Training
Ich wachte am nächsten Morgen überraschend ausgeschlafen auf. Stephen und ich waren noch lange auf der Liege sitzen geblieben und ich musste an seiner Schulter eingeschlafen sein, denn aufgewacht war ich zwar im Bett, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich jemals dort hin gelaufen war. Stephen war schon auf, denn das Bett war neben mir leer und kalt. Ich setzte mich auf und streckte mich, bevor mir einfiel, dass ich am vorigen Tag eine Entdeckung gemacht hatte, in die ich meine Aufmerksamkeit investieren wollte - Moms Tagebuch. Sie war der Schlüssel, um alles aus ihrer Sicht sehen zu können. Schnell griff ich nach meiner Tasche, in der ebenfalls Dad's Pulli noch verstaut war. Beides zog ich heraus und legte den Pulli über meine Schulter, während ich die erste Seite des Tagebuches aufschlug. Es fühlte sich ein wenig verboten an, doch ohne dieses Tagebuch würde ich nicht die Antworten bekommen, die mich brennend interessierten und so fing ich an, Moms schöne Handschrift zu lesen.
Liebes Tagebuch.
Heute war ein ruhiger Tag und Becca hat die ganze Nacht durchgeschlafen, ich bin so froh. Sie wird mit jedem Tag größer und klüger und ich habe sie schon im Kindergarten angemeldet, das wird ihr gut tun. Ich war heute im Tierheim, sie haben vor einigen Wochen eine Hündin bekommen, die tragend war und ihre Welpen kurz danach geworfen hat. Ich habe mir einen angeschaut, einen schwarzen, kleinen, seine Augen haben mich sofort gefesselt und ich überlege mir ihn für uns zu holen. Ich glaube, vor allem Becca würde das gut tun, einen Freund mit Fell an ihrer Seite zu haben, nachdem wir Splitter an einen alten Familienfreund von Clint gegeben haben, weil sie sich nicht mit Becca anfreunden konnte. Somit hatte sie einen kinderlosen Haushalt gebraucht. Mit Clint habe ich darüber noch nicht geredet, aber er weiß, dass ich mir schon immer einen Hund gewünscht habe, und ich glaube, es gäbe nichts schöneres, als Becca und ihn zusammen aufwachsen zu sehen, aber ich weiß nicht, wie er reagieren wird. Ich habe das Gefühl, ich verliere die Verbindung zu ihm, er ist sehr abweisend, ich hoffe einfach, dass das nur eine Phase ist und ich bald meinen Ehemann zurück habe, denn ich vermisse die einfache und schöne Zeit, die wir ganz am Anfang unserer Beziehung hatten. Ich möchte mit niemand darüber reden, das schaffen wir schon selbst, bisher haben wir immer alles zusammen geschafft.
Der Eintrag endete und ich schaute auf, um das Gelesene zu verdauen, als ich Stephen in der Tür stehen sah, wie er mich musterte, ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen.
"Du bist wach, das ist gut. Ich hab dir einen Fruchtteller zusammen geschnitten, du solltest dich stärken, bevor wir anfangen mit trainieren."
Ich nickte, stand auf und legte das Tagebuch und den Pullover auf mein Kopfkissen, um später weiter darin lesen zu können. Ich setzte mich auf die weiße Sitzgarnitur unter den Sonnenschirm, der mich vor der Morgensonne schützte und fing an, die Früchte zu essen, die aus Trauben, Ananas, Honigmelone und Orangen bestanden.
"Hast du schon eine Idee, wie wir mit dem Training anfangen sollen?" meinte ich zwischen einem Stück Ananas und Melone, doch er schüttelte den Kopf.
"Nicht wirklich, ich habe noch nie jemanden trainiert, geschweige denn jemanden wie dich. Ich bin mir nicht sicher, ob es deine Fähigkeit in den Büchern gibt oder ob sie neu ist aufgrund der Ereignisse. Aber wir finden eine Lösung, wir werden zusammen lernen, weil ich an uns glaube."
Sein Lächeln war aufrichtig und wieder merkte ich, wie ich aufwachsen hätte sollen - mit Ehrlichkeit, ohne Verbote und die ständigen Streits. Onkel Steve hatte mir das ganze nur noch schwieriger gemacht und alle waren stehen geblieben und in ihrer Trauer versunken, anstatt Lösungen zu finden. Ich war wirklich froh, dass Stephen noch lebte und ich ihn an meiner Seite wusste.
Schnell hatte ich mein Frühstück auf, welches ich zum ersten Mal seit langem komplett gegessen hatte und schaute meinen Gegenüber erwartungsvoll an. Er schwieg, schien in Gedanken zu sein und ich schaute ihn weiter an, mein Blick wurde jedoch zunehmend verwirrter.
"Meditieren wir jetzt? Ich weiß nicht genau, was ich machen soll." meinte ich nach einiger Zeit. Er schreckte aus seinen Gedanken und schaute mich entschuldigend an.
"Komm mit." meinte er und führte mich in die Nähe des Pools. "Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich dich zum Springen bekomme, weil ich nicht weiß, wie deine Fähigkeit funktioniert und folglich keine Ahnung habe, ob meine Methode dir ebenfalls hilft. Letztes Mal war es Wut, starke Gefühle, aber ich möchte ja, dass du auf Abruf springen kannst." Er setzte sich auf den Boden und wies mir an, dass ich mich zu ihm setzen sollte. "Schließ die Augen."
Ich tat wie befohlen, nachdem ich mich im Schneidersitz neben ihn platziert hatte und schloss die Augen.
"Atme tief durch und denk an deine Eltern, das scheint ein guter Trigger zu sein."
Wieder tat ich, was er sagte und dachte an eine der wenigen Erinnerungen, die ich an meine Eltern hatte. Und an Buddy, ich dachte an meinen verstorbenen Labradormischling. Stephen griff nach meiner Hand und gab mir Kraft, während ich weiterhin versuchte, das Gefühl herbeizurufen, welches ich in der Besprechung gehabt hatte, kurz, bevor ich gesprungen war, doch vergeblich. Schwer atmete ich aus und öffnete die Augen.
"Ich spüre nichts, rein gar nichts. Am Ende bin ich doch nicht die Richtige für das ganze, am Ende kann ich nicht mal springen." fing ich genervt an, den Tränen nahe.
"Becca, wir haben es gerade das erste Mal probiert, du kannst nicht erwarten, dass du es gleich hinbekommst." meinte er nun und schaute mich an, in seinem Blick lag Besorgnis, die er verstecken wollte, aber ich konnte sie sehen.
"Was ist, wenn das nicht geht? Was ist, wenn-" fing ich erneut an, doch Stephen unterbrach mich dieses Mal.
"Ich möchte, dass du das Gefühl von gestern wieder in deinen Kopf rufst. Das Gefühl der Wut, kurz vor dem Sprung, und ich möchte, dass du es mir erklärst."
Ich seufzte kurz, bevor ich die Augen schloss und die gestrige Drama-Situation wieder in meinen Kopf rief. Ich spürte die Wut, die ich empfand, als ich an Steve dachte und seinen Kontrollzwang, ich spürte die Hilfslosigkeit.
"Ich habe mich wütend gefühlt, weil Steve ein Kontrollfreak ist und niemanden mehr irgendwas machen lässt, er muss alles unter Kontrolle haben und jeder muss auf ihn hören. Ich fühlte mich aber auch hilflos, weil ich nichts gegen ihn ausrichten kann. Er würde mich nie ausziehen lassen, nicht jetzt, auch nicht, wenn ich volljährig bin in 14 Monaten, weil er Angst hat, dass mit mir das letzte bisschen meiner Mutter geht, was er noch hat. Diese Hilfslosigkeit hat mich so erdrückt, weil ich keine Freiheit hatte, weil er mich so runter gedrückt hat. Diese Wut, dieses Gefühl der Hilfslosigkeit, das war das, was ich damals gefühlt hatte." meinte ich leise und bestimmt. Viel zu lang hatte ich unter Steves einsamer Herrschaft leben müssen und ich wurde mit jedem Moment, den ich nicht mehr bei ihm war, freier, und es tat mir einfach super gut.
"Das ist doch schon mal ein guter Start. Wenn du springen möchtest, halte dich an dieses Gefühl. Ich bin bei dir, versprochen, aber du musst den Sprung leiten, damit wir an deine Erinnerungen können." sprach er mir zu und nickte mir dann zu, bevor er mir einen weiteren Versuch ließ. Wieder schloss ich meine Augen und dachte an genau dieses Gefühl, welches ich hatte, wenn ich bei Steve war. Wut. Zuerst tat sich wieder nichts und in mir baute sich Frustration auf, doch kurz bevor ich aufgeben wollte, fing die Welt sich an zu drehen - und als ich das nächste Mal die Augen öffnete, stand ich in Moms und Dads Küche. Es war nicht ganz so eingerichtet, wie ich es in Erinnerung hatte, viele meiner Kisten mit Spielzeugen fehlte noch und ein Laufstall stand im Wohnzimmer. Ich konnte also noch nicht so alt sein in dieser Erinnerung und ich fragte mich, wie ich mich daran denn überhaupt erinnern konnte. Auch Stephen schien verwirrt.
Als ich mich genauer umsah, sah ich Licht im ersten Stock und hörte mein leises Kinderlachen. Ich folgte diesem Geräusch, Stephens Hand fest umschlossen, denn ich hatte Angst, dass ich meinen Verstand verlieren würde, wenn ich ihn losließ. Oben angekommen folgte ich der Stimme meiner Mutter und meinem leisen Lachen bis zu meinem Zimmer, dessen Türe angelehnt war. Sanft drückte ich dagegen, dass sie sich weiter öffnete und Stephen wollte gerade den Mund aufmachen, um zu protestieren, da schnellte der Blick meiner Mutter zur Türe und ihr Blick war verwirrt - jedoch weich und voller Sänfte.
"Becca." meinte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich war kurz verwirrt, dass sie wusste, wer ich war, denn das letzte Mal, als ich hier gewesen war, war aus ihrer Sicht in der Zukunft. "Ich bin froh, dass du wieder hier bist."
"Du kannst dich an mich erinnern?" fragte ich sie, bevor ich die Türe ganz öffnete und zu ihr lief.
"Natürlich, das letzte Mal warst du vor einer Stunde hier und hast mir erzählt, dass du mit Stephen gerade trainierst. Von Zeitsprüngen hast du mir erzählt und auch, dass es deinen Vater und mich dank dem Wesen Thanos nicht mehr gibt."
Sie stand auf und zog mich in ihre Arme, mein Vergangenheits-ich schaute mich erst verwirrt an, dann lächelte sie breit und klatschte in die Hände, während meine Sicht verschwamm, weil sich Tränen in meinen Augen bildeten. Wie lange ich hier rauf gewartet hatte, ich konnte es nicht fassen. Nach meiner kurzen, sehr perplexen Phase, legte ich meine Arme um meine Mutter und brach in Tränen aus.
"Mom, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisse." schluchzte ich und wollte sie nicht mehr loslassen. "Ich vermisse dich und Dad so sehr."
Sie nickte und löste sich von mir. Stephen griff erneut nach meiner Hand und wollte mich wegziehen, doch ich blieb standfest. So schnell würde mich nichts mehr von hier wegbekommen.
"Becca, ich muss dich dran erinnern, dass wir nicht zu sehr in die Vergangenheit eingreifen sollten, solange uns die Konsequenzen nicht bewusst sind." meinte dieser verzweifelt, doch es schien so, als könnte nur ich ihn hören, denn meine Mutter zeigte keine Reaktion darauf, dass auch er hier war.
"Wo ist Dad?" fragte ich und ignorierte Stephen, ich brauchte das einfach, ich musste auch meinen Vater sehen.
"Er müsste jeden Moment wieder reinkommen, er ist Holz machen vor unserem Schuppen. Als ich vorhin kurz bei ihm war, war er schon fast fertig gewesen." Sie lächelte mich breit an und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. "Vergiss bitte nie, wie unglaublich stolz ich auf dich bin, meine Kleine."
Ich spürte, wie sich meine Welt wieder zu drehen begann, mein Zeichen, dass meine Zeit um war und ich zog verzweifelt meine Mutter erneut an mich.
"Mom, ich brauche dich, ich brauche euch. Dich und Dad, ich kann nicht mehr, ich kann das nicht alleine, ich-"
Und noch bevor ich meinen Satz zu Ende führen konnte, saß ich wieder im Gras beim Pool und brach in Tränen aus, bevor ich von Stephen in die Arme gezogen wurde.
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