21. Dezember 2006
Ihre Worte hängen an mir. Sie verfolgen mich Tag und Nacht, in meine Träume, Albträume. Die zarte Stimme von Alice höre ich, als stände sie neben mir, doch das tut sie nicht. Nicht mehr.
Ihre Stimme, ihre Hände, ihre Küsse. Ich fühle sie heute, wie noch vor einem halben Jahr. Erst drei Wochen ist es her, dass man ihre Leiche im Colorado River gefunden hat. Nur drei Wochen. Die Zeit vergeht furchtbar langsam, doch immer noch zu schnell, dafür, dass sie nicht mehr da ist. Wer hat der Welt erlaubt, sich weiter zu drehen?
"Mister Miles, würden Sie bitte meine Frage beantworten?", ertönt plötzlich die Stimme meiner Physiklehrerin vor mir. Sie sieht mich mit einem erbostem Gesichtsausdruck an. Ihre Wangen sind leicht gerötet, vermutlich aus Verärgerung. Ihre Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebunden, wie immer eigentlich. Miss Lee steht vor meinem Tisch mit verschränkten Armen. Wie immer, eigentlich. Ich drehe mich kurz um. In der letzten Reihe, ganz hinten am Fenster, steht Alices Stuhl, leer. Wie immer, seit Alice starb, eigentlich.
Ich seufze leicht. Danach wende ich mich wieder zu meiner Lehrerin. Ungeduldig starrt sie zu mir. "Ich kann ihre Frage nicht beantworten", sage ich ihr deshalb." "Dann sollten Sie mir wenigstens zuhören und nicht an ihre verstorbene Mitschülerin denken. Wir leben in der Gegenwart, was geschehen ist, ist geschehen. Was zählt ist das jetzt."
Ich sehe ein Hauch von Mitleid und Trauer in ihren Augen. Doch eben so schnell ist er wieder verschwunden und sie fährt mit dem Unterricht fort. Wer auch immer dieser Frau das Mitgefühl gestohlen hat, gebe es ihr bitte zurück.
Also verfolge ich mehr oder weniger aufmerksam den Unterricht von Miss Lee. Inzwischen kenne ich wirklich jeden Fleck an der Stelle, an der Alices Stuhl steht. Im nächsten Schuljahr wird dieser Stuhl einem anderen Schüler gehören. Jemand, der Alice wahrscheinlich nie gekannt hat. Der nicht weiß, dass dieser Stuhl meiner verstorbenen Liebe gehört.
Und Chloe, Ava, Ethan, Scott, Louise und ich werden die einzigen sein, die sich für immer an sie erinnern werden. Denn Thea kann es nicht mehr. So, wie wir alle eines Tages tot sein werden, sind Thea und Alice tot.
Die Stunden an diesem Tag ziehen an mir vorbei. Nach acht Stunden, von denen ich kaum etwas mitbekomme, mache ich mich auf den Weg. Ich würde Louise Wallace gerne noch einen schönen Tag gönnen. Aber nachdem ich bei ihr gewesen wäre um ihr den Pappkarton in die Hände zu drücken, würde sich ihr Leben komplett verändern. Sie würde Alice aus einem anderen Blickwinkel sehen.
Sie würde heraus finden, warum sie Selbstmord begangen hat.
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