6. Kapitel
Gedankenverloren starre ich auf mein Besteck und träume von silbernen Augen, als mich eine Brotkrume an der Schulter trifft.
»Aufwachen, Esme«, meint Lee neckend und zwinkert mir zu, als ich aufschrecke.
»Hm?«, mache ich verwirrt. Shannon mir gegenüber kichert, während River mir besorgt die Hand auf den Arm legt.
»Alles in Ordnung?«, will sie wissen.
»Ja, natürlich«, versichere ich und konzentriere mich wieder darauf, meine Brotscheibe mit Butter zu beschmieren.
»Tja, wenn man mit Cade duschen geht, kann ich verstehen, dass man unaufmerksam ist«, bemerkt Shannon mit einem breiten Grinsen. Der Blick, den Jeremy ihr zuwirft, entgeht ihr.
Ich verdrehe die Augen. Ich hätte den anderen nicht erzählen sollen, dass Cade uns begleitet, denn natürlich wollten sie wissen, wann und wo ich ihm begegnet bin.
Lee zwinkert mir erneut zu, lenkt zu meiner Erleichterung allerdings die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema: Er beginnt vom gestrigen Tag auf der Krankenstation zu erzählen. Scheinbar hat eine wütende Patientin einen Stift nach Dr. Clarke geworfen, als diese ihr den Alkoholkonsum untersagte.
»Nicht dass es in diesem Gebäude überhaupt noch Alkohol gäbe«, meint Lee mit einem Grinsen in der Stimme.
River kichert.
»Die Vorstellung von Dr. Clarkes Blick ...«, setzt sie lachend an und verschluckt sich an ihrem Frühstück. Ich verberge mein Lächeln hinter meinem Brot.
»Das ist nichts gegen Maisie, die vor drei Tagen erfahren hat, dass jemand sich nur vegan ernährt«, erzählt Shannon und blickt hinter mich, wo sich die rundliche Küchenchefin gerade über ein anderes Thema in Rage redet.
Es ist seltsam, wie normal ich mich in diesem Moment fühle. Wir befinden uns mitten im größten Völkermord der menschlichen Geschichte, in dem wir bedauerlicherweise die zu mordende Gruppe sind, dennoch sitze ich mit Freunden beim Essen und lache über banale Alltagsgeschichten. Wenn jetzt noch Livy neben River säße, könnte alles wie früher sein ...
Auch wenn das niemals mehr geschehen wird. Es fällt mir schwer, mich mit dem Tod meiner besten Freundin abzufinden, doch diese Zeit ist für immer vorbei.
Ich bin scheinbar die Letzte, die noch isst, denn als ich mir den letzten Bissen Brot in den Mund stecke, erhebt sich River schwungvoll und nimmt ihr Tablett in die Hand.
»Auf geht's«, verkündet sie, »wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Viel Erfolg heute«, wünscht Shannon, die ebenfalls aufsteht. Lees besorgter Blick wandert von mir zu River.
»Passt aufeinander auf, ja?«, bittet er sanft.
River zieht eine Augenbraue hoch.
»Hast du kein Vertrauen in mich?«, neckt sie ihn. Als er ihren Blick nur erwidert, seufzt sie und meint: »Ist gut, wir sind vorsichtig, versprochen.«
Lee scheint erleichtert, während sich auch der Rest am Tisch inklusive mir erhebt und langsam auf den Ausgang zugeht.
»Bis später«, verabschiedet sich Lee mit einem letzten Blick auf River und geht in Richtung Krankenstation, während Jeremy und Shannon zurück in die Küche marschieren. River bedenkt mich mit einem langen Blick, bevor sie mir fröhlich unser Ziel mitteilt: »Auf geht's in die Waffenkammer!«
Ich folge River durch die vielen Flure und Gänge des UN-Hauptgebäudes und stelle erleichtert fest, dass ich diesmal sogar den ein oder anderen Gang wiedererkenne und mein mitternächtliches Umherirren damit vorbei ist. Ich fange sogar an Gefallen an der zahlreichen Kunst zu finden, die hier herumhängt.
Als ich an einem ganz in Rot und Gelb getauchten Gemäldestocke, auf dem die Sonne über dem Meer untergeht, während im Vordergrund ein Schiff fährt, kommentiert River: »Interessierst du dich für Kunst?«
»Nein, eigentlich überhaupt nicht«, gebe ich zu, »aber bei ein paar Bildern hier frage ich mich wieso nicht.«
River seufzt, als sie einen Blick auf das nächste Bild wirft.
»Ich habe Kunstgeschichte studiert. Vorher, meine ich. Die Gemälde hier erinnern mich stetig daran, dass ich nichts getan habe, das im Falle einer Apokalypse hilfreich wäre, außer vielleicht zu viele Horrorfilme zu sehen.«
»Mit einem Aufstand der Assassinen konnte keiner rechnen«, relativiere ich ihre Aussage.
River zuckt die Achseln und geht weiter, ohne mich direkt anzusehen.
»Konnte das wirklich niemand?«, hakt sie nach, doch die Frage wirkt rhetorisch. Zumindest sehe ich mich nicht imstande eine Antwort darauf zu geben. Hätten wir Menschen es wissen können? Die Antwort lautet wahrscheinlich Ja, was es nur umso schlimmer macht, dass wir diesen Umstand so lange ignoriert haben. Nicht eingesehen haben, dass die Assassinen mehr sind als willenlose Sklaven und wir sie anders hätten behandeln müssen.
River bleibt schließlich vor einer breiten Stahltür stehen und zieht eine Schlüsselkarte aus der Tasche, die sie an einen Scanner daneben hält. Mit einem leisen Piepen erkennt dieser die Karte und die Tür schwingt nach innen auf, um das zu offenbaren, was River mir versprochen hat: die Waffenkammer.
»Wow«, mache ich beeindruckt, als ich die scheinbar endlosen Reihen an Pistolen, Gewehren, Wurfsternen und anderen undefinierbaren Gegenständen betrachte.
»Wie in einem James-Bond-Film, oder?«, fragt River kichernd.
»Was für ein Film?« Ich runzle die Stirn.
»Nicht so wichtig«, entgegnet sie und tritt mir voraus in den Raum. Da ich bisher nur die Waffen gesehen habe, die an den Wänden hängen, bin ich überrascht, als ich mit der Hüfte gegen eine Vitrine stoße. Natürlich enthält sie noch mehr davon – beim Anblick dieses Raumes werde ich um einiges optimistischer, dass wir den Genozid durch die Assassinen überleben könnten.
»Die UN haben sich definitiv vorbereitet«, kommentiere ich und gehe zu einer Wand, um mit dem Finger vorsichtig ein Wurfmesser zu berühren. Beim näheren Hinsehen fällt mir auf, dass vereinzelt Waffen fehlen, vermutlich jene, die draußen in Benutzung sind. Dennoch ist das Arsenal vermutlich groß genug, um jeden Asylsuchenden im Gebäude auszustaffieren.
Okay. Ganz so groß vielleicht auch wieder nicht.
»Du hast die Wahl«, verkündet River, die sich neben mich gestellt hat.
»Aber ich habe doch schon eine Pistole«, bemerke ich und greife unwillkürlich zu der Assetgun, die ich heute Morgen in meinen Gürtel gesteckt habe.
»Aber wieso nur eine Waffe, wenn du auch mehrere haben kannst?«, entgegnet River. »Ich würde dir auf jeden Fall noch ein Messer für den Nahkampf empfehlen und vielleicht ein Pfefferspray. Man kann nie wissen.«
Sie führt mich ein wenig weiter in den Raum, wo in einer Schublade, die sie aus der Wand zieht, Pfeffersprays aufgestapelt sind. Ich nehme eines heraus und greife dann nach einem der Messer, die darüber an der Wand hängen. Mit den beiden Gegenständen in der Hand stocke ich unschlüssig – wo soll ich sie verstauen? Die enge Jeans, die ich trage, ist definitiv keine Möglichkeit.
