1. Kapitel
Esme – 310 Jahre zuvor
Es ist das erste Mal, dass ich den UN-Headquarters so nahe komme, aber nicht zum ersten Mal wundere ich mich über den fehlenden Sinn für Ästhetik der Menschen vor hundert Jahren. Die UN-Headquarters sind ein Betonkomplex, zwar voller Fenster, aber rechteckig und mehr klobig als elegant. Die hohen Zäune und Mauern um mich herum demonstrieren, dass es sich um einen Hochsicherheitstrakt handelt. Einen, der uns hoffentlich helfen wird zu überleben.
Der Soldat, der mich an der vordersten Mauer begrüßt hat, führt mich an ihr entlang zum Eingang des schwer bewachten Komplexes. Dort nimmt mich eine junge Frau namens River in Empfang, die sich scheinbar freiwillig gemeldet hat Neuankömmlinge zu begrüßen.
»Aber es wird immer seltener, dass Menschen vor unseren Toren auftauchen«, meint sie traurig, nachdem sie sich vorgestellt hat, »meistens sind es nur die Assets, oder Assassinen, wie sie sich jetzt nennen. Ich freue mich, dass du hier bist.«
»Ich mich auch«, erwidere ich ehrlich.
Mit einem Lächeln legt sie mir mitfühlend eine Hand auf den Arm. Sie wird sich denken, dass ich in den letzten Tagen Schreckliches durchgemacht habe – so war es ja auch, aber anders, als sie und die anderen Menschen vermuten.
»Gut, zuerst werde ich dich zu einem Arzt bringen, Esme«, erklärt River, »dann zeige ich dir die Speisesäle, die Quartiere und auch die hygienischen Anlagen. Vor der Führung müssen wir dich aber noch einem Mitglied des Rats vorstellen, der überprüft, dass du keine Spionin oder so bist. Nicht dass irgendjemand das denken würde, aber sie sind hier sehr vorsichtig.«
»Der Rat?«, frage ich nach.
»Wir haben hier eine Art Übergangsregierung gebildet«, erklärt sie, »nichts Demokratisches bisher, aber es funktioniert gut. Die Ersten, die hier waren – also nicht die Abgeordneten der UN, sondern die Generalin des Militärs hier und einige weitere, die Gruppen hierherführten –, haben sich selbst dazu berufen.«
Heißt das, jeder kann sich spontan zum Anführer machen? Das klingt nicht wirklich nach dem demokratischen Geist Amerikas, aber momentan ist es vermutlich besser als nichts. Die Zuflucht scheint sehr gut organisiert und es gibt wichtigere Sorgen als Neuwahlen. Wie um diese Erkenntnis zu unterstützen, ertönt in der Ferne das Rattern eines Maschinengewehrs.
Als ich River erschrocken anblicke, legt sie mir beruhigend eine Hand auf den Arm.
»Keine Sorge, wir sind hier sicher«, meint sie, »zumindest vorerst. Die Männer an der Mauer sind gut ausgebildet und bisher haben die Assassinen noch keine Offensive gestartet, sondern testen unsere Kraft nur mit gelegentlichen Scharmützeln.«
Die unausgesprochene Aussage entgeht mir nicht: Sobald die Assassinen ihre Kräfte bündeln und uns gezielt angreifen, ist es mit der Sicherheit vorbei.
River lächelt schwach und ich frage mich, was sie in diesem Krieg bisher erlitten hat. Äußerlich scheint sie noch voller Leben und ungebrochen, doch in ihren Augen sehe ich Schrecken und Grauen. Ich bin beeindruckt, dass sie noch so selbstsicher wirkt, während sie mich in das Hauptgebäude führt.
Obwohl durch die großen Fenster die Sonne hereinscheint, brennt Licht im Foyer, dessen Rezeption unbesetzt ist.
Bevor ich nachfragen kann, erklärt meine Begleiterin: »Wir besitzen hier einen eigenen Generator, dadurch können wir die Annehmlichkeiten der Elektrizität genießen. Dennoch wird dazu geraten, möglichst wenig zu benutzen, zum einen um die Assassinen nicht noch mehr auf uns aufmerksam zu machen als ohnehin schon, zum anderen weil unsere Benzinvorräte nicht endlos sind.«
Gerade als sie das sagt, erlischt das Licht und ein junger Mann erhebt sich hinter der Rezeption. Als er River entdeckt, fängt er sofort an zu grinsen.
»Guten Tag, meine Schöne«, begrüßt er sie. River verdreht nur die Augen.
»Verschwendest du mal wieder Strom, Lee?«, fragt sie pikiert, während der Mann auf uns zukommt, die Augen nicht von River nehmend. Wow. Selbst während der Apokalypse sind Flirterei und Gefühle nicht weit.
Mir fällt auf, dass ich dies am eigenen Leib erfahren habe, und mich durchzuckt ein Gefühl des Verlusts, als ich an Atair denke.
»Ich habe etwas für Dr. Clarke gesucht«, erklärt Lee und kommt vor uns zum Stehen. Fragend mustert er mich.
»Das ist Esme, sie ist soeben zu uns gestoßen«, stellt River mich vor und lächelt heimlich, während Lees Blick auf mir ruht. Aha, seine Avancen scheinen sie also gar nicht so sehr zu stören, wie sie vorgibt.
»Hallo. Ich bin Lee«, stellt er sich noch einmal formell vor und streckt mir die Hand hin, die ich schüttle.
»Wir wollten zu einem Arzt?«, meine ich fragend mit einem Blick auf River.
Scheint, als wäre mein Anteil an Lees Aufmerksamkeit vorbei, denn er sieht ebenfalls wieder zu meiner Begleiterin und lächelt, als wäre ihr Anblick die Sonne, die hinter den Wolken hervorbricht.
River gibt sich allerdings ungerührt. Sie wirft ihr blondes Haar nach hinten, bevor sie sich nach rechts dreht.
»Hier entlang, bitte«, verkündet sie und marschiert los, ohne Lee weiter zu beachten. Der Mann seufzt enttäuscht auf, folgt uns aber wortlos, als River mich durch eine Tür auf der rechten Seite führt, über der behelfsmäßig »Krankenstation« geschrieben steht.
Hinter der Tür erwartet uns ein nichtssagender Politikergang mit graublauem Teppich auf dem Boden und weiß gestrichenen Wänden, an denen in regelmäßigen Abständen ein möglichst wenig aufdringliches Kunstwerk hängt. Doch die Umstände haben diesen Ort offensichtlich verändert – alle Türen, die abgehen, sind geöffnet und ich höre das Piepen von EKGs und die Geräusche von Menschen. Auf dem Gang stehen einige leere Betten an der Seite und ein Mann sitzt direkt neben dem Eingang, ein Maschinengewehr über die Schulter gelehnt.
»Solltest du nicht draußen Wache halten, Bob?«, fragt River den Mann neckend, der aus der Betrachtung des Gemäldes ihm gegenüber schreckt.
»Als ob jemand an unseren Eingangsposten vorbeikäme, wenn nicht schon alles verloren wäre«, grummelt dieser, erhebt sich aber, um hinter uns hinauszugehen.
Zwei in Weiß gekleidete Männer, offensichtlich Pfleger, treten aus einem der Krankenzimmer und werfen dem Wachmann einen amüsierten Blick hinterher, bevor sie im nächsten Raum verschwinden.
»Komm«, sagt River und zupft an meinem Oberteil, damit ich ihr folge, »das Wartezimmer ist dort hinten.«
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