine Stimme klang rau, als er weitersprach. „Wenn er Ihnen gegenüber so viel Mitgefühl zeigen konnte, wieso ... wieso hat er dann ..."
Seine Stimme brach und er verstummte. Vorsichtig legte Hermine ihm eine Hand auf den Oberarm. „Sie müssen Ihre Gefühle für Tom nicht ändern, nur weil er gut zu mir war, Mr. Longbottom. Kein Mensch ist nur böse und tut nur schlimme Dinge. Aber das macht die schlimmen Dinge, die er tut, nicht besser. Sie können ihn immer noch dafür hassen, was er getan hat."
„Ich glaube, ich hasse mich viel mehr", flüsterte Markus, ohne auf ihre Hand auf seinem Arm zu achten. Sein Blick lag leer auf dem verwaisten Gang. „Ich war da. Ich war da, Miss Dumbledore. Ich hätte es verhindern können. Ich habe Augusta schon da geliebt und ich habe einfach nichts getan. Sie hat mir nie Vorwürfe gemacht. Sie hat sogar zugestimmt, mich zu heiraten. Dabei habe ich sie auf die schlimmste Weise im Stich gelassen."
Hermine schluckte. Sie konnte verstehen, woher diese Gedanken kamen, doch natürlich waren sie Unsinn. Entschlossen legte sie ihm ihre Hand auf die Wange und drehte sein Gesicht zu ihr, so dass sie ihm in die Augen schauen konnte. „Sie waren überfordert in der Situation und wollten Ihre gute Freundin nicht in Bedrängnis bringen. Sie wollten ihr Handlungsfreiheit lassen und haben auf das Urteil von Augusta vertraut. Das ehrt Sie, Mr. Longbottom. Sie haben sich tadellos verhalten. Sie konnten nicht wissen, dass ein Zauber auf ihr liegt und sie gezwungen wurde."
Er schloss die Augen für einen Moment, dann atmete er lang aus. „Ich weiß. Ihre Worte sind richtig, und ich weiß das. Ich sage es ja zu mir selbst auch immer. Aber ich fühle mich trotzdem schuldig. Ich wünschte einfach, es wäre nie geschehen."
„Dinge ändern zu wollen, die man nicht ändern kann, ist der beste Weg, unglücklich zu werden." Ein trauriges Grinsen huschte über Hermines Lippen. Der Satz war so wahr, und trotzdem war sie selbst oft genug schuldig, Dinge ändern zu wollen, die außerhalb ihrer Kontrolle lagen. Sie selbst wünschte, sie könnte die Tat von Lestrange ungeschehen machen.
„Ich kann nicht anders." Der Satz kam so leise, dass Hermine ihn beinahe nicht gehört hätte.
Sie ließ ihre Hand wieder sinken und lehnte sich neben Markus an die kühle Steinwand. Sie hätten beide schon längst auf dem Weg in die Große Halle sein sollen, doch Hermine wusste, dieses Gespräch war jetzt wichtiger. Seufzend legte sie ihren Kopf in den Nacken. „Ich bin eine schlechte Ratgeberin für diese Sachen. Wenn mich etwas stört, vergrabe ich mich normalerweise so lange in der Bibliothek, bis ich ein Buch gefunden habe, das eine Lösung parat hält. Aber ich weiß nicht, ob es ein Buch gibt, das Ihnen Schuldgefühle abnehmen kann."
„Ich werde der beste Ehemann der Welt sein." Markus schaute stur gerade aus, als er das sagte. „Ich werde auf Augusta aufpassen und dafür sorgen, dass ihr nie wieder etwas Schlimmes widerfährt. Ich werde ihr jeden Tag einen Blumenstrauß kaufen und ihr sagen, wie sehr ich sie liebe."
Lächelnd sah Hermine ihn von der Seite an. „Sie sind schon jetzt der beste Ehemann, den sie sich wünschen kann."
Wieder schwiegen sie beide, doch Hermine hatte das Gefühl, dass der andere Schüler nicht mehr ganz so aufgewühlt war wie gerade eben noch. Sie kannte das selbst. Wann immer sie sich überfordert und hilflos fühlte, half es ihr, einen konkreten Plan zu schmieden und Dinge anzupacken. Auch wenn Markus mit seinen zukünftigen Handlungen die Vergangenheit nicht ungeschehen machen konnte, sie war sich sicher, alleine schon der Fokus auf das, was er tun würde, lenkte ihn ab.