»Komm, das Outfit ist als Nächstes dran«, meint River, die mein Dilemma bemerkt hat.
Wir gehen durch eine Tür am Ende des Raumes, um in einer Art begehbarer Kleiderschrank zu landen – nur deutlich, deutlich größer. Zielstrebig geht River auf eine Stange zu, an der einige Klamotten hängen, und reicht mir einen Tarnanzug.
»Umkleide ist da drüben«, weist sie mir den Weg.
Wenige Minuten später kehre ich in Tarnfarben zurück. Der Anzug ist mir ein wenig zu groß, aber mit dem passenden Gürtel bleibt er, wo er sein soll. Nur der Sinn des Ganzen erschließt sich mir noch nicht wirklich. Zwar weiß ich, dass europäisches und internationales Militär Derartiges in Kriegsgebieten tragen, aber in New York dürften Tarnfarben nicht gerade unauffällig sein. Da wäre Grau durchaus hilfreicher.
Auf diese Frage antwortet River: »Ja, zur Tarnung ist das völlig unnötig. Aber wir haben nichts anderes und die Taschen sind durchaus praktisch.«
Sie zeigt auf eine der etwas überdimensional geratenen Hosentaschen an ihrem Tarnanzug, den sie inzwischen anhat. Anschließend nimmt sie das Messer und das Pfefferspray, die ich zuvor beiseitegelegt habe, und steckt beides in eine meiner Hosentaschen.
»Wir sind Sammler, also brauchen wir die Taschen nicht nur für unsere Ausrüstung, sondern auch für alles andere, was wir auf dem Weg finden.«
Ich nicke, während ich dabei zusehe, wie River ihre eigenen Taschen füllt. Gemeinsam verlassen wir den Kleiderschrank und inzwischen kann ich mich sogar so gut orientieren, um festzustellen, dass wir uns auf dem Weg zum Ausgang befinden.
Na ja, die ganzen Exit-Schilder schaden dabei nicht.
Vor dem Gebäude warten bereits drei andere Personen in Tarnanzügen auf uns. Cade erkenne ich sofort, nicht zuletzt an dem breiten Grinsen, das er mir zuwirft, als wir aus dem Haupteingang treten. Neben ihm stehen ein dunkelblondes Mädchen und ein mittelalter Mann, der gerade stirnrunzelnd seine Waffe prüft.
»Hallo, Leute«, grüßt River, als wir näher kommen. Der Rest nickt ihr zu und blickt dann neugierig mich an.
»Esme«, stelle ich mich vor.
Das Mädchen lächelt, bevor sie auf den Mann neben sich deutet.
»Das ist Ryan«, erklärt sie, »und ich bin Kayla. Cade kennst du ja bereits, hat er erzählt.«
Durchaus und ich kann seinen Blick auf mir deutlich fühlen. Was ist sein Problem? Sollte er momentan nicht Wichtigeres zu tun haben, als zu flirten?
Kayla dreht sich um und geht voraus, Ryan neben sich, während Cade sich zu mir und River zurückfallen lässt.
»Wie geht es euch?«, will er wissen. Als er meinen Blick einfängt, zwinkert er mir zu, sodass ich mich lieber wieder auf die Rücken der beiden anderen konzentriere.
»Sehr gut und dir?«, erwidert River an meiner Stelle. Ich kann die Frage in ihrem Blick geradezu spüren.
»Gut, nur die andauernde Ruhe auf Seiten der Assassinen bereitet mir Sorgen«, gibt Cade zu, »sie testen unsere Stärke regelmäßig mit kleinen Vorstößen, aber ich frage mich, wieso sie noch nicht gemeinsam angegriffen haben.«
Cade runzelt nachdenklich die Stirn, während er darüber grübelt. Überrascht stelle ich fest, dass ich finde, dass ihm der Gesichtsausdruck steht. Der dunkelhäutige Mann scheint sehr ernsthaft zu sein.
Bevor River oder ich etwas auf seine Aussage erwidern können, erreichen wir das Nordtor des Gebäudekomplexes, wo wir von zwei bewaffneten Soldaten in Empfang genommen werden.
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