Kapitel 5
JUNIS
𝕯er letzte Schluck schmeckte scheußlich.
Zur gleichen Zeit bitter, viel zu süß, und, als wäre irgendetwas in der Flasche verrottet. Dabei hatte Junis sich deren Geruchs- und Geschmackssinn schon weitgehend zerstört.
Dey rümpfte die Nase und warf die zweite kleine Flasche 5-Stunden-Energy des Tages in den Müll. Ihre Artgenossen, die sich dort häuften, waren der erschlagende Beweis, wie wenig der verlockende Neon-Schriftzug auf der Verpackung der Wahrheit entsprach. Tatsächlich war Junis schon froh, wenn dieses Zeug deren Augen eine gute weitere Stunde offen hielt.
"Das kann doch wirklich nicht gesund sein," kommentierte Vivien kopfschüttelnd, während sie ihren Gürtel auszog und auf dem Küchentresen ablegte.
"Gesünder als 'n Speedball, würd ich sagen," gab Junis nüchtern zurück.
Noch ein paar Millimeter, und Viviens Kinnlade wäre wahrscheinlich durch den Holzboden gekracht. "Oh! - Sorry, ich-!"
"Das war ein Witz, Viv," grinste dey. "Du darfst lachen."
Vivien starrte nur weiter, als hätte sie einen Geist gesehen, und Cam schüttelte offenbar wenig begeistert den Kopf.
Ausgerechnet Izaiah erbarmte sich schließlich zu einem halbherzigen Lachen, bevor er weiter mit der Kaffeemaschine kämpfte, die schon seit Tagen morgens zu würfeln schien, ob sie heute funktionieren wollte. Und er hatte wohl am ehesten noch einen Grund, das nicht witzig zu finden.
Konnte hier denn sonst niemand mehr wahre Comedy wertschätzen?
Mit einem Seufzen wandte dey sich wieder dem Sofatisch zu und spürte, wie deren Augen bei diesem Anblick schon wieder zuzufallen drohten. Der hohe Turm von Ordnern und ungelesenen Mappen neigte sich schon gefährlich nach links. Und das waren ja nur die Teile der Recherche aus Institutionen, die sich noch im Mittelalter und Digitalisierung für Hexenwerk zu befinden schienen.
Resigniert ließ dey sich wieder aufs Sofa fallen und klappte den Laptop auf. Die schier englos lange Liste von Opfern - Menschen und Vampire - hatte sich noch immer nicht von selbst abgearbeitet. Hades nahm das wohl als Zeichen, denn er kam sofort angetappt und schob den Kopf auf Junis' Schoß. Sein warmes Gewicht machte müder als jede Schlaftablette.
Junis blinzelte. ...Nur eine Line, das würde demm ganz sicher wach machen. Eine klitzekleine...?
Nein. Dey war ja nicht völlig bescheuert. Alles, wofür sich diese Methode als nützlich erwiesen hatte, war, so schnell und irreversibel wie möglich die hochbegehrte Stelle beim FBI und das makellose Ansehen loszuwerden und nun einmal wöchentlich in einen kleinen Plastikbecher pinkeln zu müssen, wenn dey Job und Wohnung behalten wollte.
Abram, Charlie. Student, notierte dey im Tab neben der Liste, in dem schon eine gut gefüllte Tabelle angelegt war. Universitätsbibliothek, vor einer Woche, 10 pm. Einer von drei Toten, Angreifer flüchtig, unbekannt. Weiß, 22, keine auffälligen Strafeinträge oder bekannten Erkrankungen.
Sogar Blinzeln schmerzte. Genervt schob dey die Brille hoch, um sich die tränenden Augen zu reiben.
"Du solltest schlafen," murmelte Moth. Er saß auf dem anderen Sofa und rührte lustlos in dem Becher Instant Ramen, den Cam ihm vorgesetzt hatte, ohne Widerworte zu akzeptieren.
"Du kennst mich, Grünschnabel. Hör du lieber auf Mama Ruiz und iss auf, sonst regnet's morgen."
Er saß nahe genug, dass dey seinem Bein mit dem Knie einen kleinen Schubs geben konnte. Moth lächelte nur matt und schüttelte leicht den Kopf. "Ich weiß schon, du kannst schlafen, wenn du tot bist..."
"Du sagst es."
