Die erste Saat | 7
Mit klopfendem Herzen stapfte Hermine durch den Schlamm. Der März hatte ihnen dieses Wochenende eine Menge Regen beschert, was für die meisten ihrer Mitschüler den Ausflug nach Hogsmeade wenig attraktiv erscheinen ließ. Sie war eine von nur einer Handvoll, die sich heute aus dem Schloss getraut hatte. Doch anders als ihre Mitschüler hatte sie eine Mission, die sich nicht aufschieben konnte.
Auf ihrem Ringfinger steckte der Ring, der in Wirklichkeit ein Horkrux war. Sie hatte ihre rechte Hand zur Faust geballt, um ihn ja nicht zu verlieren. Nachdem Tom ihr den Ring am vorigen Wochenende gezeigt hatte, hatten sie einen genauen Plan ausgearbeitet, wie sie testen wollten, ob er ihn auch über weite Entfernung spüren konnte. Sie hatten es zunächst im Schloss ausprobiert. Hermine hatte sich mit dem Ring versteckt und Tom hatte sie ohne Probleme jedes Mal gefunden. Er wusste zu jeder Zeit, wo dieses Stück seiner Seele war.
Ohne den Geschäften um sich Achtung zu schenken, marschierte Hermine die Hauptstraße hinunter. Sie hatten ausgemacht, dass Tom das Dunkle Mal aktivieren würde, wenn er den Ring nicht mehr spüren konnte. Sobald Hermine den Rand des Dorfes und den Apparierpunkt dort erreicht hatte, würde sie wiederum das Mal aktivieren, um ihm Bescheid zu geben.
Zitternd zog sie ihren Mantel enger um sich. Obwohl keine Minusgrade mehr herrschten, sorgten Wind und Regen heute doch für unangenehme Temperaturen. Tom hatte ihr angeboten, das Experiment zu verschieben, doch Hermine wollte nicht warten. Sie wusste, dass Tom weit entfernte Horkruxe nicht spüren konnte, sonst wäre er während der Horkruxjagd schon viel schneller auf ihre Spur gekommen. Sie wollte, dass auch er das so schnell wie möglich realisierte, damit sie gemeinsam darüber sprechen konnten, was das hieß.
Zum tausendsten Mal ging sie im Kopf die Geschehnisse in Hogwarts durch, die zu ihrer Zeitreise geführt hatten. Ron, Harry und sie waren durch einen Geheimgang von Hogsmeade in den Raum der Wünsche gekommen, wo sie den dort versteckten Schülern gesagt hatten, dass sie nach einem Diadem suchen. Harry war mit Luna zu einer Statue aufgebrochen, die das Diadem zeigte, damit sie wussten, wonach genau sie suchten. In der Zwischenzeit war Ron auf die Idee gekommen, den Basiliskenzahn aus der Kammer des Schreckens zu holen.
Hermine spürte tief in sich, dass in der Zeit, die Ron und sie in der Kammer verbracht hatten, im Schloss etwas passiert sein musste. Vielleicht war Harry von Snape gefunden worden. Vielleicht hatten die anderen im Raum der Wünsche beschlossen, dass sie nicht länger warten, sondern kämpfen wollten. Sie wusste nicht, was es war, aber sie hatte eine tiefe, absolute Gewissheit, dass die Welt anders aussehen würde, wenn sie mit Ron aus der Kammer des Schreckens wieder auftauchte.
Wenn Voldemort in der Zwischenzeit mitbekommen hatte, dass sich Harry Potter ausgerechnet in Hogwarts aufhielt, dann würde er sicher auch dahin kommen. Und dann wäre er wieder in der Nähe seiner Horkruxe und konnte sie wieder spüren. Vielleicht würde er ihnen zuvorkommen und das Diadem an sich nehmen, ehe sie eine Chance hatten. Und wenn nicht, dann würde er immer ganz genau wissen, wo Harry mit dem Diadem hin verschwunden war. Das war eine so konkrete Gefahr, die keiner von ihnen bedacht hatte bei ihrer Aktion.
Schnaufend blieb sie stehen. Wie so oft wenn sie in Gedanken versunken war, hatte sie ein Marschtempo eingelegt, das ihr nach wenigen Minuten den Atem raubte. Sie holte ein paar Mal tief Luft und richtete die Kapuze ihres Mantels, um sich besser vor dem Regen zu schützen. Hier im entlegeneren Teil des Dorfes war keine Menschenseele zu sehen. Nur die Lichter hinter den Fenstern zeugten davon, dass es nicht ausgestorben war. Ihre Mitschüler hatte sie schon lange hinter sich gelassen.
Entschlossen richtete sie ihren Blick nach vorne. Sie war nur noch wenige hundert Meter vom Ortsrand entfernt und noch hatte Tom sich nicht gemeldet. Mit gemäßigterem Tempo schritt sie voran. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass eine so kurze Entfernung wie die von Hogwarts zum Dorf ausreichend war, dass Tom Kontakt zum Horkrux verlieren würde. Entsprechend war sie innerlich darauf eingestellt, mindestens einmal zu apparieren.
In der Ferne sah sie das kleine Pförtnerhäuschen, das neben dem Apparierpunkt war, genau, wie Tom es ihr beschrieben hatte. Die größte Schwierigkeit würde sein, unbemerkt zu bleiben, denn es war immerhin die einzige Aufgabe des Pförtners, diesen Punkt zu überwachen.
Geduckt huschte sie über die Querstraße und presste sich eng an die Hauswand. Laut Tom wohnte hier nur ein alter Mann, der Gerüchten zu Folge ein Squib war. Seine Aufgabe war es, alle Ankömmlinge zu dokumentieren und Alarm zu schlagen, falls ihm etwas seltsam vorkam. In seinen sieben Jahren hier konnte Tom sich an keinen einzigen Zwischenfall erinnern, entsprechend ging er davon aus, dass der Alte seinen Aufgaben nur noch halbherzig nachging.
Mit pochendem Herzen spähte Hermine durch ein Fenster ins Haus. Es war Licht an und zu ihrer großen Überraschung sah sie einen alten Mann, der mit geschlossenen Augen auf einem Schaukelstuhl saß. Ganz leise drang Musik an ihre Ohren – lauschte er dem Radio? Nachdenklich zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Gab es hier Radioempfang? Funktionierten elektrische Geräte in Hogsmeade?
Kopfschüttelnd duckte sie sich wieder weg. Das waren alle keine wichtigen Fragen. Was zählte, war, dass er in der Tat abgelenkt war. Sie umrundete das Haus und kauerte sich im Windschatten an die Wand. Halbwegs von Regen und Wind geschützt rollte sie ihren Ärmel hoch, ehe sie ihren Zauberstab zückte und auf das Dunkle Mal presste.
Ein heißes Brennen auf der Haut ließ sie zusammenzucken. Wieder einmal hatte sie vergessen, dass ein aktiviertes Mal mit Schmerzen einherging. Sie wartete mehrere Atemzüge, dann rollte sie den Ärmel wieder runter und erhob sich. Tom wusste jetzt, dass sie am Dorfrand war und gleich apparieren würde.
Noch einmal holte sie tief Luft, dann schaute sie entschlossen durch den Regen in die Ferne und visierte einen Punkt auf der Wiese an, einige hundert Meter vor ihr. Da sie nur zu Orten apparieren konnte, die sie kannte, musste sie sich damit begnügen, auf Sichtweite zu apparieren. Aber so würden sie zumindest genau wissen, wie weit zu weit war.
Den Zauberstab fest umklammert machte sie sich bereit. Mit einem leisen Plop verschwand sie aus dem Dorf.
***
Hermine legte den Kopf schräg, während sie mit einem Handtuch ihre Haare vorsichtig trocken knetete. Tom saß entspannt auf seinem Bett, während sie nicht anders konnte, als erregte auf und ab zu laufen. Es ergab keinen Sinn.
Nachdem sie mehrmals auf Sichtweite appariert war, aber nie ein Zeichen von Tom gekommen war, hatte sie die Geduld verloren. Sie war weit in den Süden, an den Strand eines kleinen walisischen Dorfes appariert, in dem sie mal mit ihrer Familie Urlaub gemacht hatte. Sie wusste, dass das eine größere Entfernung war, als Voldemort zu ihrer Zeit je von seinen Horkruxen entfernt gewesen war.
Und trotzdem hatte Tom nicht reagiert. Ihr Dunkles Mal war still geblieben. Verwirrt war sie nach Hogsmeade zurück appariert und hatte sich durch den Regen zum Schloss hoch gekämpft. Und jetzt war sie hier, tropfnass, im Zimmer von Tom, der ob ihrer plötzlichen Rückkehr zunächst nur irritiert gewesen war, ehe er ihr bestätigte, dass er bis zum Schluss seinen Ring hatte spüren können.
„Und du bist dir sicher, dass du nicht aus Versehen dein anderes Horkrux gespürt hast?", fragte Hermine, während sie ihre feuchten Haare ausschüttelte.
„Absolut." Ungeduld sprach aus seiner Stimme. „Wenn du tatsächlich im Süden von Wales warst, würde das bedeuten, dass ich den Kontakt zu meinen Horkruxen nicht verliere."
Sie ließ das nasse Handtuch auf der Lehne seines Stuhls zurück und gesellte sich zu ihm aufs Bett. Es ergab einfach keinen Sinn. Sie war so davon überzeugt gewesen, dass Tom seine Horkruxe auf größere Entfernung nicht mehr spüren konnte. Wie sonst ließ sich erklären, dass er erst so spät bemerkt hatte, dass Harry, Ron und sie dabei waren, die Horkruxe systematisch zu sammeln und zu zerstören?
„Ich verstehe nicht, wieso du so aufgewühlt bist. Es ist eine gute Nachricht, dass ich den Kontakt zu meinen Horkruxen nie verliere. Es bedeutet, dass mein Plan, sie weit von mir entfernt zu verstecken, funktionieren wird." Toms Worte klangen kühl, während er erklärte, warum er mit dem Ergebnis des Experiments zufrieden war.
Hermine nickte abwesend. Sie wusste, dass Tom diesen Plan in die Tat umsetzen würde. Sie hatte sich tatsächlich schon gefragt, wieso die Horkruxe an so vielen seltsamen Orten verteilt waren, wenn er doch genau wusste, dass er sie dort nicht mehr spüren konnte. Dass das Ergebnis des Experiments so entgegen ihrer Erwartungen ausfallen und ihn in seinen Plänen bestätigen würde, damit hatte sich nicht gerechnet.
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Lippe. „Vielleicht gibt es noch andere Variablen?"
Sie hörte, wie er genervt die Luft ausstieß, doch zumindest für den Moment schien er gewillt, sich auf die Diskussion einzulassen. „Was meinst du?"
Mit vor der Brust verschränkten Armen schloss Hermine die Augen. Was war anders zwischen jetzt und 1998? Lag es vielleicht am Alter? Nicht unbedingt nur an seinem, sondern auch an dem der Gegenstände, die er benutzte? Was war anders?
Sie schnappte nach Luft. Das Offensichtlichste war ihr natürlich nicht als erstes in den Sinn gekommen. Sie öffnete die Augen wieder und schaute Tom direkt an. „Meinst du, dein Verhältnis zu den Horkruxen könnte sich ändern, wenn du stirbst?"
Toms Augen weiteten sich. Für einen Moment schien er zu einer impulsiven Antwort ansetzen zu wollen, doch dann imitierte er ihre Geste und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, während er konzentriert auf die Decke zwischen ihnen starrte.
Hermines Gedanken überschlugen sich. Das musste es sein. Mit seinem Tod musste sich etwas verändert haben. Sie hasste es, dass sie ihm das nicht sagen konnte. Er musste von selbst zu der Überzeugung gelangen.
Doch was dann? Sie wusste genauso, dass er die Horkruxe trotzdem an entfernten Orten lassen würde. Selbst wenn er das heute, hier und jetzt, realisierte und ihr Recht gab, würde er in ferner Zukunft anders darüber denken. Oder es womöglich einfach vergessen haben.
Entmutigt ließ sie die Arme sinken. Die ganze Übung erschien ihr plötzlich sinnlos. Anstatt etwas neues über Horkruxe herauszufinden, hatte es nur dazu geführt, dass sie sich eingestehen musste, dass Tom in der Zukunft ihre Warnungen und Erkenntnisse missachten würde.
„Es ist möglich", kam es schließlich nach einer langen Pause von Tom. Die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, starrte er blicklos vor sich hin. „Im Moment spüre ich meine Horkruxe, weil sie wortwörtlich von meiner Seele kommen. Es ist, als ob ein dünnes Band von mir zu diesen Gegenständen führt. Wenn ich sterbe, stirbt dieser Teil der Seele, der das Band hat. Es kann sein, dass die Horkuxe untereinander nicht verbunden sind."
Kurz blieb Hermine stumm, doch dann raffte sie sich auf und nahm den Faden auf. „Das klingt logisch. Du würdest deine Horkruxe vermutlich immer noch spüren, wenn du in direkter Nähe bist, aber das Band, das du jetzt hast, würde vermutlich fehlen?"
„Möglich." Tom verzog den Mund. „Vielleicht ändert sich auch nichts. Ich kann es nicht testen, das ist das Problem."
Hermine sah, wie sich seine Miene verdunkelte und seine Körperhaltung angespannter wurde. Sie kannte diese Vorzeichen. Tom war auf ein Problem gestoßen, das er nicht verstand und nicht lösen konnte, und er hasste es. Sie war diejenige, die ihn auf diese Spur gebracht hatte. Wenn sie nicht vorsichtig war, würde seine Wut über seine eigene Ohnmacht sich gegen sie richten.
Sanft legte sie ihm eine Hand auf den Oberschenkel. „Noch bist du nicht gestorben, Tom. Sollte das passieren, wirst du wissen, ob du sie noch spüren kannst oder nicht. Und dann weißt du, ob du deine Pläne anpassen musst oder nicht."
Tom nickte abwesend, doch immerhin legte er eine Hand auf ihre. Sein Blick wurde wieder starr, während er offensichtlich angestrengt über etwas nachdachte. „Ich könnte eines bei mir behalten", murmelte er so leise, dass sie es beinahe nicht gehört hätte.
„Wie meinst du?"
Mit einem Ruck riss Tom sich aus seiner eigenen Konzentration und drückte ihr die Hand. „Gar nichts, mein Herz. Ich werde über dieses Problem in Ruhe nachdenken und dann meine Pläne anpassen. Ich weiß noch nicht, was der beste Weg vorwärts ist, aber zumindest habe ich jetzt mehr Klarheit. Klarheit über Dinge, die mir ohne dich gar nicht eingefallen wären. Dafür verdienst du ein Dankeschön."
Er presste ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte sie an. „Ich habe dir noch nie wirklich etwas geschenkt, mein Herz. Soweit ich weiß, gehört es sich für junge Männer, dass sie ihrer Herzensdame kleine Aufmerksamkeiten in Gestalt von Schmuck zukommen lassen. Was meinst du, wäre das etwas für dich?"
Misstrauisch blickte sie ihn an. „Warum habe ich das Gefühl, dass du plötzlich das Thema wechseln willst?"
Toms Blick wurde augenblicklich kalt. „Weil ich genau das will. Also, Hermine. Darf ich dir als Dank etwas schenken?"
Sie schluckte. Seine Frage klang eher wie ein Befehl. Sie hatte sich auf den Themenwechsel einzulassen, wenn sie sich nicht seinen Zorn zuziehen wollte. Was auch immer in ihm vorging, er war gerade nicht bereit, sie darin einzuweihen.
Mit einem Seufzen gab sie nach. „Als würde irgendeine Frau jemals Nein zu einem Geschenk sagen. Überrasch mich, Tom."
„Das höre ich gerne", raunte er ihr ins Ohr, ehe er ihr einen Kuss auf die Wange gab und sie enger an sich zog. „Das höre ich in der Tat sehr gerne."
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