neun
Inhaltswarnung: Flashback (Orientierungslosigkeit)
Am nächsten Tag apparierte Remus zu seiner alten, beziehungsweise eigentlich seiner eigenen Wohnung. Alles war ziemlich staubig, an der Tür stapelte sich Post - nichts Wichtiges, nur Werbung, alles andere bekam er ja per Eule praktischerweise immer zu seinem aktuellen Standort - und die Müslischüssel, die er am Morgen des 18. Juni stehen gelassen hatte, um sie später abzuwaschen, hatte einen pelzigen grünen Überzug, den er angewidert mit einem Schwung seines Zauberstabs verschwinden ließ.
Der Tag im Ministerium war inzwischen fast einen Monat her und somit auch das letzte Mal, das Remus sich hier länger aufgehalten hat, als es dauerte, einige Sachen zu greifen. Auch heute war er nicht hier, um zu bleiben - er hatte ein ganz genaues Ziel und das war unter seinem Bett.
Er stieg über einige Kleidungsstücke auf dem Fußboden des kleinen Zimmers. Normalerweise war er sehr ordentlich (Sirius' Lieblingseigenschaft an ihm und auch die ihm meist verhasste, je nachdem ob ihm Remus' Ordnung gerade in den Kram passte oder nicht), aber in seiner Hast, als er sich das Erstbeste gegriffen hatte, hatte er nicht die Geduld gehabt, die nicht gewählten Sachen wieder zusammenzufalten.
Er bückte sich, um die große Pappkiste unter dem Bett hervorzuziehen. Die Staubschicht auf ihr war noch dicker als die über dem Rest der Wohnung, aber trotzdem strich er sie nur hastig mit den Händen weg, bevor er den Karton öffnete.
Obenauf lag eine rot-goldene Gryffindor-Krawatte. Es war das einzige Stück Schuluniform, was Remus behalten hatte - alles andere ̶w̶a̶s̶ ̶n̶o̶c̶h̶ ̶n̶i̶c̶h̶t̶ ̶a̶u̶s̶e̶i̶n̶a̶n̶d̶e̶r̶g̶e̶f̶a̶l̶l̶e̶n̶ ̶w̶a̶r̶ hatte er jüngeren Schülern gegeben. Diese eine Krawatte hatte er noch, als Andenken ̶o̶d̶e̶r̶ ̶v̶i̶e̶l̶l̶e̶i̶c̶h̶t̶,̶ ̶w̶e̶i̶l̶ ̶e̶s̶ ̶d̶i̶e̶ ̶e̶r̶s̶t̶e̶ ̶l̶a̶n̶g̶e̶ ̶H̶e̶r̶r̶e̶n̶k̶r̶a̶w̶a̶t̶t̶e̶ ̶w̶a̶r̶,̶ ̶d̶i̶e̶ ̶e̶r̶ ̶s̶i̶c̶h̶ ̶i̶m̶ ̶S̶o̶m̶m̶e̶r̶ ̶v̶o̶r̶ ̶d̶e̶r̶ ̶s̶i̶e̶b̶t̶e̶n̶ ̶K̶l̶a̶s̶s̶e̶ ̶g̶e̶k̶a̶u̶f̶t̶ ̶h̶a̶t̶t̶e̶.
Unter der Krawatte lag sein Abschlusszeugnis, eine Vorlage für Bewerbungen, die nur an die entsprechende Stelle angepasst werden musste, ein Empfehlungsschreiben von Professor McGonagall und alle Grußkarten, die ihm die anderen zum Geburtstag oder zu Weihnachten geschickt hatten. Und darunter...Fotos. Stapelweise Fotos aus Hogwarts, aus der Zeit danach, aus den Sommerferien, mit den Rumtreibern, mit den Mädchen, mit dem Orden, ein paar sogar mit seinen Eltern. Alles, in sorgfältiger Kleinarbeit, über die Sirius sich damals köstlich amüsiert hatte, geordnet und thematisch mit Bindfäden zu kleinen Päckchen verknotet.
Wenn Remus die Augen schloss, konnte er es vor sich sehen - er selbst auf dem Fußboden ihrer kleinen Wohnung, überall um ihn herum verstreut Bilder, Sirius auf dem Schaukelstuhl, den er auf dem Flohmarkt gefunden und gekauft hatte, "weil man einen Schaukelstuhl braucht, Moony", mit einer riesigen Tasse heißer Schokolade, die Remus gemacht hatte, weil Sirius' Herstellung davon ein Verrat an Schokolade war (er benutzte Instant-Kakaopulver, bei Merlins Bart!).
"Wozu zur Hölle sortierst du das alles?", hatte er gefragt, während er derartig doll mit dem Stuhl geschaukelt hatte, dass Remus schon beim Zuschauen schlecht geworden war.
"Wenn du irgendwann etwas suchst, wirst du es mir danken", hatte er geantwortet und seinem Mann vorgeschlagen, sich in einen Hund zu verwandeln und mit den Nachbarskindern zu spielen, wenn ihm so langweilig war, was der dann auch prompt gemacht hatte.
Remus sah aus dem Fenster hinüber auf die andere Straßenseite, wo das Mietshaus war, in dem sie damals gewohnt hatten. Es war Zufall gewesen, dass er ausgerechnet hier wieder gelandet war. ̶A̶l̶s̶o̶ ̶e̶i̶g̶e̶n̶t̶l̶i̶c̶h̶ ̶n̶i̶c̶h̶t̶,̶ ̶e̶i̶g̶e̶n̶t̶l̶i̶c̶h̶ ̶h̶a̶t̶t̶e̶ ̶e̶r̶ ̶e̶x̶p̶l̶i̶z̶i̶t̶ ̶n̶a̶c̶h̶ ̶e̶i̶n̶e̶m̶ ̶Z̶i̶m̶m̶e̶r̶ ̶h̶i̶e̶r̶ ̶g̶e̶s̶u̶c̶h̶t̶,̶ ̶v̶e̶r̶m̶u̶t̶l̶i̶c̶h̶ ̶u̶m̶ ̶s̶i̶c̶h̶ ̶s̶e̶l̶b̶s̶t̶ ̶z̶u̶ ̶q̶u̶ä̶l̶e̶n̶.̶ Die älteren Damen in der Nachbarschaft, die auch fünfzehn Jahre später noch hier wohnten, hatten sich nach seiner Rückkehr auf ihn gestürzt wie die Geier und er hatte sie gelassen, vor allem, weil er alle Nase lang zum Essen eingeladen wurde ̶u̶n̶d̶ ̶e̶s̶ ̶g̶r̶o̶ß̶a̶r̶t̶i̶g̶ ̶w̶a̶r̶,̶ ̶e̶i̶n̶m̶a̶l̶ ̶w̶i̶r̶k̶l̶i̶c̶h̶ ̶s̶a̶t̶t̶ ̶z̶u̶ ̶w̶e̶r̶d̶e̶n̶. Sie hatten allerdings auch jede Menge unangenehme Fragen gestellt, was mit den ganzen anderen jungen Leuten war, die damals hier ein und aus gegangen waren und Remus hatte es nicht übers Herz gebracht, ihnen zu sagen, dass sie alle gestorben waren ̶o̶d̶e̶r̶ ̶w̶e̶g̶e̶n̶ ̶d̶e̶s ̶M̶o̶r̶d̶es ̶a̶n̶ ̶i̶h̶n̶e̶n̶ ̶i̶m̶ ̶G̶e̶f̶ä̶n̶g̶n̶i̶s̶.
Er riss sich aus der Erinnerung und schnappte sich die Fotos aus ihrer Schulzeit. Sirius war immer noch hungrig nach neuen Geschichten und Remus war sich sicher, dass er von der Hälfte ihrer Streiche noch visuelle Dokumentation hatte, die seine Berichte untermalen konnten (außerdem hatte Tonks nach einem Foto von Sirius als Punk-Teenager gefragt und das wollte Remus definitiv nicht vorenthalten).
Er steckte die Päckchen in die Tasche seines Umhangs und disapparierte.
.:.
Wieder im Grimmauldplatz (Dumbledore musste sich wirklich keine Gedanken um die Schutzzauber machen, sie waren immer noch alle da und absolut ätzend zu überwinden, wann immer man ins Haus wollte) fand er Tonks im Salon, wo - Remus warf einen Blick auf das Handgelenk - sie gerade an einem Armband knüpfte.
Nach einigen Tagen des Hin und Her mit Pronomen hatte Sirius Tonks vorgeschlagen, farbige Armbänder zu tragen, um zu zeigen, ob es ein Er-Tag oder ein Sie-Tag war. In einer riesigen eingestaubten Kiste im generell gemiedenen roten Salon hatten sie ungefähr dreihundert Kilo Wolle in allen möglichen Farben gefunden und Tonks hatte sich ein paar Rot- und Orangetöne und die von den Motten am wenigsten zerfressenen Blautöne herausgenommen und war jetzt eifrig dabei, zu lernen, wie man Armbänder knüpfte.
Sirius, vollkommen unhilfreich, da nicht zu Handarbeit irgendeiner Art fähig, leistete ihr dabei meist Gesellschaft (und versuchte, sie zu überreden, auch ein grünes zu machen, weil "they/them absolut großartige Pronomen sind und du ein Band dafür haben solltest, falls du die irgendwann auch mal benutzen willst"). Als Remus den Raum betrat, war er allerdings nicht zu sehen.
"Wo ist Tatze?", fragte er misstrauisch. Tonks nahm die Augen nicht von ihrer Knüpfarbeit, während sie antwortete:
"Sucht ein T-Shirt."
Remus hielt inne.
"Ein T-Shirt?", wiederholte er. Jetzt drehte sich Tonks doch zu ihm um, das halb fertige Armband baumelte an ihrer Jeans herunter, in der sie das Ende mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt hatte, um es nicht die ganze Zeit festhalten zu müssen. Sie nickte.
"Er hatte eine Vision von einem T-Shirt mit dem Logo des Phönixordens drauf - seine Worte, nicht meine - was er und James anscheinend beide hatten, als sie in meinem Alter waren und er war fest entschlossen, es zu finden."
Remus' skeptische Augenbraue wanderte noch ein Stück weiter nach oben.
"Also ist er hoch zu seinem Zimmer gegangen?", fragte er alarmiert. "Das letzte Mal, als er weiter das Haus erkundet hat, war...nicht gut..."
Tonks blinzelte, dann fluchte sie farbenfroher als selbst Remus es für gewöhnlich tat.
"Verdammt, darüber hab ich gar nicht nachgedacht!" Sie sprang auf. "Meinst du, er hatte wieder ein Flashback?"
Remus zuckte mit den Schultern, ließ aber seine Ausbeute wortlos aufs Sofa fallen und stiefelte in Richtung Treppenhaus.
"Ich glaube, er hatte die meisten Erinnerungen an seine Kindheit schon wieder", sagte er, vor allem, um sich selbst zu beruhigen. "Viel kann da also eigentlich nicht mehr kommen. Vielleicht ist er wirklich nur hoch, um das Shirt zu holen und hat sich dann in seinem Kleiderschrank verloren?"
Er war nicht überzeugt und er wusste, dass Tonks das hören konnte, auf jeden Fall beschleunigten sie ihre Schritte gleichzeitig zu einem leichten Joggen.
"Sirius?", rief Remus, während sie Stockwerk für Stockwerk nach oben eilten, auf jeder Etage kurz einen Blick in jedes Zimmer werfend, bis sie im vierten Stock ankamen und neben einem geräumigen und altmodisch eingerichteten Badezimmer nur zwei Türen übrig waren.
Remus öffnete die zu Sirius' Zimmer, steckte den Kopf hinein, sah sich um, aber der Raum war leer. Er drehte sich wieder zu Tonks um, die ihn fragend musterte und schüttelte den Kopf. Gleichzeitig wanderten ihre Blicke zur zweiten Tür, der von Sirius gegenüber. Sie stand einen Spaltbreit offen und jetzt, wo es still war, hörten sie darin unruhige Schritte, die auf den Dielen hin und her zu laufen schienen.
Vorsichtig schob Tonks die Tür weiter auf. Der Raum war nahezu makellos, grüne Tapete, ein riesiges Wappen der Familie Black an der einen Wand, ein elegantes Bett aus schwarzem Ebenholz mit einem Baldachin und smaragdgrünen Vorhängen nicht unähnlich denen in Hogwarts darunter. Auf der gegenüberliegenden Seite ein großes Fenster mit einer breiten Fensterbank, auf der fein bestickte Kissen lagen, daneben ein prachtvoller Marmorkamin, ein antiker Schreibtisch und ein hohes Regal aus dunklem Holz voller alt und wichtig aussehender Bücher.
Sirius marschierte in der Mitte des Zimmers auf und ab, schien völlig in Gedanken und murmelte unaufhaltsam etwas vor sich hin:
"Dunkle Haare...helles Lachen...Verstecken im Salon...Mutter darf uns nicht finden ...uns?...Hogwarts... Hogwarts!...Slytherin... Nein, natürlich war es keine Absicht! Ich wollte doch nur -" Er hielt direkt vor dem Kamin inne, wirkte für einige Sekunden wie erstarrt, dann drehte er sich ruckartig um und marschierte wieder zurück aufs Bett zu. "Mit diesem Tropfen schwöre ich...schwöre ich...au!" Seine Hand schnappte zu, als hätte er sich an der Handinnenfläche verletzt. Remus und Tonks tauschten einen etwas beunruhigten Blick. "Ich, Sirius Black...ich, Sirius Black...ich, Regulus Bl-" Er blieb wieder stehen, diesmal triumphierend. "Regulus!", rief er begeistert. "Das war der Name! Regulus...Regulus...Regulus...wer bist du?" Er verfiel wieder ins auf und abgehen. "Ich, Regulus Black, schwöre...ich schwöre...
Tonks und Remus tauschten unsichere Blicke, dann trat Remus vorsichtig einen Schritt auf Sirius zu und berührte ihn am Arm.
"Sirius?", fragte er leise. Sirius schreckte zusammen, wirkte für einen Moment orientierungslos, während seine Augen unfokussiert im Raum hin und her huschten, bevor sie für immer längere Augenblicke an Remus hängen blieben. Er taumelte ein wenig in seiner Bewegung und schnell griff Remus fester zu, ließ seine Hand zwischen Sirius' Arm und Brustkorb gleiten, wo er wusste, dass er ihn am besten stabilisieren konnte.
"Regulus", sagte Sirius, als er nicht mehr ganz so sehr schwankte, mit rauer Stimme. "Regulus...er...war gerade noch...?" Er sah sich hektisch um, dann trat er einen Schritt von Remus weg, weit genug, dass dessen Hand ihn nicht mehr erreichen konnte. "Wo bist du?"
Remus zog sich zurück zum Türrahmen, bis er wieder neben Tonks stand. Sie biss sich auf die Lippe.
"Er ist mitten im Flashback", sagte sie leise. "Ich glaube nicht, dass er weiß, wer wir sind. Oder welches Jahr gerade ist."
"Es ist anders, als die letzten Male", meinte Remus etwas hilflos. Bisher hatte Sirius, wenn er einen plötzlichen Schub an Erinnerungen bekam, regungslos irgendwo gesessen, sich durch die Szenen gearbeitet. Jetzt lief er immer noch aufgebracht auf und ab, schien nicht genau zu wissen, was er tat, nicht zu wissen, wo er war, und wenn Remus ehrlich war, hatte er ein wenig Angst, dass er sich mit seinen wilden Armbewegungen früher oder später irgendwo verletzen würde. "Was machen wir jetzt?"
Tonks überlegte für einen Moment, dann ging sie entschlossen auf Sirius zu.
"Hey, Sirius", sagte sie, beinahe beiläufig, in einer Art Plauderton. Er reagierte auf sie genauso wenig wie auf Remus zuvor.
"Regulus?", fragte er wieder, sichtbar orientierungslos.
"Jup", meinte Tonks. Remus hob erstaunt die Augenbrauen. "Ich bins, Regulus."
Seine Stirn legte sich in irritierte Falten und er musterte sie von oben bis unten.
"Was gibt's, Bruderherz?", fragte sie mit schräg gelegtem Kopf. Seine Augen weiteten sich etwas, dann hob er die Hand.
"Bruderh...", stammelte er. "Bruder...Bruder! Du bist mein Bruder!" Dann richtete sich sein Blick nach unten auf Tonks' linke Hand. Er griff danach. "Du blutest."
Tonks sah kurz irritiert nach unten auf ihre Hand, die vollkommen in Ordnung war, ohne Kratzer, ohne Schnitte.
"Es ist nicht so schlimm", sagte sie dann vorsichtig. "Es geht schon wieder."
Sirius schien erleichtert aufzuatmen und sie nutzte die Gelegenheit, ihn sanft zum makellos gemachten, wenn auch etwas eingestaubten Bett zu steuern. Er folgte ihren Bewegungen automatisch, ließ sich von ihr sanft in eine sitzende Position drücken. Dann flatterten seine Augen und fielen zu, während er in die inzwischen viel zu vertraute Stellung sackte, die er immer hatte, wenn ihn eine neue Erinnerung überrollte.
Keine Sorge, ihr habt nicht den Sonntag verschlafen und es ist schon Montag. Ich bin morgen aber den ganzen Tag unterwegs und werde es wahrscheinlich nicht schaffen, das Kapitel hochzuladen. Also schon heute!
Es ist eins der weirdesten Kapitel, die ich je geschrieben habe, nicht wegen des Inhalts, sondern weil ich die erste Hälfte vor über einem Jahr geschrieben habe (es war das letzte, was ich noch geschrieben habe, bevor ich beim Schreiben abgebrochen und den Buchladen angefangen habe) und die andere Hälfte jetzt. Kann ich grundsätzlich nicht empfehlen und werde es in Zukunft vermeiden. Aber hey, jetzt ist es zumindest existent, das muss erstmal reichen.
Nicht vergessen, am Donnerstag kommt endlich wieder ein Kapitel, es wird wieder ein Zwischenkapitel und dementsprechend etwas kürzer. Generell kommen in nächster Zeit viele Erinnerungen, für die nächsten sechs, sieben Wochen wird es also immer montags in der Gegenwart weiter gehen und donnerstags schauen wir in die Vergangenheit :)
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