So hatte es damals auch angefangen. Eine durchgemachte Nacht nach der anderen, und schließlich nur eine kleine Line, nur ein einziges Mal, weil dieser Fall wirklich wichtig war und den Ermittlern die Zeit davonlief. Allerdings war der nächste Fall auch wirklich wichtig, und danach hatte Junis' Vorgesetzter so begeistert betont, dass sie ihn ganz allein mit deren Hilfe in Rekordschnelle lösen konnten.
Und irgendwie war es doch auch eine ganz nette Abwechslung, wenn das nagende Flüstern im Hinterkopf, "Hast du das hier wirklich verdient? Was denkst du, wie lang kannst du sie noch täuschen, bis alle merken, dass du gar nicht gut genug für diesen Job bist?", zumindest für den Moment von "FICKT EUCH ALLE, ICH BIN EIN GOTTVERDAMMTES GENIE!!" übertönt wurde.
-Ray, Colin (Vampir), fuhr dey fort, entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen, und blätterte durch die Seiten einer Fallakte. Getötet nach Angriff auf Türsteherin (>Brown, Leslie) eines Nachtclubs (>3493 Valley Rd) vor fünf Tagen. Opfer derzeit hospitalisiert, Zustand instabil. Browns Kollegen: Ray high? Nicht bei Sinnen. Sechs Tage zuvor von Lebensgefährte vermisst gemeldet, nach Besuch in Club (>194 Charleston Blvd) nicht nach Hause zurückgekehrt. Weiß, 31, keine auffälligen Strafeinträge oder bekannten Erkrankungen.
Nur eine Line hatte schnell ihre Wirkung verloren, doch wie viel konnte eine zweite schon schaden? ...Und ein bisschen Dope, um den Crash abzudämpfen.
Und dann fand die Putzkraft demm, reglos zusammengesackt in deren Bürostuhl, die Lippen schon blau. So konnte dey es zumindest nach sechseinhalb Minuten Reanimation selbst in der Akte nachlesen.
Junis schüttelte den Schauer ab, der bei dem Gedanken deren Rücken herunterrann. Hades öffnete nur kurz die Augen, um fragend aufzusehen, war aber offenbar zu faul, den Kopf zu heben.
"Alles gut," murmelte dey und kraulte ihn hinter den Ohren.
Die nächste Spalte. Brown, Leslie. Die meisten Daten konnte dey aus der Spalte darüber kopieren. Afroamerikanerin, 44, keine auffälligen Strafeinträge. Laut Versicherung zuvor in onkologischer Behandlung.
Deren Hand wanderte zur linken Tasche der braun-weiß karierten dünnen Flanelljacke, in der dey praktisch lebte. Zwei weitere Exemplare davon garantierten, dass dey sie mit einer routinierten Waschrotation wirklich täglich tragen konnte. Und immer waren in der linken Jackentasche exakt fünf Dinge: Ein kleiner Notizblock, ein heruntergespitzter Rest eines Bleistifts, ein Leckerli für Hades. Ein NA-Chip mit einem ziemlich kitschigen Zitat, der demm mittlerweile schon 18 Monate Nüchternheit attestierte, und ein ziemlich mitgenommener, doch säuberlich gefalteter kleiner Zeitungsschnipsel. Behutsam entfaltete Junis ihn.
Die erste unabhängige Einheit zur Ermittlung in übernatürlichen Verbrechen in den USA sucht Verstärkung. Erfahrung in diesem oder ähnlichen Feldern erwünscht, aber kein Muss. Überzeugen Sie uns in einem persönlichen Gespräch von Ihrem Talent! Interessenten melden sich bitte bei Ruiz & Park unter folgender Adresse:
Wenn Junis ehrlich war, dann erinnerte dey sich kaum an das Gespräch, das folgte, nachdem dey vor fünf Jahren über diese Anzeige gestolpert war. Nur daran, wie dey auf einem unbequemen Stuhl herumgerutscht war und versucht hatte, sich nicht auf Camille Ruiz' teure Schuhe zu übergeben, während ein bunter Cocktail von Drogen durch deren Adern rauschte.
Irgendetwas musste dey aber wohl getan haben, um sie und Viv zu beeindrucken, denn plötzlich hatte dey wieder einen Job, eine bezahlte Wohnung in diesem ausgebauten Anhänger und einen anhänglichen Dobermann-Welpen, den die beiden Agents vor ein paar Wochen bei einem Einsatz ausgesetzt gefunden hatten. Alles unter der einzigen Bedingung, dass dey sich nachweislich bemühte, clean zu werden.
