Kapitel 10
TIMOTHY
𝕾eit drei Stunden hatte Izaiah kein Wort mit ihm gesprochen.
Seit einer halben war Timothy schon überzeugt, dass er das keine Sekunde länger aushalten könnte. Immer wieder warf er einen verstohlenen Blick zu ihm, hoffte jedes Mal, dass ihre Blicke sich trafen und Izaiah ihm wieder das ihm so vertraute kleine schiefe Lächeln zuwerfen würde.
"Das ist wirklich interessant," sagte Doctor Everett zum fünften oder vielleicht sechsten Mal, und beugte sich wieder über sein Mikroskop, schob die Probe ein wenig umher und schüttelte fasziniert den Kopf.
"Ich kann es spüren," fügte seine Praktikantin an, die daneben weitere Objektträger vorbereitete, beschriftete und alles sorgfältig protokollierte, während Junis unaufhaltsam auf dem Laptop tippte und parallel hektisch in einem Notizblock kritzelte. "Etwas Düsteres steckt in dieser Substanz, etwas schrecklich Düsteres."
Auch Timothy spürte etwas, eine eiskalte, dornige Ranke der Sorge, die sich durch seine Eingeweide schlängelte und ihm im Hals steckenblieb, doch daran war nicht das Gift schuld. Hier konnte es ihm wenig anhaben.
Es war, als hätte er sich für alle einfach in Luft aufgelöst, sobald die Türen des Krankenwagens hinter Camille zugefallen waren.
Er scharrte mit den Füßen, kreuzte und entkreuzte die Arme, hoffte wenigstens, jemand würde aus dem Augenwinkel auf die Bewegung aufmerksam werden. Vivien saß auf einem Schreibtischstuhl in einer Ecke des Labors, die Beine über die Lehne geworfen und das Kinn auf die Brust gesunken. Sie schien zu schlafen, jedenfalls reagierte sie nicht, als er ihre Jacke über ihr ausbreitete, um sie zuzudecken. Junis sah nicht von deren Notizen auf.
Und Izaiah würdigte ihn keines Blicks. Die Miene in Stein gemeißelt und die Arme vor der Brust verschränkt, die linke Hand schützend über den blutigen Verband um seinen Bizeps gelegt, sah er starr Everett zu.
Er war wütend auf ihn. Natürlich waren sie alle wütend auf ihn.
Timothy hatte Joanne in dieses Haus stürmen lassen, hatte sie nicht aufhalten können. Er hatte zu lang gezögert. Schließlich hatte er sie gar nicht wirklich aufhalten wollen.
Warum auch? Cam war allein und sicher verletzt in diesem Apartment, umzingelt von denen, die offenbar hinter den Attacken steckten. Was ihn betraf, er hatte keinen Grund gesehen, warum sie es nicht verdienten, Joannes Wut ausgeliefert zu sein.
Aber Izaiah hatte es befohlen, Cam hatte es ihnen allen befohlen. Und er hatte sich widersetzt. Er hatte bewiesen, dass er kein Teammitglied war, auf das man sich bedingungslos verlassen konnte. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis sie alle realisierten, dass so ein Agent dem Team nichts nützte.
Er schluckte. Das FBI oder die Polizei würden ihn mit seiner Akte nicht annehmen, dessen war er sich natürlich schon immer bewusst gewesen, und überhaupt wollte er dieses Team doch gar nicht verlieren. In nur drei Jahren waren diese Menschen ihm so vertraut geworden, wie es sonst nur Sahra war. Aber in diesen wenigen Sekunden des Zögerns hatte er seinen Teil der Entscheidung getroffen, der Rest lag wohl oder übel in Camille und Viviens Händen.
Egal, was er auch tat, am Ende würde er wohl irgendwann immer feststellen, dass er doch immer noch der gleiche, unbelehrbare kleine Junge war, dem es aus irgendeinem Grund immer gelang, alles Gute, das man ihm gab, zu ruinieren. Gott, warum konnte er nicht einfach gehorchen, warum fand er einfach immer einen Weg, die Menschen um ihn herum zu verärgern? Sie konnten ihm ihre Lektionen einprügeln, er selbst sich noch viel härter bestrafen als sie alle, und doch würde er es wohl nie lernen.
