5. Kapitel
»Esme«, haucht Atair meinen Namen und der Blick aus seinen silbernen Augen bringt mein Innerstes zum Glühen.
»Atair?«, frage ich verwirrt und blicke mich um. Wir befinden uns in unserem Zimmer auf der Assassineninsel, ein Ort, von dem ich nicht glaubte ihn je wiederzusehen. »Was ist geschehen?«
Atair, der vor mir steht, nimmt meine Hand in seine. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf seinem Bett sitze.
»Du hast schlecht geträumt«, erklärt er mir besorgt.
»Geträumt?«, echoe ich verwirrt. Habe ich meinen Assassinen nie verlassen?
»Ich beschütze dich«, wiederholt er sein Mantra, fest und bestimmt, und bei seinen Worten fühle ich mich tatsächlich sicher und geborgen. Ich weiß, dass er immer für mich da sein und auf mich aufpassen wird, dass es nichts gibt, das ich fürchten muss, solange ich nur ihn an meiner Seite habe. Der Gedanke, dass dies nur ein goldener Käfig ist, verschwindet so schnell aus meinem Verstand, wie ich ihn dachte, als mein Assassine sich neben mich setzt. Er betrachtet mich eingehend, bevor er lächelt und ich beim Anblick seiner Grübchen wie immer dahinschmelze.
»Geht es dir besser?«, will er wissen und ich nicke. Unwillkürlich strecke ich die Hand aus, um seine Wange und die Grübchen darin zu berühren. Als meine Haut die seine berührt, wird Atair unnatürlich still, bevor er den Kopf dreht, um sanft mein Handgelenk zu küssen.
Beim Gefühl seiner Lippen auf der empfindlichen Stelle erschaudere ich. Ich kann das zufriedene Lächeln auf seinen Lippen spüren, als er die Stelle daneben küsst und die daneben, um eine langsame Spur aus Küssen meinen Arm hinaufzuziehen.
Als er mein Schlüsselbein küsst und mit der Zunge die Haut reizt, atme ich scharf ein.
»Atair«, sage ich und will eigentlich streng klingen, doch meine Stimme ist nur ein Seufzer, der ausdrückt, wie sehr ich sein Spiel genieße.
»Meine Esme«, erwidert er rau und seine Lippen senken sich auf meine. Mein Mund handelt wie von selbst und erwidert seinen Kuss, versinkt im Gefühl seiner Berührungen, seiner Zunge, die meine zärtlich neckt. Es ist wie ein Tanz, den wir miteinander tanzen und von dem wir beide intuitiv alle Schritte kennen und auf jede Bewegung des anderen reagieren können. Atair saugt an meiner Unterlippe und ich lege die Arme um seinen Hals, ziehe mich auf seinen Schoß, um ihm noch näher sein zu können. Ich fühle seinen warmen Körper an meinem, die harten Muskeln und seine Erregung, die unmissverständlich meinen Unterleib reizt, als ich mich auf ihn setze. Nie habe ich mich einem Mann so nahe gefühlt, nie hatte ich so sehr das Bedürfnis, ihm noch näher zu sein und alle Barrieren zwischen uns zu vernichten.
»Atair«, seufze ich erneut seinen Namen und mein Assassine löst sich von mir, um mir in die Augen zu starren. Mich mit seinen silbernen Augen anzusehen, als könnte er in meine Seele blicken und all meine Wünsche ablesen. Meinen einzigen Wunsch ablesen – der ihn zum Ziel hat.
***
Als ich erwache, spüre ich noch immer den Nachhall von Atairs Kuss auf meinen Lippen, seiner Berührung auf meiner Haut, und muss automatisch lächeln, bevor ich das Gefühl der dünnen Decke auf meiner Haut sowie die Atemgeräusche von drei weiteren Personen im Raum wahrnehme.
UN-Headquarters. Dort befinde ich mich – nicht mehr auf der Insel, nicht mehr bei meinem Assassinen. Obwohl ich in den letzten Tagen an fast nichts anderes gedacht habe, als mich hierher zu wünschen, durchfährt mich ein Gefühl der Enttäuschung bei dieser Feststellung.