"Ich bin stolz auf dich, June," seufzte Izaiah, als er sich zu demm aufs Sofa fallen ließ und sich ausgiebig streckte, bevor Hades schon seine Streicheleinheiten einforderte. "Wirklich. Hab ich dir das schon mal gesagt?"
Junis steckte den Chip und den Zeitungsausschnitt wieder zurück in die Jackentasche. "Nur letzte Woche. Und vorletzte. ... Und die davor. Kannst es ruhig öfter sagen," grinste dey und musste ein Gähnen unterdrücken. (Nur eine winzig kleine, mikroskopische Line? ... Ob er wohl immer noch so stolz wäre, könnte er Junis' Gedanken lesen?)
Wenn er es konnte, dann ließ er es sich wenigstens nicht anmerken. Stattdessen streckte er den Hals, um einen Blick auf den Laptop-Bildschirm werfen zu können, und sah Junis dann mit einer Mischung von Ekel und Entsetzen auf seinem Gesicht an. "Um Gottes Willen, was ist das?!"
"Das, lieber Izaiah, nennt man eine Tabelle."
Moth schnaubte leise.
"Ha ha, witzig," erwiderte Izaiah trocken und verengte die Augen, kroch fast in den Bildschirm hinein. "Kein Wunder, dass deine Brillengläser ungefähr so dick wie der Boden von 'ner Colaflasche sind, bei der Schriftgröße..."
"Ich hab eben gern alles im Überblick," verteidigte Junis sich. "Obwohl das erst Seite zwei von fünf ist. ...Das hier ist die Liste aller uns bekannten Opfer, und in dem Fenster hier kann ich in den digitalen Akten nachlesen, den Rest habe ich analog hier liegen. Und in der Tabelle sortiere ich alles chronologisch nach dem Zeitpunkt des Geschehens, mit allen relevanten Details, die ich finden kann. Irgendwo muss ein Muster sein."
Demonstrativ trug dey den nächsten Fall ein. Hunter, Loraine (Vampir). Alter unbekannt. Vor sieben Tagen inhaftiert: Blutbeschmierte Kleidung, aggressiv. Aktuell keine Opfer identifiziert. In Gewahrsam verstorben, zuvor undeutliche Aussagen über einen Nachtclub (?).
"Ich glaube, ich hab mir gerade das Gehirn gebrochen..." Verständnislos schüttelte Izaiah den Kopf, dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück und schloss die Augen. "Du bist so ein Freak."
"Ein Freak, ohne den wir die Hälfte unserer Fälle nicht gelöst hätten," konterte Junis. Sollte das demm doch zum Freak machen, aber das war es, was dey wirklich liebte. Daten ausgraben, sortieren, vergleichen, Muster finden, die niemandem sonst auffallen würden, die unsichtbaren Fäden entdecken, die alles irgendwo miteinander verknüpften. Da gab es nur ein winziges Problem: In diesem Fall wollte es demm einfach nicht gelingen. "Ethnie, Altersgruppe, Status... Alles völlig willkürlich. Ich kann einfach keine relevanten Gemeinsamkeiten finden," seufzte dey frustriert.
"Eine Freundin von Ruby hat mit uns gesprochen." Cam fielen die langen, dunklen Haare vor die Augen, als sie sich über die Sofalehne beugte, um Junis auch über die Schulter zu sehen. Mit einem Seufzen band sie sie in einem lockeren Pferdeschwanz zurück, wobei Preston sie offenbar besonders interessiert beobachtete. "Iss was, Moth. Bis du wieder fit bist, lass ich dich nicht auf Einsätze mitkommen."
"Ich bin wieder fit..."
"So siehst du schon aus, Nosferatu," erwiderte Izaiah und musste nicht einmal die Augen öffnen, um zielsicher den Arm auszustrecken und ihm die Haare zu zerzausen. Moth murrte seinen Protest durch eine Mundvoll Ramen.
Den Umständen entsprechend sah er eigentlich wirklich fit aus. Hätte Junis ihn nicht vorher gekannt und wäre da nicht der Verband, würde dey ganz sicher nicht einmal ahnen, was ihm vor zwei Tagen geschehen war. Das half Junis allerdings auch überhaupt nicht dabei, es als Realität zu akzeptieren. Es fühlte sich eher an wie ein schlechter Scherz. Cam hatte vorhin eine gute Stunde lang mit der Versicherung diskutiert, ob es als Unfall mit Todesfolge eingeordnet werden sollte, und es hätte genau so gut eine Szene aus einer schlechten Sitcom sein können.
