1. Kapitel - Teil 2
Gemeinsam gehen wir den Flur entlang und durch die letzte offene Tür, die davon abgeht. Daneben folgt noch eine weitere geschlossene Tür, über der »Behandlungsraum – Bitte nicht stören« geschrieben steht. Was diejenigen, die diese Konferenzsäle häufiger nutzten, wohl zu dieser kreativen Umgestaltung sagen?
Das Zimmer, das River, Lee und ich nun betreten, hat große Ähnlichkeit mit dem echten Wartesaal eines Hausarztes. An allen vier Wänden sind Stühle aufgestellt, nur unterbrochen von zwei Lücken für die Türen. Durch die Fenster hat man Blick auf einen schlichten Garten und auch hier hängen einige Bilder an den Wänden. Dennoch erkennt man, dass dies ursprünglich kein Wartezimmer war – der graublaue Teppich auf dem Boden und auch die Schreibtischstühle verraten, dass hier umfunktioniert wurde, ebenso wie die Wartezeitschriften, die ungewöhnlicherweise Titel wie Politics today und Economy tragen.
Auch hier ist die Tür zum angrenzenden Raum geöffnet, vermutlich weil sich kein einziger Patient im Wartezimmer befindet. Zielstrebig geht River darauf zu.
»Hallo, Dr. Clarke«, begrüßt sie die Frau, die darin an einem Schreibtisch mitten im Raum sitzt und konzentriert in ein Notizbuch schreibt. Wie jemand analog schreibt, habe ich bereits seit Jahren nicht gesehen. Ihre grauen Haare fallen ihr aus dem Gesicht, als sie aufblickt und lächelt.
»Hallo, River«, grüßt sie. »Lee, hast du meine Stifte gefunden?«
Lee schiebt sich an meiner Begleiterin vorbei und winkt mit drei Kugelschreibern, die er Dr. Clarke in die Hand drückt.
»Danke«, meint sie und bedeutet uns mit einer Handbewegung uns auf die drei Stühle zu setzen, die vor ihrem Schreibtisch stehen. Nachdem ich mich gesetzt habe, streckt sie mir die Hand hin.
»Hallo, ich bin Lucinda, obwohl mich hier alle nur Dr. Clarke nennen«, stellt sie sich vor.
»Esme, ich bin gerade angekommen«, erwidere ich und schüttele ihre Hand.
»Wie ungewöhnlich«, bemerkt sie und mustert mich. »Ich nehme an, ihr seid für die Eingangsuntersuchung hier?«
Ich nicke bestätigend und die Frau erhebt sich, nachdem sie ihr Notizbuch zugeklappt hat.
»Dann will ich dich mal nicht warten lassen.«
Lee und River bleiben sitzen, während Dr. Clarke eine Tür hinter sich öffnet und dann abwartend zu mir sieht. Scheinbar wird das ein privates Gespräch. Ich folge ihr in den vorhin bereits ausgewiesenen Behandlungsraum, in dem nicht nur ein Feldbett wie beim Hausarzt, sondern auch ein gynäkologischer und sogar ein zahnärztlicher Untersuchungsstuhl sowie einige Geräte zur Diagnose bereitstehen. Zu meiner Erleichterung zeigt Dr. Clarke jedoch nur auf das Feldbett, auf das ich mich setze, und zieht für sich selbst einen Stuhl heran.
»Eigentlich bin ich Chirurgin, aber ich und die acht anderen hier anwesenden Ärzte wechseln uns mit dem Dienst ab, deshalb werde ich heute für dich Allgemeinmedizinerin spielen«, erklärt sie, während sie ein weiteres Notizbuch von einem Beistelltisch nimmt, das bereits ziemlich voll zu sein scheint.
Als sie meinen Blick auf das Buch bemerkt, meint sie: »Das Risiko, dass uns der Strom ausgeht und wir digitale Aufzeichnungen verlieren, ist zu groß.«
»Okay?«, erwidere ich und lege mich auf das Feldbett. Scheinbar ist das mit den ausgehenden Benzinvorräten weniger weit hergeholt, als River es vorhin hat klingen lassen.
»Wie ist dein voller Name und Geburtsdatum?«, erkundigt sich Dr. Clarke.
»Esmeralda Lolita Saragoza, 8. Dezember 2101.«
Sie nickt und notiert sich meine Daten.
»Beruf und Familienstand vor der Rebellion? Blutgruppe?«
»Menschenrechtlerin der Human Rights Foundation, ledig. AB, glaube ich.«
»Verwandte oder Bekannte, deren Daten ich hier für Sie einholen könnte?«
Nach kurzem Zögern zucke ich mit den Schultern. Ganz ehrlich, so viele Bekannte habe ich nicht, bei denen ich Hoffnung auf Überleben hätte. Dennoch nenne ich die Namen meiner beiden ehemaligen Mitbewohnerinnen und den meines Chefs, der schließlich zur Zeit des Angriffs zu Hause war, aber Dr. Clarke schüttelt nur den Kopf.
