Kapitel 7
JOANNE
𝕴rgendwo am anderen Ende des langen Flurs weinte ein Kind, das hörte Joanne sofort, als sie nach der letzten elendig langen Befragung endlich aus dem Verhörraum kam. Sie rollte mit den steifen Schultern und ignorierte, was auch immer Ruiz noch sagte. Sicher eine weitere Rede, dass sie hier das Sagen hatte und nicht Joanne. Dafür hatte sie sich noch nie weniger interessiert.
Ohne eine Reaktion ging sie den Flur herab, folgte dem Schreien. Ein Säugling, wie es klang. Warum kümmerte sich denn niemand um das arme Ding?
"Preston!", zischte Ruiz. Sie folgte ihr also.
Das fand Joanne allerdings ziemlich interessant. Dieser stählerne Wille, der kleine Funke in den Augen, den sie nicht ganz unterdrücken konnte, wenn sie sich aufregte. Das gefiel ihr. Sie hoffte, irgendwann würde sie vielleicht die Zeit haben, um ausgiebig zu testen, welche Knöpfe man bei Camille Ruiz so drücken konnte.
Offenbar war gerade Schichtwechsel. Vom Nachtdienst erschöpfte Polizisten sammelten ihr Habgut zusammen und verabschiedeten sich erleichtert, andere kamen mit einem Kaffee in der Hand und in ganz unterschiedlichen Stadien von Motivation gerade an. Kaum einer von ihnen drehte sich nicht ein zweites Mal nach ihr um, als sie im Flur an ihnen vorbei lief.
Daran störte sie sich schon lang nicht mehr. Sie war groß, sie war schön, und sie strahlte Macht förmlich aus. Sie konnte es ihnen kaum verübeln.
Das Licht der aufgehenden Sonne fiel durch die großen Fenster an beiden Seiten des Gangs, schien durch die großen, satt grünen Blätter der Zimmerpflanzen, tanzte schimmernd auf der Oberfläche des Wassers in einem Wasserspender. Es war wunderschön. Auch nach so vielen Jahren konnte sie sich an diesem Anblick nicht sattsehen, selbst, wenn ihre empfindlichen Augen schmerzten und sie immer Acht geben musste, dass das Licht nicht auf ihre bloße Haut fiel, die es sonst in wenigen Sekunden verbrannte. Aus ihrer Manteltasche zog sie eine Sonnenbrille und ein Paar dünne Seidenhandschuhe. Für den Moment sollte das genügen.
Das Kind weinte noch immer, doch es war ganz nah. Irgendwo hier...
Schließlich entdeckte sie die beiden durch die Glaswand eines Warteraums. Ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn, lief mit einem untröstlich weinenden Säugling auf dem Arm auf und ab.
Hinter sich hörte Joanne Ruiz' Schritte zum Stehen kommen.
"Hör auf. Hör doch auf!", bettelte das Mädchen, hielt das schreiende Kind eine Armlänge vor sich. "Bitte. Jetzt sei doch endlich leise!"
Joanne blickte hinter sich. "Helfen Sie ihr schon," drängte sie leise, als Ruiz sich nicht rührte. "Das arme Mädchen."
"Nein." Die Agentin sah gar nicht hin, sondern starrte irgendwo in die Leere.
"Meine Hilfe wird sie sicher nicht wollen."
"Dann können wir ja gehen."
Joanne hob eine Augenbraue. Das war ihr schon lang nicht mehr passiert, wo Menschen doch sonst ein offenes Buch für sie waren. "Denken Sie, irgendeiner von denen hier wird sich Zeit für sie nehmen können? Ein paar Minuten mehr wird Ihr Team auch ohne uns auskommen. Sie ist ganz allein."
"Nein," wiederholte Ruiz stur.
" Was ist falsch mit Ihnen? Zeigen Sie etwas Menschlichkeit."
Ruiz biss den Kiefer fest zusammen, sah Joanne sauer an. Ohne diesen faszinierenden kleinen Funken in ihren Augen. "Schön," resignierte sie schließlich und stapfte auf die Tür zu, trat nach einem Klopfen aber sehr vorsichtig in den Raum. Joanne bleib hinter der Glasscheibe stehen, und beobachtete sie nur still.
Als das Mädchen sie entdeckte, flutete sofort Erleichterung ihr Gesicht, und sie streckte ihr den Säugling entgegen. "Bitte, er hört einfach nicht auf, zu weinen, und ich-"
"Ganz ruhig," murmelte Ruiz und nahm ihn ihr vorsichtig ab. "Vorsicht, Vorsicht. Pass immer auf, dass du seinen Kopf festhältst, siehst du? - Wie heißt er denn?"
"Le-Levi." Das Mädchen wischte sich mit dem Ärmel die eigenen Tränen vom Gesicht und nahm einen zittrigen Atemzug.
"Levi... Hallo, Levi," wiederholte Ruiz leise und wippte den Jungen langsam auf und ab. Mit einem Mal wimmerte er nur noch leise vor sich hin, sah mit großen, glänzenden Augen zu ihr auf. Mit den Fingerspitzen strich sie behutsam durch den dünnen Flaum auf seinem Kopf.
"Mom ist seit- seit drei Tagen nicht nach Hause gekommen. Die sagen, es war wahrscheinlich eine von diesen Attackern," erklärte das Mädchen leise. Sie hatte sich bewundernswert schnell wieder gefasst.
Purer Hass floss noch immer kochend heiß durch Joannes Adern. Ihre Finger wanderten zum linken Ärmel ihres Mantels, zu dem kleinen Dolch, der darunter verborgen ungeduldig auf seine nächste Aufgabe wartete. Sie hatte noch nie Gefallen gefunden an Brutalität, aber Payne... Payne wollte sie mit tausend kleinen Schnitten qualvoll ausbluten lassen, ihn häuten, ihn vierteilen - Sie wollte ihm jeden einzelnen Namen entlocken, damit sie jedem seiner Gleichgesinnten das selbe antun konnte, bevor sie überhaupt daran dachte, ihn jemals von seinen Qualen zu erlösen.
Ein zäher, nicht enden wollender Schmerz zog sich durch ihre Brust. Sie wollte zu ihnen gehen, das arme Mädchen in die Arme schließen, dieses kleine Wunder in den Händen halten, doch ihr war gut bewusst, dass wohl niemand die Geste wirklich zu schätzen wissen würde.
Stattdessen blieb sie still an Ort und Stelle stehen und sah nur zu. Durch eine dicke Glasscheibe, etwas abseits, um nicht entdeckt zu werden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Warum war ihr dieses Gefühl nur so vertraut?
Obwohl sie sich so gesträubt hatte, ließ sich Ruiz davon im Warteraum nichts anmerken. Mit ihrer tiefen sanften Stimme redete sie dem Mädchen gut zu, während sie mit behutsam wippenden Bewegungen langsame Kreise durch den Raum ging. Levi lag ganz ruhig an ihrer Brust, und irgendwann fielen ihm schließlich die Augen zu.
Joanne war so vertieft in den Anblick gewesen, dass sie den Polizisten hinter sich gar nicht kommen gehört hatte. Er glaubte wohl, sie könnte seinen argwöhnischen Seitenblick nicht sehen, bevor er sich in den Raum schlich.
"Hallo, Hannah," grüßte er leise und stellte eine Tasse auf dem Tisch ab. "Ich hab dir einen Kakao mitgebracht. Wie geht's euch?"
"Er schläft," murmelte Ruiz, als Hannah nichts sagte, und irgendwie gelang es ihr, Levi so vorsichtig zurück in die Babyschale auf dem Stuhl neben Hannah zu legen, dass er dabei auch nicht wieder aufwachte.
Während Ruiz dem Jungen noch einmal über den Kopf strich, reichte der Polizist Hannah eine kleine Karte. "Hier, meine Kollegin hat dir schon von ihnen erzählt, habe ich gehört. Hier treffen sich Opfer von Vampirattacken und ihre Angehörigen. Immer zwei Mal in der Woche, zum Beispiel morgen. Ich denke, das wäre ganz gut für dich. Die von der Kinderschutzbehörde wollen in etwa einer halben Stunde da sein, dann-"
"Entschuldigung, haben sie noch so eine Karte?", unterbrach Ruiz mit einer rauen Stimme. Nachdem der Polizist ihr etwas irritiert eine reichte, nickte sie nur, warf Hannah ein letztes, halbherziges Lächeln zu und verließ den Warteraum.
Sie würdigte Joanne keines Blicks und ging einfach an ihr vorbei, den Blick starr nach vorn gerichtet. Ihre Augen waren glasig, fiel Joanne auf, nachdem sie sie ohne viel Schwierigkeit eingeholt hatte. Sie verlor kein Wort über den kleinen silbernen Flachmann, den Ruiz wohl glaubte, unauffällig aus ihrer Jackentasche zu ziehen, bevor sie einen großzügigen Schluck nahm.
Gerade, als sie sich überwunden hatte, ihren Stolz herunterzuschlucken und zu fragen, was es mit dieser Karte auf sich hatte - Immerhin hatte sie es ganz sicher nicht nötig, Ruiz hinterherzulaufen und anzubetteln, mit ihr zu sprechen - hörte sie wieder Schritte hinter ihnen.
"Camille? Cam, bist du das?"
"Hank! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen." Dem aufgesetzten Lächeln nach, mit dem Ruiz sich zu ihm und Vivien, die neben ihm lief, umdrehte, hätte sie diesen Trend wohl gerade liebend gern fortgesetzt.
Hank war ein breitgebauter Polizist mit einem freundlichen Gesicht und einem bis in die letzte Faser ergrauten Vollbart, der auf Ruiz zustapfte und die Arme in einer sicher schmerzhaft festen Umarmung um sie warf.
Captain Miller, las Joanne auf seiner Uniform.
"Wer ist das?", murmelte er Ruiz noch in der Umarmung zu.
"Eine Beraterin für unseren aktuellen Fall," antwortete Ruiz, ohne sich die unnötige Mühe zu machen, leiser zu sprechen, und löste sich wieder von ihm.
Hank nickte und fuhr sich durch den Bart. "Was den angeht... Das hab ich auch schon Vivien gesagt. Ich helfe euch immer gern, aber hier sind wir alle an unseren Grenzen. Nach Leuten in Nevada zu suchen, die etwas gegen Vampire haben, ist - und nehmen Sie es mir nicht übel," warf er an Joanne gewandt dazwischen und sie nickte knapp, "-als würde man nach Leuten suchen, die morgens einen Kaffee trinken. Wir hätten es wahrscheinlich einfacher, nach denen zu suchen, die kein Problem mit ihnen haben. Die Protestgruppierungen, die uns bekannt sind, haben sich aber bis jetzt nichts Relevantes zu Schulden kommen lassen. Und Payne... Den können wir noch ein paar Stunden festhalten, aber ihr könnt ihm nicht wirklich etwas nachweisen, für dass er nicht gegen Kaution wieder raus kommt."
Ruiz drehte die Karte zwischen ihren Fingern. "Ich weiß, ich danke dir trotzdem. Wir müssen jetzt zurück in unser Büro."
"Du weißt, dass dein Schreibtisch immer frei sein wird, Sergeant Ruiz. Das gleiche gilt für Detective Park."
Ruiz lächelte matt. "Ich hab meine Entscheidung getroffen und kann damit leben. Ich komme nicht zurück, Hank."
—
"Du siehst so blass aus."
"Aber mir geht's wirklich gut," beteuerte Timothy. Während seine Schwester in der prallen Mittagssonne auf der Türmatte stand und ihn kopfschüttelnd musterte, achtete er darauf, den schützenden Schatten des Wohnwagens nicht zu verlassen. Ein heftiger Sonnenbrand auf seiner rechten Hand hatte ihn wohl fürs erste seine Lektion gelehrt.
Joanne beobachtete sie von ihrer schattigen Ecke auf dem alten Sofa aus, die sie für sich beansprucht hatte. Auf dem anderen Sofa, im einzigen Streifen Sonne, streckte sich der Hund aus und beobachtete wiederum sie aufmerksam. Das Spanisch der Geschwister war hektisch und verschwommen und Joannes etwas eingerostet, aber sie verstand die beiden noch gut genug.
Müdigkeit zerrte an ihren Augenlidern, doch die lodernde Wut in ihr hielt sie wach. Sie hatten die Proben verloren. Irgendwo auf dem Weg zum Labor waren die Proben des Bluts aus dem Salem Nights gestern einfach verloren gegangen. Was für ein unglaublich praktischer Zufall.
"Wann kommst du heute nach Hause?", fragte Sahra, ohne den Blick von dem Verband um Timothys Hals zu lösen.
"Weiß nicht. Izaiah und Cam sind gerade unterwegs, und vielleicht ergibt sich dort etwas. Dann könnte es länger dauern. Ich schreib dir einfach, okay?"
Sahra sah damit nicht sehr zufrieden aus. "Jede Stunde," forderte sie.
"Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ein paar Stunden am Stück schaff ich gerade so," erwiderte Timothy sarkastisch.
"Mhm." Sie äugte nur demonstrativ weiter den Verband.
"Hey, ich kann dir garantieren, dass das nie wieder passiert." Timothy grinste, doch Sahra schien wenig amüsiert. "Wann bist du heute zu Hause?", lenkte er ab.
"Keine Ahnung. Der Chefredakteur will den Artikel zu diesem neuen Bürgermeister-Kandidaten in Carson City, dem Vampir, bis morgen konzipiert haben. Er meint, wenn ich mich hier beweise, sieht er wohl bald eine Beförderung für mich."
Joannes Kehle kratzte. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas Wasser, das Vivien ihr in einem kurzlebigen Anflug übermäßiger Gastfreundschaft gereicht hatte, aber das war es nicht, wonach es ihr dürstete, das wusste sie selbst.
"Ich muss jetzt los," seufzte Sahra und umarmte Timothy - oder eher seinen Brustkorb - fest. "Ich hab dich lieb, Timmy."
"Oh, du weißt, wie diesen Namen hasse!", jammerte er.
"Ich weiß." Sahra lächelte, doch es erreichte ihre Augen nicht ganz.
"Ich dich auch," erwiderte Timothy noch, aber die Tür zum Wohnwagen war schon hinter ihr zugefallen.
Joanne sah sich in dem Wohnzimmer um. Vivien saß auf dem anderen Sofa in der Sonne, über einen Zeichenblock gebeugt, in dem sie konzentriert kritzelte. Hades hatte neugierig den Kopf unter ihren Arm geschoben, um sie zu beobachten.
"Vivien."
Sie ignorierte sie schamlos. Joanne war beinahe beeindruckt.
"...Vivien."
"Das kannst du lang versuchen," warf Junis vom Küchentresen aus dazwischen und gestikulierte mit einem belustigten Grinsen zu deren Ohren. Sie trug ihre Hörgeräte nicht. Als Joanne sie mit einem Augenrollen antippte, hob sie sofort den Kopf.
"Was?"
"Es ist bald Vollmond."
Sie verengte die Augen. "Morgen. ...Woher-?"
Joanne zuckte mit den Schultern. Es war so offensichtlich, dass sie gar nicht wirklich wusste, wie sie es erklären sollte. Mit den Jahren hatte sie aber gelernt, auf jeden Fall nicht zuzugeben, dass sie es sogar riechen konnte. "Die Narbe, zum Beispiel." Beinahe fühlte sie sich schuldig, als sie sofort die langen schwarzen Haare über ihre Wange kämmte.
"Keine Sorge," sagte Vivien verstimmt. "Ihr werdet davon wenig mitbekommen. Cam fährt mich für die Nacht in einen Wald außerhalb der Stadt, ich schlafe am nächsten Tag aus und dann hat sich das ganze schon erledigt, bis auf den elendigen Muskelkater."
Überrascht musterte Joanne sie. "Das ist alles?"
"Das ist alles," erwiderte Vivien und widmete ihre Aufmerksamkeit lieber wieder ihrem Zeichenblock.
Der Vollmond konnte ihr übermenschliche Kräfte verleihen, unvorstellbare Stärke, die schärfsten Sinne - Und sie behandelte ihn wie eine nervige Unannehmlichkeit, die sie nur so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte? Joanne hatte schon eine Ahnung, warum. Sie hatte schon einige Vampire getroffen, die aus freien Stücken solche geworden waren, doch noch nie einen Werwolf.
Bevor sie noch etwas erwidern konnte, hob Junis plötzlich den Kopf von deren Laptop, über dem dey schon die ganze Zeit mit einem beeindruckend gekrümmten Rücken gebrütet hatte. "Sie sind da."
Joanne war ganz sicher keine von diesen erzkonservativen Vampiren, die einen seltsamen Stolz mit ihrer Ignoranz gegenüber Technologie zu verbinden schienen, sie hatte sogar stets das aktuellste Smartphone-Modell - Aber trotzdem hatte sie kaum ein Wort verstanden, als Junis, stolz als wäre es deren Erstgeborenes, ihnen erklärt hatte, wie genau der winzige selbstgebastelte Apparat funktionierte, der nun als Knopf an Izaiahs Hemd getarnt war. Jedenfalls nahm er Ton und Bild auf und glich alle erkannten Gesichter auf den Aufnahmen in Echtzeit mit den Datenbanken ab.
Wäre Joanne etwas verklemmter und die Lösung dieses Falls nicht so enorm wichtig gewesen, hätte sie wohl gefragt, ob das überhaupt völlig legal war.
Stattdessen sah sie auf dem Bildschirm still dabei zu, wie Izaiah und Ruiz den kleinen Raum in einem Gemeindezentrum betraten. Das Licht war etwas gedimmt, ruhige Blautöne zogen sich durch die Einrichtung. Die Stimmung war selbstverständlich gedämpft, doch trotzdem tauschte man herzliche Begrüßungen und aufmunternde Worte. Eine breite Mischung von Menschen sammelte sich schließlich in dem Stuhlkreis, auch wenn einige Plätze frei blieben. Izaiah drehte sich unauffällig auf seinem Stuhl, um jeden Winkel einzufangen. Das Mädchen aus dem Polizeipräsidium, Hannah, entdeckte Joanne nicht.
Die Gruppenleiterin war eine gebeugte alte Frau, die mit so einer dünnen Stimme sprach, dass sogar Joanne Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt zu verstehen. Ein Blick in das Protokoll, das Junis daneben führte, verriet ihr aber, dass es sich nur um uninteressante organisatorische Belange drehte.
Dann regte die Frau die Gruppe an, sich doch in der Runde einmal vorzustellen.
Schwungvoll stand Joanne von ihrem Platz auf und spazierte lieber durch den Anhänger. Sicher, sie bedauerte den jungen Mann, der erzählte, wie seine Verlobte nie von einem kurzen Trip zum Supermarkt um die Ecke zurückgekehrt war, oder die Lehrerin, deren Klasse schon um zwei Kinder geschrumpft war, die einfach nie nach Hause gekommen waren. Aber sie wollte es nicht mehr hören. Sie konnte es nicht mehr hören. Es führte ihr nur ihre eigene Hilflosigkeit vor, zeigte ihr, wie dringend sie diesen Fall lösen mussten, ohne ihr dabei tatsächlich zu helfen.
Sie war so verdammt durstig. Sie hatte noch genau zwei Konserven zu Haus in ihrem Kühlschrank, und eine davon war nicht für sie bestimmt. Außerdem konnte sie es eigentlich nicht verantworten, Timothy leer ausgehen zu lassen, wenn sie ihn doch verwandelt hatte. Was dann? Wie sollte sie sicher gehen, dass die Konserven im Supermarkt oder in ihrer Lieblingsbar nicht auch verunreinigt waren?
Oh, sie würde Payne filetieren, jeden Muskel, jede Sehne einzeln vor ihm auslegen, bis er ihr verriet, wo auch der letzte Tropfen seines Gifts, oder was es auch sein mochte, gelandet war.
Die Vorstellrunde war bei den beiden Agenten angekommen.
"Hallo, ich bin Izaiah," stellte dieser sich vor. "Und ein Vampir hat meinen Partner getötet." Er war ein ganz passabler Schauspieler. Nicht zu übertrieben, aber auch nicht zu flach. Es würde sicher reichen, um diese Menschen zu täuschen.
"Hallo, Izaiah," kam das Echo von der Gruppe, und die Aufmerksamkeit richtete sich auf Ruiz.
Sie schien erst nach einem Moment zu realisieren, dass sie an der Reihe war. "Mein Name ist Camille, und ich... habe meinen Sohn verloren," sagte sie schließlich leise.
Joanne nickte beeindruckt. Sie war so gut, dass sogar sie ihr für einen Moment beinahe glaubte.
"Hallo, Camille..." Die Runde setzte sich unbeirrt fort.
Sie musste sich ablenken. wenn sie über den Blutdurst nachdachte, wurde er nur noch schlimmer: Mittlerweile spielte sie sogar schon mit dem Gedanken, Ruiz zu fragen, wenn sie zurückkehrte, obwohl es gegen jedes ihrer Prinzipien ging. Lieber wollte sie den Rest ihres langen Lebens Mücken fangen und aussaugen, statt Ruiz irgendeinen Gefallen zu schulden, doch vielleicht konnte man die Sache ja auch aus einem anderen Winkel angehen. Eine verhungerte Vampirin konnte ihnen in diesem Fall ganz sicher nicht helfen.
Wahllos zog sie die Schubladen des schmalen Schranks neben der Garderobe auf. Offenbar hatte jeder eine andere, für die er zuständig war, denn ihre Zustände hätten unterschiedlicher nicht sein können: Von penibel gestapelten und zurechtgerückten Utensilien bis zu Schubladen, die sich kaum noch öffnen ließen, weil alles verhakt und verheddert war. Auch ihr Inhalt war ein buntes Gemisch, von Flohmittel und Hundeleckerlis zu großen Vorratspackungen Salz und getrocknetem Lavendel, Silberkugeln, um die sie einen großen Bogen machte, sogar einige Meter einer schweren Kette aus-
"Ah! Wozu zur Hölle braucht ihr eine Silberkette?!" Entsetzt sog sie an ihrer verbrannten Fingerkuppe.
Junis grinste schadenfroh. "Ist zwar verdammt teuer, aber eine super Barriere gegen die aggressivsten Geister. Oder neugierige Vampire."
"Sehr witzig," zischte sie und warf wieder einen Blick auf den Videofeed auf Junis' Laptop. Mit der Trauer umgehen, stand als großer Stichpunkt auf dem Flipchart.
"Ich will sie tot sehen," unterbrach Ruiz ein anderes Gruppenmitglied. Gewagt, doch in der Runde entgegneten ihr nur verständnisvolle Gesichter und gemurmelte Zustimmung. "Das ist falsch, ich weiß es, aber ich würde töten, wenn das hieße, ich bekomme meinen Sohn zurück. Oder wenn ich wenigstens eine Welt schaffen könnte, in der mein Sohn nicht gestorben wäre."