Der Traum hängt noch immer an mir und macht mir wieder einmal deutlich, dass es mir nicht gerade leichtfallen wird, Atair zu vergessen. Er hat mich im Traum als »seine Esme« bezeichnet, ein Besitzanspruch, den er nicht hat – und von dem sich mein Unterbewusstsein wünscht, dass er ihn hätte?
Entschlossen setze ich mich auf und schüttle den Kopf. Nein. Ich muss meinen Assassinen loslassen, statt Erinnerungen und Träumereien nachzuhängen.
Wie ich bereits bemerkt habe, schlafen die drei anderen im Zimmer noch. Ich muss mich zusammenreißen nicht zu kichern, als ich sehe, dass River ein wenig Sabber aus dem Mund läuft. Lees Arm hängt über der Sofakante, als hätte er im Schlaf unwillkürlich die Hand nach ihr ausgestreckt.
So lautlos, wie ich kann, nehme ich mir meine Wechselkleidung und schleiche aus dem Zimmer. Mit einem Klacken schließt die Tür hinter mir, als ich auf einen leeren Flur trete und mich auf den Weg zu den Duschen mache.
Die Uhr, die im Aufenthaltsraum des Stockwerks hängt, verrät mir, dass es erst fünf Uhr morgens ist, was vermutlich auch der Grund ist, weshalb ich keiner Menschenseele begegne. Mal wieder irre ich ein wenig herum, aber ich kann mich immerhin ein kleines bisschen besser orientieren als gestern Abend. Nach einigen kleineren Umwegen finde ich den richtigen Weg und erst als ich nur noch einen Gang von den Duschen entfernt bin, vernehme ich Schritte.
»Cade«, sage ich überrascht, als dieser aus einem zuführenden Gang tritt und mich anlächelt. Er hätte durchaus früher auftauchen und mir den Weg zeigen können, aber es ist ja nicht seine Schuld, dass mein Orientierungssinn so schlecht ist.
»Guten Morgen, Esme«, grüßt er, »Frühaufsteher?«
»Eigentlich nicht, aber ich war es gewohnt«, entgegne ich, »vorher.«
Er nickt. »Geht mir auch so.«
Nebeneinander führen wir unseren Weg Richtung Duschen fort.
»Hast du dich schon gut eingelebt?«, will Cade nach einem Moment wissen.
Ich zucke mit den Achseln.
»Es ist definitiv anders als bei den Assassinen und auch anders, als ich es von davor gewohnt war. Aber die Leute, die ich bisher getroffen habe, sind sehr nett und ich fühle mich viel mehr ... unter meinesgleichen?«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Cade mitfühlend. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass die Assassinen so schlimm nun auch wieder nicht sind. Mein Traum beweist wohl, dass es Dinge gibt, die ich hier durchaus vermisse. Einen bestimmten Assassinen vor allem.
Aber ich befürchte, dass niemand hier das verstehen könnte und die Menschen hier es sich nur mit dem Stockholm-Syndrom erklären würden. Also schweige ich und erwidere nichts auf Cades Aussage. Immer wieder spüre ich seinen Blick auf mir, doch auch er spricht nicht.
»Wir sehen uns später«, verabschiedet sich Cade am Eingang der Duschen. Er kommt also mit auf den Sammlerausflug – einerseits beruhigt mich das, weil ich mich an seinen Mut erinnere, andererseits aber weiß ich noch immer nicht, was genau ich mit ihm anfangen soll. Je mehr Zeit ich mit ihm verbringe, desto mehr verstärkt sich das Gefühl, dass er an mir interessiert ist. Abgesehen davon, dass die Apokalypse nicht gerade der passende Zeitpunkt für eine Liebesgeschichte ist, erwidere ich dieses Interesse aber nicht.
In meiner Überlegung versunken verpasse ich den Moment, Cade zu antworten, stehe stattdessen nur stumm da und blicke ihm hinterher, wie er in den Männerbereich geht. Tja, ich hoffe, er interpretiert den Blick nicht falsch, aber eigentlich gibt es momentan dringendere Angelegenheiten. Wie meine eigene Dusche zum Beispiel.
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