Mit einem Kopfschütteln zwang dey deren Gedanken wieder auf die Tabelle und ließ deren Programme durch die Datenbanken laufen. "Hawthorn, Ruby, Vampir. Lateinamerikanerin, 19. Getötet vorletzte Nacht nach Angriff auf einen Agenten. Siehe Timothy Delgado," las dey beim Eintragen laut vor und Moth verzog kurz das Gesicht. "Sieht aus, als hätte sie einzelne Strafeinträge wegen... kleinen Diebstählen, aber nichts wirklich Relevantes. Zeigt Symptome seit etwa neun Tagen, wenn man der Nachbarin glauben kann."
"Die Freundin gab an, sie hätte sie in der Nacht von Montag auf Dienstag noch getroffen," ergänzte Cam und schlurfte zur Kaffeemaschine, um die letzten Tropfen aus der Kanne zu schütteln. "Sie hätten zusammen einen Nachtclub besucht, doch seitdem hätte sie nicht mehr auf Nachrichten und Anrufe geantwortet."
Junis nickte brav und auch diese Information fand ihren Platz in der Tabelle. "Okay..." Oh, das fühlte sich wirklich seltsam an. "...Delgado, Timothy. Lateinamerikaner, 22. Agent. ...Vampir."
"Warte!" Moths Kopf schnellte nach oben. "Warte, Junis. Ich kann meine Daten doch selbst eintragen. Du brauchst eine Pause."
"Danke, aber ich muss das selbst machen, wirklich." ...Schön, vielleicht war es auch etwas Neugier, die Junis antrieb. Dey wusste, dass er in Pflegefamilien aufgewachsen war, bis Sahra ihn legal adoptieren durfte, und dass er um ein Haar als Jahrgangsbester die High School abgeschlossen hätte, doch das war es schon. Er sprach nicht viel über sich, und wenn Junis etwas nicht aushalten konnte, dann war es Wissen, das zum Greifen nahe war.
Junis' Finger flogen so schnell über die Tastatur, um die Daten einzugeben, dass dey es schon gar nicht mehr richtig merkte. Etwas anderes merkte Junis aber sehr wohl: Moth starrte demm völlig versteinert vor Anspannung an. Dey musste schmunzeln. Welche kleinen Jugendsünden wollte er so dringend geheim halten? Er konnte doch keiner Fliege etwas zu leide tun. Hatte er Angst, sie würden ihn für Vandalismus oder Alkoholkonsum als Minderjähriger aus dem Team werfen?
Das kleine Rädchen auf dem Bildschirm drehte sich endlos, so lang Junis' Programme sich durch die Datenbanken arbeiteten und die Details seines Lebens ausgruben.
"Junis-"
Schweigend sah dey vom Bildschirm auf in Moths weite Augen und wieder zurück auf den Bildschirm.
Moth schlug den Laptop zu, doch nicht schnell genug. Junis hatte diese eine Zeile der Ergebnisse schon längst gelesen.
"Was ist?", fragte Cam, verwirrt von der plötzlichen Stille.
Eine zwölf Jahre alte, versiegelte Strafakte.
Moths Blick sagte mehr als tausend Worte. Sprachlos klappte Junis den Laptop wieder auf und löschte den Text der Ergebnisse, bevor noch jemand anderes sie sah. "Äh..." Dey räusperte sich. "Also... Der Nachtclub. Den Rubys Freundin erwähnt hatte. Wusste sie die Adresse noch?"
Mit einem Stirnrunzeln sah Cam durch ihre Notizen. Junis hätte es nicht überrascht, wenn sie ihre eigene Handschrift nicht lesen konnte. "...Hier. 194 Charleston Boulevard. Warum?"
"Nur für die Vollst- Oh." Die Puzzleteile in Junis' Kopf fügten sich mit einem lauten "Klick!" zusammen. Das war das wundervollste Geräusch auf diesem Planeten.
"...Oh?"
"Oh." Junis konnte nicht anders, als triumphant zu grinsen und gab Izaiah, der schon zu dösen schien, einen Stoß in die Rippen. Hades grummelte mit ihm, empört über die Störung. "Charleston Boulevard. Ich komm wohl besser nicht mit, aber ich glaube, ihr solltet diesem Club unbedingt mal einen Besuch abstatten."
☾
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro