18. Dezember 2006 |5|
Der Tag war eine wortwörtliche Katastrophe. Wir haben heute das Thema Selbstmord in Sozialkunde durchgenommen. Ethan, Chloe, Ava und schließlich auch ich saßen wie erstarrt da und sahen überall hin, bloß nicht gegenseitig zu uns.
Während Mrs Aston einige Startistiken runterratterte, vergrub ich mich direkt neben dem Sekundenzeiger meiner Armbanduhr. Am liebsten hätte ich mich an ihn gehangen. Vielleicht könnte ich unbemerkt unter den Tischen durchkriechen oder mich mit der Begründung aufs Klo zu müssen aus dem Klassenzimmer schleichen und Actionfilm-mäßig auf einen Transporter springen um nach Hause zu kommen- doch ich blieb, wo ich war.
Nach ausführlicher Erklärung, Ursachen und Methoden erlöste mich endlich die Pausenglocke. Ich konnte mich nicht erinnern, je so schnell Fahrrad gefahren zu sein. Ich kam 10 Minuten früher als gewöhnlich Zuhause an und verkroch mich schnell in mein Zimmer.
Und jetzt liege ich wieder auf dem Boden, in der Hand eine heiße Schokolade mit extra viel Marshmallows. Vor mir liegt Alice's Box mit den CDs, mein CD Player abspielbereit im Regal. Ich trödele rum und nehme die nächste CD, CD 5, nur langsam aus der Hülle. Eben so schleppend lege ich sie ein und drücke Play, ängstlich, was jetzt folgen wird.
"Wer hat es noch nicht erlebt, jemand lässt einen dummen Spruch über dich fallen, irgendwer schubst dich im Gang oder von dir werden ein paar Euro verlangt, damit man dich nicht verprügelt. Bei mir war es anders, schlimmer."
Ich hasse die oder den der ihr das angetan hat. Mobbing.
"Unmittelbar nach dem Klassenausflug, ihr erinnert euch? Ist das hier passiert. Ich sag bloß: Hab immer soviel eingesteckt und niemals ausgeteilt. Nun, bei dir, Louise Wallace, war es andersrum. Also wirklich meine Liebe, ich danke dir für alles."
Ihre Stimme trieft vor Sarkasmus.
"All die Beleidigungen, Sprüche und im Klo ertrinken, das war nicht schön, aber kien Weltuntergang. Aber etwas war schlimmer. Deine tollen Fotos. Allesamt von Ethan, oh ja. Bilder im Bus, Bilder auf dem Klo und in den Gängen, oder wie wär's mit dem auf dem Auto meines Vaters? Ziemlich dreist sowas zu fotographieren, zu photoshoppen und in der Klassengruppe zu posten, oder? Ach, verzeih mir, ich darf natürlich nichts gegen die neuen, tollen Gerüchte der Schlampe Alice Clark sagen."
Ich drehe mich auf den Rücken und versuche zu verstehen, warum man sowas tut. Alice ist schon so viel passiert und jetzt noch das.
"Doch besonders interessant war der eine Schultag, an dem eines dieser Bilder ausgedruckt wurde. Und ratet mal wer es, an einem Mülleimer an der Bushaltestelle, fand. Genau, ich. Ich war sehr überrascht, ein Bild von mir selbst an einem Mülleimer direkt neben der Schule zu finden. Noch dazu eines, das mich klar als Schlampe darstellte. Scheiße, Louise, ich bin vierzehn."
Dieser Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Vierzehn Jahre.
"Aber nach den ganzen Bildern, die ich schon selbst gesehen hatte, war es auch keine Überraschung mehr, es dort zu sehen. Tja, ihr wollt wissen was auf dem Bild war? Nun, das werde ich euch nicht verraten. Ich kann euch nur eins sagen, die meisten von euch werden es wohl schon selbst gesehen haben, außerdem war eins der beliebtesten Bilder in unserer allerliebsten Gruppe. Im Übrigen auch im Mädchenklo, mit ein paar liebevollen Kommentaren."
Es tut mir leid Alice . Du hast es nicht verdient, so behandelt zu werden. Die ganzen Bilder, all die Sprüche und die Beleidigungen an den Kopf geworfen zu bekommen. Es war nicht gerecht, dass du, die jetzt schon so kaputt war, nur noch weiter verletzt wurde.
"Und wer für dieses Bild verantwortlich war? Nein, diesmal war es nicht Ethans Bild, diesmal war es deine eigene Entwicklung Louise. Wie ich das herausgefunden habe? Na ja, so schwer war das auch nicht. Ein paar Tage später habe ich nämlich eine Kopie davon gefunden. Einmal das Bild zu sehen war schon schrecklich, aber zweimal? Und später habe ich auch herausgefunden, das ist nicht nur eine, nicht nur zwei, sondern ganze 15 Kopien gab, nur von diesem einen Bild. Ich weiß echt nicht, was ihr alle damit bemacht habt. Ich will gar nicht wissen, was ihr damit gemacht habt. Aber kommen wir zu diesem Bild, nennen wir es das 'Mobbing Bild'."
Ich hasse euch. Und ganz besonders hasse ich Louise.
"Wie gesagt, ich werde nicht sagen, was er auf dem Bild sehen konntet. Ja, konntet. Ich habe mich darum gekümmert, dass wenigstens die Kopien von diesem Bild für immer weg sind. Nicht dass euch das davon abhalten würde, sie erneut drucken zu können. Die macht über den Klassenchat habe ich nicht. Liebe Louise, ich hoffe wirklich, du kannst mir diesen Wunsch erfüllen und du vernichtest jegliche Bilder."
Jetzt ist es leider zu spät, zu spät um irgendwas noch zu ändern.
"Ich empfinde von allen Bildern, die ich von mir sah, dieses als das Schlimmste. Das Mädchenklo war überfüllt von diesen "Postern". Und da das nicht genug war, wurden die Wände noch mit Sprüchen verkleistert, die Bilder mit Schlampe, Bitch und Hure signiert und auf den Gängen würde ich zum Gespött der ganzen Schülerschaft. Sie tuschelten und lachten, sie zeigten mit dem Finger auf mich und riefen mir verletzende Worte zu. Ha, ich war allein. Seit ich Caleb von mir gestoßen hatte, war ich allein."
Ich habe es natürlich mitbekommen. Aber ich Idiot habe nichts dagegen getan.
"Und lasst mal raten was Louise mir am 23. September zurief- "Bring dich doch um, mit deinem Gesicht würde ich das selbe tun." - und genau das führte zu meinem ersten Selbstmordversuch."
Mir ist schlecht. Alice hat es mehr als einmal versucht. Doch beim letzten Mal hat sie gewonnen.
"Als ich an diesem Tag von der Schule kam, überlegte ich mir die schmerzfreieste Methode um die Erde zu verlassen. Es gab wirklich viel Auswahl. Feuer zum Beispiel. Doch ich wollte nicht zusätzlich meine Familie in Gefahr bringen und womöglich noch gerettet werden. Das Nächste, was mir einfiel, war eine Waffe. Ein sicherer Weg, aber schwer zu besorgen. Schließlich entschloss ich mich für Tabletten. Kleine, unschuldige weiße Schlaftabletten, die auch den Schlaf für immer bedeuten konnten."
Genug. Ich muss an die frische Luft. So entscheide ich mich für Alice's Todesort. Die kleine Klippe ist gut auf der Karte zu sehen, also folge ich ihr. Ich laufe wieder in die Küche, schnappe mir die CD und lege sie in den Diskmak. Die Karte kommt auch noch in meinen Rucksack und so radle ich los, auf dem Weg zur höchsten Klippe Colorados.
"Mein penner von Vater hat dank seinem Alkoholkonsum an Schlafstörungen gelitten, was mir in diesem Moment dann half. Es war nicht wirklich kompliziert, sie zu finden."
Die Apothekerin sollte auch auf die CD's.
"Dann war ich wirklich kurz davor, eine Hand davon hinunter zu schlucken. Was soll ich sagen. Ich habe es nicht übers Herz bekommen. Ich konnte nicht einfach so aus der Welt verschwinden, so viel hätte noch vor mir liegen können. Eigentlich hatte ich auch noch nicht gut genug über Selbstmord nachgedacht. Ich bereue es heute, dass dieser Tag nicht der war, an dem ich ging. Stattdessen habe ich mir den zweiten Dezember, heute ausgesucht. Das hat einen Grund."
Auf dem steinigen Waldweg sehe ich schon von weitem die Steinebene, die nur mit einem kleinen Geländer geschützt ist. Dort angekommen, lehne ich mich an das Geländer und schaue in die Ferne. Unter mir höre ich das Wasser rauschen. Dort unten tobt der Fluss, in dem Alice ertrunken ist. Obwohl sie mir es geraten hat, bin ich zurück. An diesem Ort sind so viele glückliche Erinnerungen entstanden.
"Am zweiten Dezember 2004 passierte etwas, das mich zum ersten Mal runterzog. Es war ebenfalls deine Geste, Louise. Lass dir gesagt haben: Du hast mich damals zerstört, hast mich am 23. September zerstört und tust es noch heute. Von daher ist es doch gut, das du ein Teil dieser CD's bist. Ein Grund, warum ich nicht mehr lebe, wenn du das anhörst. Doch das soll eines der Geheimnisse sein, die ich nicht aufklären werde. Tu mir doch den Gefallen Louise, und klär die Unwissenden auf."
Was hat Alice wohl in ihren letzten Minuten gedacht? An wen hat sie gedacht? Was waren ihre letzten Worte? Ich werde es nie erfahren, denn jetzt ist sie für immer weg.
"Ich habe es an diesem Tag nicht getan, aber heute werde ich es tun. Schon verrückt, dass ich, wenn ihr das hört, bereits tot bin. Aber nun gibt es kein zurück mehr. Unter anderem, weil ich noch nicht fertig bin. Zwei CD's liegen noch vor uns. Ach, und meine "Y" CD. Was es damit wohl auf sich hat? Kopf hoch, ihr werdet es noch erfahren. Aber erstmal: Das war deine Geschichte, Louise. Du hast mich wirklich verletzt, in dem du Lügen verbreitet hast. Aber es ist schon gut. Alles wird wieder gut."
Das stimmt nicht. Jetzt kann es nicht mehr gut werden. Ich lasse mich auf die Knie sinken, während ich Alice's letzten Worten über Louise lausche.
"Louise, ich danke dir. Du bist ein Grund, warum ich erkannt habe, dass es auf dieser Welt keinen Platz für mich gibt. Kopf hoch, die Sonne wird wieder scheinen, richtig? Machts gut."
Rattern, dann ist alles stumm. Louise's Geschichte ist vorbei. Es wird Zeit, nach Hause zu gehen.
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