Die Leiterin gab einen halbherzigen Vortrag, dass Gewalt nie eine Lösung sein konnte, doch Joanne interessierte sich mehr dafür, was Junis in ihrem Augenwinkel gerade Vivien gebärdet hatte. Diese trug schon längst wieder ihre Hörgeräte, nickte, und machte sich daran, das Protokoll zu übernehmen.
Dey wollte wohl einfach nicht, dass Joanne es verstand. Keine dumme Idee, bis auf den Punkt, dass dey Timothy mit sich ins Schlafzimmer zog, um dort mit ihm zu sprechen, dicht gefolgt von Hades, der ihnen hinterhertappte. Sie konnte die beiden noch immer hören, als würden sie direkt neben ihr stehen. Doch das mussten sie ja nicht wissen.
"-Zehn. Es gibt extrem wenige Verbrechen, für die man in diesem Alter verurteilt werden kann."
"Ich weiß," murmelte Timothy.
Worüber sie sprachen, war ihr allerdings ein Rätsel. Noch.
"Schwerer Betrug, Sexualdelikte, Totschlag, Mord..."
"Ich weiß."
"Und...? Ich muss dich das fragen, Moth. Wir sind Kollegen. Und wir sind Freunde, oder nicht?"
"...Camille weiß es auch, okay?"
"Warte, Camille weiß es?"
"Sie hat mich doch eingestellt. Junis, ich- du- ...Mach sie auf, wenn du musst. Mach die Akte auf und lies selbst nach."
"Hey, ich wollte dich nicht... unter Druck setzen oder so. Du weißt, wie ich sein kann. Zu neugierig für mein eigenes Wohl, hat meine Grandma immer gesagt. Ich kenn dich lang genug, um zu wissen, dass du schon kein psychopathischer Serienmörder sein wirst. ...Also denk ich. Und ich vertraue Cams Urteil."
"Ist schon okay. Lies es. Du würdest es irgendwann doch sowieso machen. Aber grab nicht weiter darin rum. Und lass das ein Geheimnis zwischen uns bleiben. Deal?"
"Hey, Leute!", rief Vivien dazwischen und die beiden eilten zurück ins Wohnzimmer. Ein junger Mann hatte Ruiz aufgehalten, als der Rest der Gruppe sich schon zum Gehen aufmachte.
"Keine Ergebnisse von der Gesichtserkennung. Er hat wohl noch nie was mit der Polizei zu tun gehabt," stellte Junis fest.
"Vorhin hat er sich als Nate vorgestellt. Er ist wegen seiner Verlobten dort," erinnerte Joanne sich.
"Was du vorhin gesagt hast..." Nate hielt die Stimme gesenkt und warf Izaiah einen argwöhnischen Blick zu, als er in der Nähe stehen blieb. "Wenn du es so meinst, dann schau Montagabend mal hier vorbei. Aber alleine, klar? Und stell sicher, dass dir niemand folgt."
"Klar," murmelte Ruiz und schob eine kleine Karte in ihre Hosentasche.
—
Es kostete Joanne all ihre Willenskraft, die schmerzenden Zähne nicht in dem warmen Beutel in ihren Händen zu versenken. Das süße Kupfer schrie selbst durch das dicke Plastik hindurch ihren Namen, wollte sie in Versuchung führen, während sie den schweren Schlüssel im Schloss drehte.
Das hallende Klacken ihrer Stiefel war ihr einziger Begleiter auf ihrem vertrauten Weg durch die verlassenen Korridore, bis sie schließlich die Zellen erreichte. Sie atmete tief durch, sammelte ihre Kräfte, bevor sie die Tür zum Trakt ebenfalls aufschloss und eintrat.
"Ich bin zurück," seufzte sie, legte die Hände gegen die kalten Gitterstäbe, "Meine Kinder."
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