„Planen Sie, die Ehefrau von Riddle zu werden?"
Hermine verschluckte sich beinahe an ihrem eigenen Atem. Mit großen Augen starrte sie zu Markus hoch, der sie wiederum mit einem schuldbewussten Lächeln bedachte. „Vielleicht war die Frage doch zu direkt, verziehen Sie mir."
Hustend winkte Hermine ab. „Nein, schon in Ordnung. Ihre Offenheit ist erfrischend. Und um Ihnen eine Antwort auf Ihre Frage zu geben: Ich weiß es nicht."
Natürlich wusste sie es ganz genau. Sie würde Tom nicht heiraten, weil sie niemals eine Chance dazu bekommen würde. Sie würde am Tag ihres Abschlusses in ihre eigene Zeit heimkehren und sie bezweifelte, dass Tom sie 1998 noch heiraten wollen würde. Mal ganz davon abgesehen, dass es ihr Ziel war, ihm das Handwerk zu legen – was bedeutete, dass er entweder lebenslang in Askaban vor sich hin rotten würde, oder, viel wahrscheinlicher, sterben würde.
Ihre Zeit mit Tom neigte sich unaufhaltsam dem Ende zu. Nicht nur hier in 1945, sondern grundsätzlich. Es gab 1998 keine Zukunft für sie.
„Denken Sie, er würde Ihnen einen Antrag machen?"
Hermine unterdrückte ein Grinsen und zwinkerte Markus verschwörerisch zu. „Vielleicht hat er das ja schon getan?"
Nun war es an dem Gryffindor, sie mit großen Augen anzustarren. „Das ist nicht Ihr Ernst, oder?"
Lachend schüttelte sie den Kopf. „Sagen wir, Tom hatte die Ehre, mit meinem Vater zu sprechen, und mein Vater ist ein eher eigenwilliger Mensch, der andere dazu bringt, Dinge zu sagen, die sie vielleicht lieber verschwiegen hätten."
Markus legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Aber sicher, der Wirt vom Eberkopf! Ich habe nie ein Wort mit ihm gewechselt, aber ich würde ihm in der Tat zutrauen, jeden zum Reden zu bringen. Er ist einer der Gründe, warum ich nur einmal dort gewesen bin."
Mit einem Seufzen stieß Hermine sich von der Wand ab und griff nach ihrer Tasche. „Ich gehe mal lieber zum Mittagessen. Wie ich Tom kenne, hat er bereits einen Suchtrupp nach mir geschickt. Was bedeutet, er ist selbst suchen gegangen."
„Er scheint sich aufrichtig um Sie zu sorgen." Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, höchstens Verwunderung konnte Hermine raushören.
Etwas hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Es scheint so. Aber ich kann mich nur wiederholen – Sie müssen Ihre Meinung über ihn nicht ändern, nur weil er gut zu mir zu sein scheint."
Sie warf sich ihre Schultasche über die Schulter, winkte Markus zum Abschied zu und machte sich dann auf den Weg zur Großen Halle. Sie konnte nur zu gut verstehen, wie verwirrt der Junge war. Menschen in Gut und Böse, Schwarz und Weiß einzuteilen, war leicht. Es war leichter, Tom zu hassen, wenn man ihn einfach nur als gefühlloses Monster sah. So hatte sie ihr Leben lang über Voldemort gedacht.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie, wenn sie 1998 dem echten Lord Voldemort gegenüber stehen würde, noch Tom in ihm sehen würde. Ob die Erinnerung an den, der er einst war, sie ins Wanken bringen würde. Denn was auch immer geschah, sie würde ihn konfrontieren. Sie würde ihn suchen, sich ihm zeigen und ihn erinnern, dass er einmal fast in der Lage gewesen wäre, einen anderen Menschen aufrichtig wertzuschätzen.
Und dann würde sie Harry dazu befähigen, ihm seine gerechte Strafe zukommen zu lassen – wie auch immer die aussehen mochte.
Sie würde nicht wanken. Sie würde nicht schwach werden.
Entschlossen packte sie den Riemen ihrer Tasche fester. Sie durfte nicht schwach werden. Sie war hier, um die Zaubererwelt zu retten, nicht Tom.
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