Kapitel 1
CAMILLE
𝖂ie konnte ein einziger Mensch nur so unglaublich viel Blut verlieren?
Ihre Jacke triefte schon davon, also musste Viviens jetzt dran glauben. Hätte sie die Hände bewegen können, dann hätte sie ihr Hemd ausgezogen und Timothy damit zugedeckt, denn ihr Agent zitterte am ganzen Körper, während der Nieselregen unaufhörlich auf sie herabsank. Seine Lippen waren blau.
"Augen auf," befahl sie, als sein Blick wieder abdriftete. "Sieh mich einfach an."
"Kalt." Er griff unbeholfen nach ihrem Arm.
"Ich weiß," antwortete sie. Adrenalin raste durch ihre Adern, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. So viel Blut. So, so viel Blut, wohin auch immer sie sah. Es war ganz heiß unter ihren Händen, klebte in ihrem Gesicht und sicher auch in den Haaren, die ihr vor die Augen fielen. Es durchnässte ihre Hose an den Knien, weil eine Lache davon sich unter Timothys Körper immer weiter über den Asphalt ausbreitete.
Wieder suchte Camille mit dem Blick die Straße ab. Verwahrloste Häuser schlossen sie auf beiden Seiten ein, kein Fenster, hinter dem Licht brannte, kein Passant, der von einer Party zur nächsten taumelte. Noch nie hatte sie eine Straße so menschenleer gesehen. Das war schließlich Vegas, gottverdammt nochmal-!
Ruhig bleiben. Sie musste. ruhig. bleiben.
Unsere Einheit wurde angefordert, um... In Einsätzen half es ihr, in Gedanken den Bericht vorzuschreiben, jede Handlung, jeden Befehl schon vorher zu beurteilen, zu rechtfertigen. Heute brachte sie kaum einen Satz zustande. Wir wollten den Sichtungen eines Vampirs mit unüblichem Verhalten nachgehen. Es-
"Tut weh," stöhnte Timothy. Er zitterte so heftig, dass es seinen ganzen Körper schüttelte.
"Ich weiß," sagte sie und drückte fester zu, stemmte all ihr Gewicht gegen ihre Hand und ignorierte seine Schmerzenslaute. Der Regen wurde immer stärker. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Er sah so jung aus, er war noch so jung, und Angst stand in jeden Zentimeter seines Gesichts geschrieben. Und wie er geschrien hatte. Gott, Camille hatte noch nie jemanden so schreien gehört. Sie wollte ihn an sich drücken, ihm durch die Haare streichen, ihm wenigstens sagen, alles werde wieder gut. Doch sie wusste, wenn sie die Finger nur Millimeter bewegte, würde sie bald nur noch eine Leiche in den Armen halten. "Ich weiß. Nicht reden, Moth. Ganz ruhig."
Meinem ersten Eindruck nach entsprach dieser Fall ganz dem Muster der Attacken der vergangenen Wochen-
"Cam," wimmerte Timothy und schob gegen ihren Arm. Sie bewegte sich nicht, sah zu, wie Tränen die Seiten seines Gesichts herab in seine Haare liefen. Spürte, wie sein Herz immer hektischer schlug, weil es immer mehr an Verlust ausgleichen musste. "Bitte. Bitte..."
"Ich weiß," sagte sie wieder. Viel lieber wollte sie selbst in Tränen ausbrechen und hyperventilieren, panisch schreiend die Straße auf und ab rennen, ihn packen und schütteln und anbrüllen, dass sie das nicht konnte, nicht nochmal!- Aber diese Einheit war ihre Verantwortung, ihre Verpflichtung, und eine gute Leitung verlor nicht die Fassung. Empathie und Distanz sollten stets miteinander abgewogen werden, das war eine der ersten Lektionen der Polizeiausbildung. Empathie und Distanz, Distanz und Empathie... Erst recht, wenn es jemanden aus den eigenen Reihen traf. Sie schluckte. "Es tut weh und dir ist kalt, ich weiß. Ich bin bei dir, okay? Ich gehe nirgendwo hin."
Seine Mundwinkel zuckten. "K-könntest ja auch gar nicht-..."
Camilles Magen drehte sich um. Sie konnte es spüren, die Vibration von Worten dort, wo sie Viviens Jacke gegen die klaffenden Wunden in seinem Hals presste. Wo sein ganzes Leben zwischen den Fingerspitzen ihrer rechten Hand lag, weil sie das einzige waren, dasden kleinen, aber so fatalen Riss in seiner Halsschlagader abdeckte. "Versuch- Versuch, nicht zu reden, ja? Bitte."
Schritte platschten über den mittlerweile nassen Asphalt, doch es war nur Vivien, die atemlos ihr Handy an sich drückte.
"Wie lange brauchen sie noch?", bellte sie ihr ungeduldig zu.
Vivien sackte kreidebleich rechts von Timothy zu Boden. "Sie- sie kommen nicht," sagte sie schließlich. "Er hat einfach gesagt, sie kommen nicht, und dann hat er aufgelegt. Mein Beileid, Miss, hat er gesagt, und- und einfach aufgelegt."
"Was? Was soll das heißen, sie kommen nicht?!"
"Sie- sie schicken keine Sanitäter mehr nach Attacken. Eigenschutz... Mein Beileid, hat er gesagt, mein Beileid. Einfach aufgelegt..."
Timothy wurde plötzlich sehr still. Er ließ die Hände sinken, und wieder fielen ihm die Augen zu. "Ich sterbe, oder?"
"Nein."
"Ist okay, Cam..."
"Nein," log Camille entschlossen. "Wenn niemand herkommt, fahren wir dich selbst ins Krankenhaus, dort müssen sie dir helfen. Vivien, nimm seine Beine--"
"Das wird er nicht schaffen," sagte eine kalte Stimme über ihnen. "Er ist tot, bevor ihr den ersten Schritt gemacht habt."
Vivien keuchte erschrocken, griff sofort nach dem Revolver an ihrem Gürtel, doch Camille wusste, er war leer, genau wie ihrer. Sie hatten all ihre Silberkugeln für die Kreatur gebraucht, deren Überreste dort drüben, nur wenige Meter entfernt lagen.
Timothy hatte seinen fallen lassen, war nie dazu gekommen, einen Schuss abzusetzen. Er war so nah, nur eine Armlänge...
"Viv...", zischte sie, während sie langsam aufsah.
Eine türmend große Frau stand an Timothys Kopf und blickte auf ihn herab, in hohen, dunkelroten Stiefeln und einem langen schwarzen Mantel. Sie hatte dunkle Haut und glänzende schwarze Locken, die ein perfektes Gesicht umrahmten. Camille sah sofort das Blitzen ihrer spitzen Zähne, genau wie das des kleinen Messers in ihrer Hand. Oder das rötliche Glühen ihrer Augen, wo das Licht sie im richtigen Winkel traf.
"Vivien," wiederholte sie nachdrücklich.
"Vampirjäger," stellte die Frau fest und hob eine wohlgeformte Augenbraue, als amüsierte sie diese Tatsache zutiefst.
"Wir sind keine Vampirjäger," erwiderte Vivien, die endlich den Wink verstanden hatte und sich mit dem Revolver schützend vor Camille und Timothy aufbaute. "Wir sind freie Ermittler. Wir jagen nur Vampire, die Jagd auf Menschen machen."
"...Das würde ich nicht tun," sagte die Vampirin und blickte unbeeindruckt in den Revolverlauf. "Es sieht aus, als würdet ihr mich brauchen." Damit schritt sie zu dem toten Geschöpf, nahm es fast schon sanft bei den Schultern, um es auf den Rücken zu drehen.
Das erste Mal bekam Camille einen klaren Blick darauf, was in dieser Gasse auf sie gelauert hatte, was auf das erste Lebendige, das es entdeckt hatte, losgegangen war. Moth.
Es war alles so schnell gegangen. Das rote Blitzen von Augen, als der Schein einer Taschenlampe sie traf, ein animalisches Fauchen, und dann Timothys ohrenbetäubender Schrei.
Wenige Sekunden lang hatte er sich noch selbst zur Wehr setzen können, während Camille und Vivien all ihre Kugeln in die Kreatur entleert hatten. Trotzdem hatten sie dieses Ding zu zweit von seinem Hals losreißen müssen.
Camille hätte vorangehen sollen. Es war ihre Einheit. Sie hätte jetzt hier liegen und verbluten sollen, nicht Timothy. Sie wollte ihn verfluchen. Nur, weil er so versessen darauf war, ihr irgendetwas zu beweisen. Dass er sich nicht fürchtete, dass er ein guter Agent war, dass sie die Mühen, die es sie und Vivien gekostet hatte, ihn in ihre Einheit aufzunehmen, nicht bereuen musste.
Still sah sie wieder zu der Kreatur. Es war wohl einmal eine junge Frau gewesen, vielleicht sogar ein Mädchen, nicht älter als Timothy selbst. Wangen und Augen waren tief eingesunken, die Haut streckte sich grau und fleckig hauchdünn über ihre Knochen. Blut bedeckte die ganze Vorderseite ihres verdreckten Shirts, ihr Kinn, ihren Hals. Moths Blut. Rostbrauner Schaum stand vor ihrem Mund, quoll zwischen den tödlich spitzen Zähnen hervor.
Es war kein neuer Anblick. Seit Wochen war er überall: Sie sahen ihn an Tatorten, in den Nachrichten, hörten von ihm in Erzählungen völlig verstörter Zeugen oder seltener Überlebender.
Etwas Schreckliches ging um in den Kreisen der Vampire von Nevada, und nun wusste Camille, sie konnte sich nicht einmal mehr davor flüchten, wenn sie die Haustür hinter sich schloss, den Fernseher ausließ und jedes Nachrichten-Popup auf ihrem Handy blockierte. Jetzt war es etwas Persönliches. Sie wusste schon jetzt, dass sie nun keine Ruhe mehr finden würde, bevor sie dieses Mysterium nicht gelöst hatte.
"Was ist mit diesen Vampiren?", fragte sie.
"Das weiß ich nicht," erwiderte die Fremde nur. Sie beugte sich herab, küsste die Leiche zärtlich auf die Stirn und schloss ihr die Augen. "Ich versuche schon lange, es herauszufinden. Ihr könntet mir dabei sicher von Nutzen sein."
Wahrscheinlich könnten sie das tatsächlich. Schon seit drei Wochen untersuchte ihre Einheit offiziell diese Attacken. Vielleicht hätte Camille wissen müssen, dass das nicht mehr lang gut gehen konnte-
Timothys Kopf rollte ein wenig zur Seite und eine neue Welle von Panik brach über ihr zusammen. Er hatte schon aufgehört, zu zittern. "Moth," zischte sie, und konnte ihre Stimme nicht mehr ruhig halten. "Timothy!"
Wieder drückte sie fester gegen die Wunde, wieder sah sie ihn vor Schmerzen zucken, hörte ihn wimmern, doch wenigstens öffnete er wieder die Augen.
"-Warum sollten wir Ihnen helfen?", fragte sie die Vampirin forsch.
"Ihr helft mir, herauszufinden, warum sie sterben musste, und ich..." Sie gab Acht, dass ihr Mantel die Blutlache nicht berührte, als sie sich neben Vivien hin kniete. "Ich helfe euch, damit er es nicht muss."
Vivien sah sie hilfesuchend an. Camille schwieg, spürte das hektische Pochen zwischen ihren Fingerspitzen immer flacher werden. Sie musste vernünftig bleiben. Sie musste.
"Er sieht sehr jung aus," sagte die Fremde in einem völlig sachlichen Ton. Sie wusste doch genau, was sie da tat. Was sie in Camilles Kopf anstellte. "Wie alt ist er? Fünfundzwanzig?"
"Zweiundzwanzig," korrigierte Vivien leise, strich ihm durch die dunkelbraunen Locken.
"Augen auf, Moth," drängte Camille.
"Zweiundzwanzig," wiederholte die Vampirin beeindruckt. "Sicher euer jüngster Agent. Das Nesthäkchen." Wärme umspielte ihre Worte, doch ihr Gesicht war ernst. "Was für eine Tragödie das wäre. Was für eine unnötige Tragödie."
"-Okay! Helfen Sie ihm," presste sie zwischen den Zähnen hervor, bevor sie zu viel darüber nachdenken konnte, was diese Entscheidung wirklich bedeutete. "Bitte."
Die Vampirin verschwendete keine weitere Sekunde. Wieder zog sie ihren kleinen Dolch, doch Vivien hatte keinen Grund, den Revolver einzusetzen, denn sie zog nur den Ärmel hoch und machte einen zielgerichteten Schnitt auf dem eigenen Unterarm. Tiefrotes Blut quoll rege daraus hervor, und sie winkelte den Arm an, ließ es auf seine Lippen tropfen. "Trink," sagte sie.
Träge öffnete Timothy wieder die Augen, ließ den Kopf von der einen auf die andere Seite und zurück rollen.
"Du musst stillhalten," mahnte Camille leise und Vivien kam ihr zur Hilfe, griff sein Gesicht vorsichtig in beiden Händen. "Sie will dir helfen. Trink das Blut."
"Nein," murmelte er. "Nein, will nicht... Will nicht. Bitte, Cam. Sahra anrufen..." Dann presste er die Lippen fest aufeinander.
"Schön, dann stirbst du eben," seufzte die Vampirin und drückte einen Finger über den Schnitt, um den Blutfluss aufzuhalten, während Vivien mit zitternden Händen versuchte, Sahras Nummer in ihr Handy zu tippen. "Ich gebe dir noch zwanzig Sekunden, dreißig vielleicht. Wenn du Glück hast, hörst du noch, wie deine Sahra ans Telefon geht. Neunundzwanzig... Achtundzwanzig..."
"Moth..."
"Bitte nicht," wiederholte er. "Bitte, Cam."
Agent Delgado erlag noch vor Ort dem fatalen Blutverlust durch die Verletzung seiner Halsschlagader während der Bissattacke-
"Nein. Nein, nein, nein," unterbrach Camille. Die Panik hatte es schließlich doch geschafft, sie vollends einzuholen. Sie konnte das nicht zulassen. "Agent Delgado!", bellte sie in strengem Spanisch, und Timothy zuckte. Sie nickte Vivien zu, und diese hielt mit einer Hand sein Kinn, mit der anderen griff sie selbst nach dem Handgelenk der Vampirin, presste den Schnitt wieder an seine Lippen. "Trinken Sie. Das ist ein Befehl!"
Sie sah ihm an, dass er zögerte, doch genau wie sie erwartet hatte, schließlich gehorchte er doch und sammelte seine letzte Kraft, zwang sich ganz offensichtlich, zu schlucken, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte.
Dann sank er still in sich zusammen, starrte mit glanzlosen Augen auf in den Nachthimmel.
Camille starrte auf ihn herab, wusste, sie sollte etwas denken, etwas fühlen, irgendetwas, als jede Bewegung, jedes Leben unter ihren Händen einfach erstillte. Sie konnte es nicht. Sie konnte es einfach nicht. Nicht noch einmal.
Die Sekunden verstrichen.
"Sie haben gesagt, er muss nicht sterben," sagte sie tonlos, löste den Blick nicht von seinem stillen, grauen Gesicht.
Vivien murmelte leise etwas vor sich hin, während sie es mit einem Taschentuch von Blut und Tränen reinigte.
"Ich habe gesagt, ich helfe euch," korrigierte die Vampirin und musterte Timothy genau. "Wenn er nicht stark genug ist, kann auch ich nichts mehr für ihn tun."
"Er-"
Zuerst glaubte Camille, ihr Gefühl täuschte sie. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie einen schwachen Schlag, dann noch einen. Sein Puls setzte wieder ein, und- Nein, das konnte nicht sein... Das Gewebe fügte sich Stück für Stück wieder zusammen, sie konnte es fühlen, wie der Riss in der Ader sich von selbst flickte?! Es war schrecklich widerlich und verblüffend zugleich. Von den Heilungsfähigkeiten eines Vampirs zu lesen und sie zwischen den eigenen Fingerspitze zu spüren, das waren zwei völlig unterschiedliche Welten.
"Sie können die Finger wieder aus seinem Hals nehmen, sonst verwachsen sie noch," sagte die Vampirin und schien, als merkte sie gar nicht, auf was für eine Probe sie Camilles Magen damit stellte. Ihre Aufmerksamkeit galt allein Timothy. Camille ahnte schon, worauf sie wartete.
Sie war einfach froh, dass ihre Mahlzeiten sich heute alle auf nicht viel mehr als Kaffee belaufen hatten. Mit einer blutbeschmierten Hand griff sie Timothys kalte Wange, strich mit dem Daumen darüber, die andere legte sie über seine Brust, spürte einen kräftigen Takt darunter zurückkehren.
Mit einem Mal riss er die Augen weit auf, schnappte nach Luft, dann warf er sich hustend und würgend auf die Seite.
"Du musst es annehmen." Die Vampirin beobachtete ihn ruhig. "Lass es geschehen. Du überstehst die Verwandlung nicht, wenn du dich dagegen wehrst."
Camille legte ihm die Hand zwischen die Schulterblätter. "Alles wird gut, Moth. Hör auf sie," murmelte sie ihm zu, wieder auf Spanisch. "Ich bin hier. Es wird alles gut."
"Hallo?", kam plötzlich eine verschlafene Stimme aus Viviens Handy, das längst vergessen immer noch neben ihnen auf dem nassen Asphalt lag. "Hier Sahra Delgado, wie kann ich Ihnen helfen?
Keuchend setzte Moth sich auf. "Sahra."
Auf einen auffordernden Blick von Camille hin nahm Vivien das Handy wieder an sich, um ein paar Meter abseits einige leise Worte mit ihr zu wechseln.
Die Vampirin streckte Timothy noch immer ihren Arm entgegen. "Kein Ehering, aber der gleiche Nachname. Deine Schwester?", observierte sie.
Er nickte matt.
"Sie wünscht sich sicher nichts mehr, als dass du am Leben bleibst. ...Nun, mehr oder weniger. Trink."
"Ich weiß nicht," nuschelte er, doch er nahm einen tiefen Atemzug, als würde er sich wappnen. Zaghaft griff er wieder nach ihrem Arm, dann senkte er den Mund wieder auf den Schnitt und trank weiter.
Gebannt beobachtete Camille, wie sein Griff von der einen auf die nächste Sekunde fest wie ein Schraubstock wurde, wie eine plötzliche, ungebändigte Gier von ihm ausströmte.
Ihre ganze Karriere hatte sie übernatürlichen Kreaturen gewidmet, doch sie konnte fast an einer Hand abzählen, wie viele Vampirverwandlungen sie beobachtet hatte. Üblicherweise fanden diese Rituale jedoch auch in kleinsten Kreisen statt, hinter verschlossenen Türen, geschützt vor den neugierigen Augen anderer Sterblicher.
Timothys Verwandlung war fast wie aus der Literatur. Die erste kritische Phase, die Reanimation, hatte er überstanden, und die zweite, die Akzeptanz, ganz offenbar auch.
"Das reicht," sagte die Vampirin schon zum zweiten Mal. "Das reicht jetzt." Sie griff eine Handvoll seiner Haare, um ihn schließlich von ihrem Arm loszuzerren. Kurz versuchte er, noch einmal danach zu greifen.
"Das war...", murmelte er atemlos und wischte sich mit dem Ärmel seiner eh ruinierten Lederjacke über den Mund. "So widerlich. Und so, so gut."
"Gewöhnungssache. Dafür wirst du noch genug Zeit haben. Erstmal brauchst du-"
Timothys Augen rollten in seinen Schädel zurück, bevor sie überhaupt ihren Satz beenden konnte.
"Schlaf," vervollständigte Camille für sie und zog ihn in ihre Arme, erlaubte sich das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, tief durchzuatmen. Das war die dritte und letzte Phase, die an allen Kräften zehrte, um die Verwandlung zu vollenden. Sie sammelte ihre eigenen, als das Adrenalin in ihren Adern drohte, abzuebben und knochentiefer Erschöpfung zu weichen. Die sofortige Gefahr war vielleicht abgewendet, doch der Kampf noch lang nicht überstanden, das wusste sie ganz genau. "Unser Wagen steht eine Straße weiter. Wir bringen ihn ins Büro. Viv?"
Vivien, wie sich herausstellte, war wohl kaum die optimale Kandidatin, zu fahren. Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie das Auto nicht einmal aufschließen konnte und die Schlüssel fallen ließ, als sie sie schließlich der Vampirin übergeben sollte.
Mit geeinten Kräften gelang es ihnen schließlich irgendwie, Timothy auf die Rückbank zu verfrachten. Camille blieb bei ihm sitzen, während Vivien die Vampirin - Joanne Preston, wie sie sich vorstellte - vom Beifahrersitz aus navigierte. Sie weigerte sich, Timothys Hand loszulassen oder auch nur den Blick von seinem Gesicht zu lösen. Sie konnte es nicht, konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass in einer unaufmerksamen Sekunde sein ruhiger Atem, sein gleichmäßiger Puls einfach stoppen würden. Dass sie aufwachen und er schon eiskalt und blau und ganz steif sein würde-
Wie immer parkten sie etwas abseits der Wohnwagenanlage, und schon nach wenigen Schritten schien Preston zu entscheiden, dass sie ihr zu langsam voran kamen und nahm ihr wortlos Timothy ab, um ihn selbst zu tragen. Mit einem stählernen Griff hielt Camille weiter seine Hand.
Der große graue Anhänger, den sie sehr euphemistisch ihr Büro nannten, hob sich in keiner Weise von den hunderten anderen auf der Anlage ab, wenn man nicht wusste, wonach man suchen musste. Das war schließlich der Sinn der Sache.
Nur das geübte Auge entdeckte die Überwachungskamera, die zwischen den Astern im Blumenkasten neben der Tür hervorlugte, oder die kleine Kerbe unten am Briefkasten, mit der man ein kleines Fach öffnen und im Notfall den Revolver voller Silberkugeln herausholen konnte. Nur Eingeweihte wussten, in welchem Muster sie klopfen mussten, damit jemand von innen die drei Schlösser öffnete und die Tür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen aufschob.
...Oder auch nicht.
Sie hob die Faust und hämmerte den Rhythmus noch einmal gegen das dicke Metall der Tür.
Eins. Pause. Zwei-Drei-Vier. Pause. FÜNF-SECHS!
Gereizt biss sie sich auf die Zunge. Genau deswegen hatten sie die Regel, dass jemand wach blieb und wartete, bis die anderen von einem Einsatz zurück waren. Schön, normalerweise kündigten sie sich auch an, bevor sie wieder in den Wagen stiegen, aber dafür hatten sie nun mal bei bestem Willen nicht die Zeit gehabt!
Wieder hob sie die Hand.
"Ja-ah!", kam es von drinnen. Endlich hörte sie das letzte Schloss aufspringen, und dann das vertraute Quietschen, das sie noch nie so sehr vermisst hatte.
Hades schob übereifrig die Schnauze durch den Türspalt. Der Dobermann fing bei ihrem Anblick aufgebracht zu winseln an, während Junis schon wieder im Halbschlaf zur Couch zurück schlurfte, auf der Camille schließlich auch Izaiah friedlich schnarchend entdeckte."Das Schlafzimmer ist gleich hier drüben-"
Preston war auf der Fußmatte vor der Tür stehen geblieben und starrte Camille genervt an. "...Solltet ihr nicht die Experten sein?"
"Oh." Kurz zögerte Camille, unsicher, ob das wirklich eine gute Idee war, aber da sie Timothy in den Armen hielt, hatte sie wohl nicht wirklich eine Wahl. "Kommen Sie rein," sagte sie, und zog die Vampirin und Timothy mit sich in das winzige Schlafzimmer direkt neben dem Eingang.
"Viv, hol den Verbandskasten," wies sie an, während Preston ihn vorsichtig auf dem Bett ablegte. Das Laken war damit wohl genau wie die Polster der Rückbank ruiniert, aber das war Camille in diesem Moment wirklich egal.
"Sein Körper wird jetzt alle Kraft brauchen, um die Verwandlung zu überstehen," sagte Preston.
Sie musterte die Wunde in seinem Hals. Jetzt, wo nur noch träge Blut aus einigen offenen Stellen sickerte, statt grotesk in die Höhe zu spritzen, konnte sie viel zu gut erkennen, wo sich die Zähne der Kreatur festgebissen hatten. Ihr Magen gab seine letzte Warnung. "Ich bin- gleich wieder da," murmelte sie, und stürzte ins Bad nebenan.
Als sie nichts als Magensäure hochgewürgt hatte und sich anschließend den Mund mit reichlich Wasser ausspülte, gaben ihre Knie schließlich doch noch unter ihr nach. Camille sackte vor dem Waschbecken zu Boden, versuchte erst gar nicht, sich abzufangen.
"Heilige Scheiße, Moth!" Das schockierte Fluchen vor der Tür verriet ihr, dass Junis wohl doch wieder von der Couch aufgestanden war und endlich deren Brille aufgesetzt hatte.
Mit den nassen Händen rieb sie sich über das Gesicht. Die Hände, an denen noch Moths Blut verschmiert war, genau wie an ihrem Hemd, ihrer Hose, in ihrem Gesicht, ihren Haaren, einfach überall. Die Hände, die in seinem Hals gesteckt hatten, die das einzige gewesen waren, das ihn am Leben hielt. Die genau gespürt hatten, wie es endete.
Sie brauchte- Sie brauchte...
Auf Händen und Knien zog sie sich über den Boden, zu dem schmalen Regal neben der Dusche und dem untersten Fach, das nie jemand anrührte. Fahrig kramte sie durch den Stapel von Handtüchern. Das war erbärmlich, dessen war sie sich durchaus bewusst. Sie war erbärmlich. Aber sie brauchte das jetzt.
Gott sei Dank...
Erleichterung durchströmte sie, als sie endlich kaltes Glas spürte. Drei kleine Fläschchen zog sie noch zwischen den Handtüchern hervor. Ihre Hände wollten ihr nicht mehr so recht gehorchen, so dass sie mehrere Anläufe brauchte, um den Deckel aufzudrehen, doch es war es alles wert.
Ein tiefer Schluck der goldbraunen Flüssigkeit brannte sich durch ihre ganze Kehle, und nur für eine Sekunde schwemmte er alles mit sich hinfort.
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