Mit einem Mal fiel ihm auf, dass er seit Monaten nicht mehr auch nur an die schmale Rasierklinge in seiner Handyhülle gedacht hatte, die nun zu ihm sang, und dass die letzte Wunde auf seinem Oberschenkel schon Jahre verheilt war. Doch mit jedem weiteren Gedanken wand sich der Knoten von Dornenranken in seinen Eingeweiden enger, schrie danach, locker geschnitten zu werden.
Als Everett für sie alle eine kurze Pause anordnete, stand er vor den Toiletten des Labors, bevor er es überhaupt richtig realisierte, und starrte auf sein Handy herab. Eigentlich hatte er Sahra ja geschworen, er würde sofort anrufen, bevor die Anspannung ihn jemals wieder so weit treiben konnte, doch er wollte überhaupt nicht, dass sie versuchte, es ihm auszureden.
Entweder du ziehst es jetzt durch, oder du stehst weiter dumm hier rum, damit dich am besten noch jemand erwischt, sagte er seinem ratlosen Spiegelbild, das ihm von dem dunklen Display aus entgegenstarrte. Ist beides erbärmlich. Du müsstest es ja gar nicht machen, wenn du deine Lektion irgendwann mal lernen würdest.
Sein Herz pochte in seiner Kehle, eine riesige, wilde Masse drückte von innen gegen seinen Brustkorb und wollte ausbrechen, als er die Tür aufschob - Und Izaiah entdeckte, der an der Wand neben dem Waschbecken lehnte.
"Dieses elendige Mistding," presste dieser zwischen den Zähnen hervor und zerrte an der blutigen Mullbinde, die an seinem Arm haftete. "Hilf mir mal," sagte er, ohne den Blick zu heben.
Hektisch schob er das Handy in die Hosentasche, griff so viele Papierhandtücher, wie er konnte und hielt sie unter den Wasserhahn, um sie dann gegen den Verband zu pressen.
Er hatte mit ihm gesprochen. Er hatte mit ihm gesprochen, und wenn nur aus Notwendigkeit. Das war seine Chance, ihm zu zeigen, wie leid es ihm tat, um es wieder gut zu machen.
"Es geht leichter, wenn du ihn vorher nass machst," sagte er, bemüht munter, um die Stille zu füllen. Nach einigen Momenten konnte er so tatsächlich den Schnitt quer über Izaiahs Bizeps freilegen, den er sich mit dem Versuch, Joanne aufzuhalten, verdient hatte. Allerdings hatte Izaiah wie immer darauf bestanden, dass sich das kein Sanitäter ansehen musste, und es lieber selbst versorgt. Wie man sah.
"Tut es weh?"
Izaiah brummte nur etwas, das wohl eine Antwort sein sollte.
Mit einem Kopfschütteln suchte Timothy durch das kleine Verbandstäschchen, das Izaiah sich mittlerweile zugelegt hatte. So vorsichtig wie möglich positionierte er die Hände auf seinem Arm, drückte die Ränder der Wunde zusammen, und platzierte einige schmale Klebestreifen darüber, die sie so an Ort und Stelle hielten.
Eine Gänsehaut wanderte Izaiahs Arm herab. Über die warme Haut, die sich über feste Muskeln spannte, die so betörend nach ihm roch... Er musste sich konzentrieren, verdammt.
"...Du hast kalte Hände," murmelte Izaiah, als er seinen Blick bemerkte.
Er hatte ihn angesehen, sogar ein wenig geschmunzelt.
"Du hast Joanne gehört, uns Untoten ist immer etwas kälter," erwiderte er schnell, und bereute es im nächsten Moment. Izaiahs Blick verdunklte sich ganz subtil und wandte sich wieder ab. Toll, jetzt hatte er ihn wieder an Joanne erinnert. Was für eine Glanzleistung.
Er schluckte. Am besten brachte er es einfach hinter sich. "...Es tut mir leid."
Izaiah schnaubte leise. "Was tut dir leid?"
Wieder schluckte er. Es war, als würde Diego jetzt vor ihm stehen. Genau das hatte er auch immer gefragt.
"Dass ich zugelassen habe, dass Joanne in dieses Haus geht, weil ich nicht schnell genug reagiert habe."
Izaiah sah auf und er auf den Boden.
"...Was?"
Und jetzt tat er so, als hätte er ihn nicht verstanden. Manchmal hatte Diego die großen, eiskalten Hände um seinen Hals gelegt und immer fester zugedrückt, ihn aufgezogen, er könnte ihn nicht verstehen, und sein nach Blut und Alkohol stinkender Atem war heiß gegen seine Wange geschlagen, als er lachte.
...Er hoffte nur, Izaiah würde ihn nicht würgen. Alles andere war ihm recht, nur bitte, bitte nicht das.
Er räusperte sich, doch die Dornenranke in seiner Kehle drohte, ihn zu ersticken. "Es tut mir leid," wiederholte er laut und deutlich. "Dass ich versagt habe, deinen und Cams Befehl auszuführen und Joanne deswegen in das Haus gelangen konnte. Das hat uns wichtige Verdächtige gekostet und du bist deswegen verletzt."
"Moth, schau mich an."
Das- Das war einfach gemein. Nicht einmal Diego hatte solche Spielchen gespielt. Immerhin war er nicht völlig unbelehrbar. Wenn er eine von Diegos Lektionen schnell verstanden hatte, dann die, dass er den Blick zu senken hatte, wenn jemand mit ihm sprach, den er respektieren sollte.
...Doch was war jetzt respektloser? Ihm in die Augen zu sehen oder seine direkte Anweisung - schon wieder - zu missachten?
Gerade hatte er die Konsequenzen gegeneinander abgewogen, als Izaiah ihm die Wahl abnahm und mit zwei Fingern selbst sein Kinn anhob. Die Berührung war bei weitem nicht so grob, wie er sie erwartet hatte, doch er bildete sich nichts darauf ein. So konnte er nur Kraft sparen für den Moment, in dem er dann plötzlich doch zuschlug.
Izaiahs dunkelgrüne Augen zogen ihn aus. Lederjacke und löchrige, ausgeblichene Jeans, Tshirt und Unterhose. Epidermis, Dermis, Subcutis. Sein Blick schnitt geübt und flink Fett, Bindegewebe und Muskel weg, legte seine Knochen frei und höhlte sie aus, bis ihm das Innerste seines Innersten auf der Silberplatte präsentiert war, so dass er darin herumstochern konnte, wie es ihm beliebte.
"Wann hast du das letzte Mal was getrunken?", fragte er schließlich leise.
Bis genau zu diesem Moment hatte er semi-erfolgreich alle Gedanken an den Durst verdrängt, der schon den ganzen Tag an seinem Unterbewusstsein nagte. "Donnerstag," murmelte er ehrlich, ließ den Blick immer wieder lieber über Izaiahs Sommersprossen und den roten Bartschatten über seinem Kinn gleiten, statt ihm weiter in die Augen zu sehen. "Joanne hatte mir eine Konserve mitgebracht, aber wo soll ich jetzt eine neue besorgen, die nicht vielleicht vergiftet ist?"
"Und wenn du meins trinkst?"
Sprachlos starrte er ihn an. Vielleicht träumte er ja schon. "...Was?"
"Mein Blut. Du brauchst offensichtlich welches." Demonstrativ äugte er ihn erneut. Schenkte ihm ein kleines schiefes Lächeln. Timothys Herz machte einen Sprung. "Und ich hab noch genug. ...Hey, es muss nicht komisch sein. Ist doch eigentlich nur, als würde ich dir mal wieder ein Mittagessen ausgeben. Nicht mehr und nicht weniger, okay?"
Nicht okay. Was, wenn Timothy doch wollte, dass es komisch war? Mehr als nur ein Freundschaftsdienst.
Trotzdem, beinahe hätte er das Angebot angenommen, immerhin war es ein großer Schritt in die richtige Richtung... Bis er wieder zu Verstand kam.
"Das geht nicht," murmelte er. "Das kann ich nicht."
"Warum?", fragte Izaiah mit einem leichten Schmunzeln. "Wir können auch no homo sagen, wenn du willst. Und die Socken anlassen."
Er mühte sich um ein eigenes mattes Lächeln ab. "Danke, aber das musst du nicht machen."
Wieder musterte er ihn genauestens. "Mir macht es nichts aus. Wovor hast du Angst?"
"Dass..." Die Worte stolperten aus Timothys Mund, bevor er es ihnen erlaubt hatte. "Dass ich zu weit gehe. Wie mein Stiefvater." Stur hielt er den Blick auf die scharrenden Füße gerichtet.
"Dein Stiefvater war ein Vampir?", fragte Izaiah überrascht.
"Er hat... meine Mutter- Er hat meine Mutter getötet."
"War er es?"
Vor Verwirrung sah er sogar wieder auf. "War er was?"
Izaiah seufzte. "Ich weiß, in solchen theoretischen Dingen stelle ich mich manchmal ziemlich dumm an-"
"Du bist nicht dumm," erwiderte Timothy sofort, doch er hob nur abwehrend die Hand.
"Aber ich muss nicht Joanne sein, um dich lesen zu können. Ich verstehe schon, warum du bist, wie du eben bist. Wie ein nasser kleiner Hundewelpe, den Cam aus irgendeinem Karton an der Straßenecke gezogen hat. ...Jemand hat dir weh getan, als du klein warst. Was hat er getan, dich verprügelt?"
Timothy nahm einen tiefen Atemzug nach dem anderen, während sich Scham und Erleichterung in seinem Kopf einen verbitterten Kampf lieferten. "Meine Mamá. Und uns, wenn wir uns eingemischt oder ihn genervt haben. Sahra war mir immer so böse, aber irgendwann habe ich es wenigstens hingekriegt, dass er es an mir und nicht mehr an ihr ausgelassen hat."
Izaiahs Kiefer malmten. "Und er hat deine Mom umgebracht?"
"Er hat ihr Blut getrunken. Jahrelang. Er hat sie völlig ausgesaugt, und all ihre Stärke und Freude gleich mit. Und dann- dann ist er einmal zu weit gegangen, hat einfach nicht aufgehört..." Bis sie sich nicht mehr gewehrt hatte, bis Mamás dunkle Haut grau war und sie ganz still in seinen Armen hing...
Einen unerträglich langen Moment schwieg Izaiah. "Wo wohnt er gerade?", fragte er dann, die Stimme täuschend ruhig.
"Er ist tot," antwortete Timothy, wagte einen flüchtigen Blick in seine Augen und hoffte, er würde verstehen. "Jemand ist dir zuvorgekommen."
"Oh... Oh, fuck," zischte Izaiah plötzlich, und schlug mit der Faust auf den Waschbeckenrand. Timothy starrte auf seine Schuhe. "Du bist der verdammte Freund."
"Welcher Freund?", fragte er leise.
"Du bist der gottverdammte Freund, oh Gott..."
"Izaiah, welcher Freund?!" Was zur Hölle meinte er damit?
Plötzlich schüttelte Izaiah den Kopf und schien sich zu sammeln. "-Egal. Hey. Hey, ich bin nicht wütend auf dich, okay? Ich bin... wütend für dich. Es ist nicht fair, was dir passiert ist. Mann, das Schicksal meint's echt nicht gut mit dir."
Ruhig griff Izaiah nach seinem Handgelenk, rieb mit dem warmen Daumen kleine Kreise in seine Haut. "Ehrlich. Die Sache mit Joanne war doch nicht deine Schuld. Ich bin dir dafür nicht böse. Niemand ist das."
Still ließ er die Worte wieder und wieder in seinem Kopf abspielen. Irgendwann würde er sie sicher glauben können.
"Ich würde dir niemals weh tun," fuhr Izaiah fort. "Und deswegen weiß ich, dass du es auch nie tun würdest."
Wieder bot er ihm sein Handgelenk an, und Timothy konnte das grünliche Schimmern der Adern unter der warmen, mit Sommersprossen gesprenkelten Haut sehen, erkannte sogar ihr reges Pulsieren. Seine Zunge glitt seine mittlerweile gefährlich spitzen Eckzähne entlang, die wahnsinnige Blitze von Schmerz durch seinen ganzen Kiefer schickten.
Er schluckte. Izaiah hatte ja recht, er brauchte es, er konnte doch selbst spüren, wie seine Energie dahinrann, wie seine Uhr langsam ablief. Nur ein wenig, nur ein kleiner Schluck, um sie zurückzusetzen...
Mit einem Ruck riss er den Blick los, zog stattdessen seinen Revolver aus dem Holster. Seine Hände zitterten, und bei so vielen Gründen konnte er sich gar nicht wirklich festlegen, woran genau es lag, doch er spannte den Hahn, presste die Mündung gegen seinen Brustkorb, direkt über sein wie verrückt pochendes Herz. Dann nahm er Izaiahs andere Hand, positionierte seine Finger auf dem Abzug.
"Wenn ich nicht aufhöre, wenn ich die Kontrolle verliere..."
"Okay," sagte Izaiah nur leise.
"Und du bist wirklich sicher, dass-"
"Es ist okay, Moth."
Eine Hand ließ er um Izaiahs rechten Ellenbogen geschlossen, stellte sicher, dass er den Revolver an Ort und Stelle hielt, mit der anderen griff er zaghaft nach seinem linken Handgelenk. Es fühlte sich an wie die wildesten seiner Träume, als er langsam den Kopf senkte, bis er die Wärme spüren konnte, die Izaiah ausstrahlte, bis er sein Blut durch seine Adern rauschen hörte. Durch die Adern, die nur noch Millimeter vor ihm verborgen lagen...
Sein warmer Geruch nebelte ihn ein, ein Chor von Izaiah, Izaiah, Izaiah verdrängte jeden anderen Gedanken in seinem Kopf.
Da war eine ganz besonders fleischige Stelle, kurz vor seiner Armbeuge, dort würde er keine Arterie verletzen... Bevor er überlegen konnte, wie genau solche Dinge liefen, übernahm sein Instinkt schon das Steuer. Seine Zähne sanken in das zarte Fleisch, ohne viel Widerstand.
Izaiah seufzte tief, sackte ein wenig gegen das Waschbecken.
Angst stach ihn. Hatte er ihm weh getan?
Er sah zu ihm auf, wollte den Kopf heben, doch Izaiahs warme Hand legte sich plötzlich in seinen Nacken. Er zog ihn näher an sich, strich mit den Fingern durch die kurzen Locken an seinem Hinterkopf.
Die Berührung sollte Alarmglocken in seinem Hirn auslösen, sollte eiskalte Panik in jede Faser seines Körpers senden, wie das erste - und letzte - Mal, dass Izaiah ihn dort angefasst hatte. Aber er drückte nicht zu, seine Finger legten sich nicht um seine Kehle. Fast glaubte er, es fühlte sich irgendwie sicher an...
"Ist okay, Moth," hörte er nur noch, als süßes, himmlisches Kupfer seinen Mund flutete und alles andere, unwichtige auf dieser Welt mit sich wegschwemmte.
—
"Es ist okay. Es ist okay, hab keine Angst!"
NEIN, wollte er schreien, doch kein Laut verließ seine Kehle. Er starrte nur nach oben in den Nachthimmel. Keine Sterne.
NICHTS IST OKAY, HÖR AUF!
"Ich beschütze dich, Timmy! Ich beschütze dich!"
Izaiah kniete über ihm, und wieder versenkte er die blutige Hand in seinem Hals, wieder spürte Moth, wie sein Griff sich um Adern schloss, um Muskeln und Sehnen, und wie er sie aus seiner Kehle hervorRISS-
HÖR AUF, HÖR AUF, ES TUT WEH, BITTE, HÖR DOCH AUF-
"Tim! Hey, Timmy, es ist alles gut! Wach auf!"
Sahras Bett war leer. Sie hockt neben ihm, eine Hand in seinem Nacken. Hektisch riss er sich aus der Berührung los und setzte sich auf.
"Du hast nur geträumt," sagte sie leise und zog seine Decke zurecht, genau so, wie sie es früher immer getan hatte. Im Düstern glänzten ihre Augen. "Schlaf weiter. Ich bin hier."
Er versuchte es wirklich, doch in dieser Nacht fand er keinen Schlaf mehr, auch mit dem Trost von Sahras dunkler Form im Bett an der anderen Wand des kleinen Zimmers.
Seinem Spiegelbild warf er nur einen flüchtigen Blick zu, als er am Morgen aus der Dusche stieg. Er sah gesund aus, er fühlte sich gesund, kräftig nach gestern Abend, doch irgendetwas erweckte die Dornenranke von Sorge in seinen Eingeweiden dennoch zum Leben, und es waren nicht die lauernden Erinnerunge an den Traum.
Als er in die Küche kam, stand Sahra gerade am Herd und schaufelte Spiegeleier aus der Pfanne auf ihren Teller.
"Kein Appetit," erwiderte er ehrlich auf ihren fragenden Blick.
"...Seit wann hast du wieder Albträume, Timothy?"
"Nicht lang." Seit mir ein Vampir in einer dunklen Gasse aufgelauert und mich umgebracht hat, dachte er, doch sagte nichts. Es schien ein sensibles Thema zu sein, für alle anderen mehr als für ihn.
Sahra schlang ihr Frühstück herunter, während sie auf dem Laptop konzentriert einen Beitrag überarbeitete.
"...Ich glaube, in unserem Fall suchen wir auch nach jemandem, der Erfahrung und Kontakte im Journalismus hat," sagte er schließlich, nachdem er sie eine Weile still beobachtet hatte. "Jemand, der Artikel gegen Vampire für ihre Wirksamkeit beurteilen und an verschiedene andere Zeitschriften weiterschicken kann. Haben Kollegen von dir vielleicht mal Andeutungen über so eine Quelle gemacht? Wie stellt man sowas am besten an?"
"Mein Verlag bemüht sich um eine möglichst neutrale Berichterstattung," antwortete Sahra, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. "Aber ich kann mich für dich mal umhören, wenn du möchtest."
Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr seine Sinne in den letzten Tagen abgestumpft waren, bis eine neue Dosis Blut sie wieder zu ihrer vollen Intensität zurückbrachte. Er sah jeden Riss auf ihren abgekauten Nägeln, sah die Stellen, an denen sich die Beschriftung ihrer Tastatur langsam aber sicher abnutzte. Oder die Tränen, die sie schnell wegblinzelte, als sie ihn schließlich doch ansah und ihr Blick an seiner Narbe hängen blieb.
"Mir geht's gut," sagte er und wusste selber, dass er sich mittlerweile wie eine kaputte Schallplatte anhörte.
"Du wolltest nicht, dass sie dich verwandeln, oder?", fragte sie leise.
Still schüttelte er den Kopf. "Aber sie haben es gemacht und ich nehme es ihnen nicht übel. Sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen und könnte dir bis in die Ewigkeit auf die Nerven gehen," grinste er.
Es klingelte an der Haustür.
"Ich muss los." Er schnappte sich seine Tasche, beugte sich zu ihr herunter, um sie wie immer zum Abschied auf den Scheitel zu küssen, als sie ihn in eine knochenbrechende Umarmung zog.
"Du hast das alles nicht verdient," murmelte sie irgendwo in seinen Brustkorb. "Es tut mir so leid, dass ich dich nicht beschützen konnte, Timmy."
—
"Du siehst blass aus," kam er Izaiah zuvor, als er zu ihm ins Auto stieg.
"Keinen Schimmer, woran das liegen könnte," erwiderte dieser grinsend.
"Aber du hast genug gegessen und getrunken? Tut es sehr weh?"
"Ich hatte ja einen charmanten Ersthelfer, der es mir direkt gut verbunden hat. Hab sogar meine Eisentabletten wieder rausgekramt, die mir mein Arzt vor Ewigkeiten mal verschrieben hat. Entspann dich, Mom." Er sah es schon kommen, bevor Izaiah sich seitlich über die Mittelkonsole lehnte, um ihm die Haare zu zerzausen. Nur aus Formalität tat er so, als wäre er genervt, während er den Spiegel herunterklappte und seine Frisur wieder zurechtzupfte.
Tatsächlich wusste er schon gar nicht mehr, wann er aufgehört hatte, die Spitznamen, die neckischen Kommentare, das Haare Zerzausen zu hassen. Hatte er das jemals getan? Mittlerweile hatte er jedenfalls angefangen, ihnen mit etwas wie Vorfreude entgegen zu blicken, den Spitznamen wie ein Ehrenzeichen zu tragen, ständig auf Izaiahs Hännde zu starren, die unaufhörlich in Bewegung waren, wenn er sprach, und sich auszumalen, er würde einfach den Kopf auf seinen Schoß schieben und ihnen etwas zu tun geben.
Ein plötzlicher Schmerz zuckte durch seinen Hals, als er den Kopf falsch bewegte.
"Alles gut?", fragte Izaiah.
"Mhm. Ist nur meine Narbe." Skeptisch tastete er das empfindliche Gewebe im Spiegel ab.
"Okay, Harry Potter...", erwiderte er belustigt, doch Timothy merkte ganz genau, dass er ihn im Blick behielt.
"...Ich hab noch nicht danke gesagt, für gestern." Er klappte den Spiegel wieder nach oben und griff sofort nach seiner Sonnenbrille. War die Sonne vorhin schon so schmerzhaft grell gewesen? "Danke."
"Ist doch das mindeste, was ich tun kann. Wenn ich schon... Wenn ich schon in der Nacht nicht da war. -Wirklich, ein einziges Mal komm ich nicht mit, und du machst es dir zur Aufgabe, unsere Unfallstatistik am Laufen zu halten? Und dann auch noch so spektakulär."
Timothy lächelte. "Du hättest sicher auch nicht viel mehr ausrichten können."
"Aber ich hätte gern eine Chance gehabt, Moth. Ich wäre lieber dort gewesen und hätte versagt, als mich jetzt zu fragen, wie es wohl ausgegangen wäre, wenn..."
"Es ist schon passiert. Wir können nichts mehr daran ändern. Also solltest du dich auch nicht mit solchen Gedanken herumquälen. Ich werde jetzt wohl oder übel damit leben müssen, und bis jetzt ist doch eigentlich alles ganz gut gegangen, oder nicht?"
"Ich wusste schon, dass du sowas sagst, du elendiger Optimist," grinste Izaiah. "Ehrlich. Ich hab es gern getan. Ich tu es gern wieder. Besonders für dich," fügte er mit einem Zwinkern an.
Besonders für dich... Das ging ihm den ganzen Rest der Fahrt nicht aus dem Kopf.
—
"Was. Zur. Hölle?", waren die ersten Worte aus Izaiahs Mund, als sie das Büro betraten.
Als Hades befand, dass ihre Gesichter gründlich genug abgeschleckt waren, tappste er zurück zum Team, das auf den beiden Sofas saß, und zu ihrem Gast. Auf einem Stuhl am Küchentresen saß eine junge Frau mit einem dunklen Kopftuch, die Hände und Füße gefesselt, und löste den vor Angst erstarrten Blick nicht von Joanne.
"Das ist doch-"
"Clubs," sagte Joanne mit einem Nicken.
Izaiah blinzelte überrascht. "Äh...Was macht der Kopf, Boss?"
"Bis vor etwa zehn Minuten ging's mir schon besser." Mit einer Hand presste Camille einen Kühlakku gegen ihre Schläfe, die Fingerkuppen der anderen gruben sich in ihren Oberschenkel. "Als ich sagte, lassen Sie sie nicht entkommen, meinte ich nicht, entführen Sie sie!"
"Also genau gesehen habe ich sie überhaupt nicht angerührt...", merkte Joanne mit einem Schulterzucken an.
"Irgendwelche dubiosen Freunde dafür anzuheuern, macht es nicht besser," presste Camille zwischen den Zähnen hervor. "Mord, Freiheitsberaubung, was kommt als nächstes? Noch irgendwelche tollen Ideen, was ich demnächst vor Gericht verteidigen darf? Wie soll das überhaupt jemals vor ein Gericht gehen, wenn wir nicht einen einzigen standhaften Beweis auf legalen Wegen bekommen?!"
"Viele Tote kommen als nächstes, Camille. Haben Sie wirklich geglaubt, ich will diesen Fall vor einem Gericht lösen? Ich will keine Richter, ich will Gerechtigkeit."
"Gerechtigkeit und Rache sind völlig unterschiedliche Dinge, Joanne!"
Während die beiden sich in ihre Diskussion hineinsteigerten, grinste Junis nur und winkte die anderen zu sich an den Kühlschrank. "Camille... Joanne...", wiederholte dey leise, während dey sich eine kalte Dose Energydrink öffnete. Das Zischen ließ einen unangenehmen Schauer Moths Rücken herablaufen.
"Sieht aus, als hatten die beiden eine lange Nacht," flüsterte Izaiah mit einem eigenen Grinsen.
"Ich kann Cams Parfüm an Joanne riechen," trug Moth zur Diskussion bei. Das konnte er wirklich, und es war schmerzhaft aufdringlich. Wie viele Liter davon hatte Cam denn aufgetragen?
"Cam ist nicht verkatert. Und normalerweise trägt sie den obersten Knopf von ihren Hemden immer offen." Vivien wackelte mit den Augenbrauen, während Moth nur still hoffte, dass ihr nicht auffiel, dass Izaiah heute lange Ärmel trug.
Selbst, als sie die Lästerrunde wieder auflösten, waren die beiden noch nicht fertig. Timothy wollte die Zeit nutzen, um Clubs gründlich zu mustern, doch das Licht blendete ihn plötzlich so sehr, dass er kaum noch etwas anderes erkennen konnte. Er rieb sich die Augen.
"Kopfschmerzen?", fragte Vivien, und er hatte kaum fertig genickt, bevor Cam ihm schon ein Glas Wasser und sie ihm eine Schmerztablette vorgesetzt hatte, die er nur zu eifrig nahm.
Die kurze Ablenkung schien auch Joannes Aufmerksamkeit wieder auf das eigentliche Thema zurückzulenken. "...Dir ist bewusst, dass dein Wissen das einzige ist, das dich am Leben hält?", fragte sie ihre Gefangene und ließ ihren Dolch aus dem Ärmel gleiten, um ihn in den Händen zu drehen. "Und du solltest langsam damit herausrücken. Wo sind deine Komplizen? Wo habt ihr euer Gift verteilt?"
Clubs starrte sie finster an, obwohl Angst aus jeder Pore ihres Körpers strömte. "Du hast meinen Freund umgebracht."
"Du hast Hunderte getötet," erwiderte Joanne. "Dafür werde ich dir noch viel schlimmeres antun als deinem Freund. Aber vielleicht erlöse ich dich irgendwann von deinen Qualen, wenn du uns erzählst, was du weißt."
"Ich kann euch nichts sagen, versteht das doch. Ich kenne meine verdammten Komplizen nicht."
"Und ich dachte, Hearts war dein Freund?"
"Ja, Hearts kannte ich. Hearts kannte ich gut. Er hat mich zur Silberfaust gebracht. Die anderen beiden hat nur er gekannt, und er ist tot."
"Für jede weitere Lüge schneide ich dir einen Finger ab," sagte Joanne und Clubs' Gesicht verlor die Farbe, doch ihre Mimik blieb starr. "Also sei sparsam, sonst wirst du bald Schwierigkeiten beim Giftmischen haben. Wo habt ihr das Gift verteilt?"
"Das haben wir anderen, niedrigeren Mitgliedern überlassen. Wir konnten doch nicht riskieren, dass wir verhaftet werden. Ich weiß die genauen Einsatzstellen nicht, aber unser Ziel war, so flächendeckend wie möglich."
"Um so viele wie möglich umzubringen." Joannes Augen würden vor Wut wohl bald in Flammen aufgehen.
"Ihr seid wütend auf die falsche! Ich hab das doch auch nicht so gewollt!", brach es aus Clubs hervor. Sie biss sich fest auf die Unterlippe. "...Ich kannte Hearts, weil wir zusammen studiert haben. Wir haben sogar zusammen zu Vampiren geforscht - Er zur Physiologie, ich zu magischen Hintergründen. Und dann- Dann haben sie Melissa umgebracht, seine Verlobte. Sie war schwanger, und er- Er ist komplett durchgedreht. Nicht mal eine Woche später hat er mich vor vollendete Tatsachen gestellt, mir einfach ein Gift präsentiert, das die Vampire ausrotten sollte, denn es baute auf all dem auf, was wir herausgefunden hatten, wie Vampire funktionieren. Und plötzlich steckte ich mitten in dieser Gruppe!"
"Und dass ihr damit nur noch mehr Menschen zu Opfern von Vampiren macht, das kam euch nie seltsam vor?", fragte Timothy leise.
"Es war eben nicht perfekt!", zischte Clubs."Er hat meine Recherche benutzt, aber er hat sie nie so verstanden wie ich, er hätte nie begreifen können. mit welcher Magie er da arbeitet. Er und Spades wollten unbedingt, dass wir es sofort einsetzen, egal wie oft ich gesagt habe, es ist noch nicht so weit- Es war ein komplizierter Prozess. Es musste effektiv sein, aber nicht zu schnell wirken, so dass man es nicht so leicht zurückverfolgen konnte und..."
"Oh, du Ärmste," giftete Joanne. "Mein tiefstes Mitleid."
"Ich habe doch daran gearbeitet, und in der Zwischenzeit, sagte Diamonds, muss man manchmal eben kleine Opfer bringen für das große Ziel. Eine Massenpanik über Vampirattacken hat unserer Sache schließlich auch nicht geschadet..."
Timothy blieb die Luft im Hals stecken, als hätte die Dornenranke sich doch noch entschieden, ihn zu ersticken. Er hustete, und konnte plötzlich nicht mehr damit aufhören. Unauffällig stand er auf, um sein Wasserglas aufzufüllen.
"Versteht ihr denn nicht?", fragte Clubs.
Das nächste Husten erschütterte seinen Körper gnadenlos, und er musste sich an der Wand abstützen, bevor er es überhaupt in die Küche geschafft hatte.
"Moth, alles gut?", hörte er Izaiah fragen.
"Ich habe doch versucht, den Schaden zu begrenzen, zu verhindern, dass sie weiter auf unschuldige Menschen losgehen. Mein ganzes Ziel war es, das Gift weiterzuentwickeln, damit es sie immer schneller tötet."
Er konnte nur auf das dunkle Blut starren, das seine Hand sprenkelte.
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