Als sie offensichtlich noch auf mehr wartet, fahre ich fort: »Meine Familie lebt in Spanien und meine beste Freundin kam während der ersten Schlacht ums Leben.«
»Das tut mir leid«, entgegnet die Ärztin.
Sie legt das Notizbuch beiseite, um mich prüfend anzusehen.
»Kommen wir zum eigentlichen Thema«, meint sie, »ist es für dich in Ordnung, wenn ich die Ergebnisse später notiere, damit auch die anderen Ärzte eine mögliche Behandlung an deinen Gesundheitszustand anpassen können?«
Seltsame Frage, wieso sollte es für mich nicht in Ordnung sein? Ich nicke.
Dr. Clarke steht auf, um eine Blutdruckmanschette um meinen Arm zu legen, sie aufzupumpen und die Luft wieder abzulassen. Als Nächstes misst sie meine Temperatur und leuchtet mir kurz in die Augen und in den Mund.
»Gut. Hast du irgendwelche Schmerzen oder körperliches Unwohlsein, das ich genauer untersuchen sollte?«, will sie wissen.
»Nein«, erwidere ich.
»Du scheinst körperlich völlig gesund«, erklärt sie. »Die Frage ist, willst du, dass ...« Sie macht eine Kopfbewegung zum gynäkologischen Untersuchungsstuhl.
»Ähm, wieso?«, frage ich verwirrt. »Ich war erst vor einem Monat bei meiner Frauenärztin.«
Dr. Clarke scheint erleichtert, seufzt aber und sagt dann sanft: »Ich meine keine Vorsorgeuntersuchung, sondern möchte mögliche Verletzungen erkennen und gegebenenfalls behandeln.«
»Verletzung?«, frage ich irritiert.
»Esme, ich mache mir keine Illusionen. Ich kenne deine Geschichte nicht, aber jede einzelne Frau, die nach dem dritten Tag der Belagerung noch hier eintraf, musste behandelt werden.«
Erst da verstehe ich entsetzt, was sie meint.
»Achso«, wehre ich vehement ab, »nein, mich hat niemand angerührt.«
Erleichterung und Erstaunen mischen sich in Dr. Clarkes Blick.
»Das ist ebenfalls sehr ungewöhnlich«, bemerkt sie und mustert mich noch einmal prüfend. Ich erwidere ihren Blick, bis sie schließlich entscheidet, dass ich tatsächlich die Wahrheit sage.
»Darf ich dich dann fragen, wie es dir ergangen ist?«
Ich zögere und erinnere mich daran, dass ich niemandem erzählen darf, dass Atair mich freigelassen hat. Bis auf diesen Umstand gibt es jedoch nicht wirklich etwas, das ich geheim halten müsste ... Außer vielleicht der gegenseitigen Anziehung zwischen Atair und mir.
»Ich habe im Empire State Building gearbeitet«, erzähle ich, »und aß gerade zu Mittag, als wir Schüsse hörten. Der Ausgang war blockiert und so habe ich mich stundenlang unter einem Schreibtisch versteckt, bis ich dachte, es wäre vorbei. Als ich dann fliehen wollte, entdeckte mich ein Assassine, der zuvor ebenfalls im Empire State arbeitete und mich täglich kontrollierte. Er nahm mich gefangen und brachte mich in sein Quartier, wo er mich festhielt. Allerdings schadete er mir nicht, sondern behauptete, er wolle mich ... beschützen.«
»Bemerkenswert«, sagt die Ärztin erstaunt. »Beschützen? Einen Menschen?«
Ich nicke und eine plötzliche Welle der Sehnsucht macht sich in mir breit, als ich an Atair denke.
»Er hat Gefühle für mich«, erkläre ich wehmütig.
Dr. Clarke hebt beide Augenbrauen. »Ich wusste nicht, dass diese Wesen überhaupt Gefühle außer Blutdurst kennen.«
»Doch«, entgegne ich leise. Atair kannte sie offensichtlich.
»Aber ich wollte mein Leben nicht in Gefangenschaft verbringen und als der Assassine mich zu einem Außeneinsatz mitnahm, floh ich hierher«, ende ich.
Dr. Clarke scheinen die Worte zu fehlen, sie sieht völlig verblüfft aus. Dann nimmt sie wieder ihr Notizbuch zur Hand und schreibt meine Geschichte nieder – jedoch knapper, als ich sie erzählt habe, wie ich bemerke.
»Ich würde dir empfehlen deine Sympathie für den Assassinen besser zu verstecken«, meint sie schließlich, als sie fertig ist. Sie blickt mich an und in ihren Augen lese ich Mitgefühl neben ihrer Verwunderung.
»Der Hass auf die Assassinen ist zu groß. Viele würden dich verurteilen.«
Ich nicke und denke daran, wie einfach es doch mit Atair war. Wie realistisch die Vorstellung wirkte, mit einem Assassinen in Frieden leben zu können – eine Vorstellung, die offensichtlich nicht nur an den Assassinen, sondern auch an den Menschen scheitern würde.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro