4. Kapitel - Teil 2
Hm. Vielleicht hätte ich doch auf Shannon warten sollen, noch habe ich nicht das Gefühl, mich hier so richtig auszukennen. War es der zweite Gang rechts? Oder der dritte?
Ein wenig ziellos irre ich durch das Gebäude, in dem gefühlt jede Ecke gleich aussieht. Einzig die Gemälde an den Wänden sorgen für Abwechslung, aber ich habe auf dem Weg hierher nicht gut genug aufgepasst. Ich erinnere mich weder an die Kopie des Seerosenteichs von Monet noch an das Bild mit einem riesigen blauen Pferd oder jenes mit einem Reiter, der einen Drachen ersticht. Die Frage ist, liegt meine Unkenntnis daran, dass ich die Bilder noch nicht gesehen habe, oder daran, dass ich einfach nicht darauf geachtet habe? Ich befürchte nämlich zunehmend, dass Letzteres der Fall ist.
Ich bin erleichtert, als ich Rivers Stimme höre, und gehe sofort darauf zu, bis ich den verzweifelten Ausdruck in ihrer Stimme wahrnehme.
»Ich kann das einfach nicht!«, ruft sie laut. »Das mit uns, das hat einfach keine Zukunft!«
Abrupt bleibe ich stehen. Diese Worte sind eindeutig nicht für mich gedacht.
»Aber wieso nicht?«, höre ich Lee erhitzt fragen. »Ich mag dich und manchmal bin ich mir fast sicher, dass du mich auch magst. Wieso nicht die Zeit nutzen, die uns noch bleibt?«
»Genau deshalb«, gibt sie wütend zurück, »weil uns kaum noch Zeit bleibt. Wir werden alle sterben, Lee!«
Obwohl ich noch immer keine Ahnung habe, wo ich bin, möchte ich die beiden nicht stören. Lautlos gehe ich den Gang zurück, aus dem ich kam, und nehme willkürlich die erste Abzweigung. Das ist ihr Drama, das die beiden ausfechten müssen – ebenso wie ich allein damit fertig werden muss, dass ich jeden unbekannten Menschen, der an mir vorbeiläuft, zwangsläufig auf silberne Augen überprüfe. Es ist verrückt, wie sehr Atair mich in diesen wenigen Tagen geprägt hat, mehr, als es je ein anderer Mann vermocht hat. Wenn er doch nur ein Mensch wäre, dann ...
Dann wären wir jetzt beide tot, sagt mir mein Verstand und er hat recht. Ich kann – ich will Atair nicht ändern. Das Einzige, was ich ändern möchte, sind die Umstände. Wie hätte unsere Beziehung ausgesehen, wenn wir nicht von Anfang an auf völlig unterschiedlichen Seiten gestanden hätten? Hätte die Anziehungskraft, die wir aufeinander ausüben, eine Chance gehabt? Oder rührt diese nur vom Romeo-und-Julia-Phänomen her und wir hätten nie diese Faszination füreinander entwickelt, wenn diese Gefühle erlaubt gewesen wären? Dabei weiß ich nicht einmal genau, welche Gefühle wir füreinander überhaupt haben. Atair behauptet, er sei in mich verliebt – und ich?
Ich sehne mich unbestreitbar nach ihm, aber ich weigere mich eine aussichtslose Situation als Liebe zu bezeichnen. Es ist ohnehin nicht wichtig – um River zu zitieren: Das mit uns hat keine Zukunft. So sehr ich mir auch wünschte, dass es anders wäre.
»Esme? Was machst du hier?«, reißt mich Shannons Stimme aus meinen Gedanken. Erst jetzt bemerke ich, dass ich in einem dunklen Gang stehe und aus dem Fenster starre. Ein dunkles Empire State Building ist gerade so am Himmel auszumachen.
»Ich habe mich verlaufen«, entgegne ich wahrheitsgemäß.
Shannon kichert.
»Du hättest echt warten sollen, bis Jeremy und ich mit dem Essen fertig waren«, tadelt sie mich, »sei froh, dass er mich noch auf einen Abstecher in den Garten überredet hat, sonst wäre ich bei meinem Rückweg nicht hier vorbeigekommen.«
»Tut mir leid«, murmle ich und folge ihr auf den beleuchteten Flur, auf dem sie steht. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zurück zu unserem Zimmer.
»Wie kommt es eigentlich, dass du nach so langer Zeit noch hierher gefunden hast?«, fragt sie mich nach einer Weile.
»Ein Assassine hielt mich gefangen und ich konnte fliehen«, erkläre ich in Kurzversion. Shannon zuckt zusammen.
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, was du erlebt hast«, sagt sie und blickt zu Boden. Die Traurigkeit und das Mitgefühl in ihrer Aussage treffen mich unerwartet tief. Shannon sieht aus, als wäre sie nicht einmal volljährig – sie sollte sich so etwas gar nicht vorstellen müssen. In ihrem Alter bestanden all meine Sorgen aus Schule, Hausaufgaben und meinem aktuellen Schwarm. Sie muss sich stattdessen mit einer Apokalypse und gewalttätigen Assassinen herumschlagen.
»Es war halb so schlimm«, erwidere ich sanft, bevor ich frage: »Wie kamst du hierher?«
»Gar nicht«, entgegnet sie, »ich habe als Nebenjob in der Küche ausgeholfen und hatte das Glück, bereits hier zu sein, als draußen die Hölle losbrach.«
»Wow«, mache ich und Erleichterung schwingt in meiner Stimme mit, dass sie wenigstens selbst nichts Schreckliches erlebt hat. Sie war von Anfang an in Sicherheit.
»Manchmal habe ich ziemliche Schuldgefühle deswegen«, gibt Shannon zu, »in Sicherheit zu sein, während um uns herum das Chaos herrscht. Während ich keine Ahnung habe, was mit meinen Eltern oder meinem Bruder geschehen ist, ob ich sie je wiedersehen werde. Manchmal wünsche ich mir nichts mehr, als mit einem von ihnen tauschen zu können, manchmal erscheint es mir fast besser, dort draußen zu kämpfen und einen von ihnen in Sicherheit zu wissen als umgekehrt.«
Nachdenklich nicke ich.
»Ich verstehe, was du meinst. Aber für sie wäre es sicher ebenso und nichts wäre ihnen mehr wert, als dass du wohlbehalten hier bist.«
»Danke«, entgegnet sie leise. Schweigend gehen wir weiter und sind nach wenigen Minuten schließlich angekommen. Als Shannon die Tür öffnet, gibt sie den Blick frei auf ein dunkles Zimmer, in dem bereits zwei Personen in ihren Betten liegen. Die eisige Stimmung und Wut, die River und Lee abstrahlen, sind beinahe körperlich spürbar.
Shannon wirft mir einen mitleidigen Blick zu, der zu sagen scheint, dass ich mich besser daran gewöhnen sollte, bevor ich hinter uns die Tür zuziehe und nur noch Dunkelheit zurückbleibt.
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