16. Dezember 2006 |3|
Ich habe nicht geschlafen. Wie könnte ich auch? Ich habe Glück, dass heute Samstag ist, keine Schule. Ich habe versucht, die CDs zu verarbeiten. Ich habe es nicht geschafft. Und wenn selbst diese CDs mich schon so fertig gemacht haben, was wird bei meiner passieren? Ich will es nicht wissen. Aber ich muss wissen, wieso Alice sich das Leben genommen hat. Vielleicht finde ich dann Frieden.
Ich liege auf dem Boden meines Zimmers und stütze meinen Kopf auf meinen verschränkten Armen ab. Jeden Tag eine CD, habe ich mir selbst gesagt. Also ist heute Nummer drei dran. Ob es meine Nummer ist? Steckt meine Geschichte hinter dieser CD?
Also lege ich CD 3 in meinen CD Recorder - vielleicht steige ich später wieder auf den Diskmac um.
"Ihr seid wieder da."
Offensichtlich.
"Gut, ich lass euch nicht lange zappeln. Die Hoffnung stirbt zuletzt."
Das ist also der nächste Spruch. Wer hat Alice denn die Hoffnung genommen?
"Ich bin sicher, du weißt genau das du gemeint bist, oder Chloe?"
Ich keuche und drehe mich auf den Rücken. Erfahre ich jetzt endlich was Chloe getan hat? Chloe, die vor ein paar Tagen vor meiner Tür stand.
"Chloe Brown. Eine von diesen Badgirls, die keine Gefühle zeigen und in der Ecke heimlich rauchen. Ja, Chloe, du gehörst dazu. Schade nur, dass so ein stilles Mädchen auch ein Grund ist, wieso ich jetzt hierstehe."
Das alles macht mich fertig. Warum hatte Alice dieses schreckliche Schicksal?
"Deine Geschichte beginnt so ziemlich genau an der Stelle, an der Ethans aufhört. An dem Tag, an dem die Bilder herum geschickt wurden, traf ich kurz vor der vierten Stunde auf dich, Chloe. Du warst neu an der Schule, das habe ich genau bemerkt. Du standest leicht verunsichert im Gang und hast hektisch durch deine Hefter geschaut. Offensichtlich warst du überfordert. Zwar hast du versucht, dir nichts anmerken zulassen, bist aber gescheitert."
Ich war in der Stunde auch da. Ich hab die Beiden zur Tür reinkommen sehen, Alice hat viel geredet und immer wieder auf ein paar Klassenkameraden gezeigt. Chloe hat desinteressiert geschaut und ist zu ihrem zugeteilten Platz geschlürft, neben Alice. Keiner weiß warum, aber dieser Stuhl war immer unbesetzt.
"Ich bin zu dir gelaufen; um mich von allem abzulenken und habe mich kurz vorgestellt. Ich habe gefragt, ob ich dir helfen kann. Zwar hast du etwas überlegt, aber dann leicht genickt. Kurz hast du gesagt, in welche Jahrgangsstufe du gehst, so das ich mitbekam, das wir jetzt den selben Kurs hatten. Ich hab genickt und dich zum Englischkurs von Frau Hangton geführt. Du bist direkt zur Lehrerin vor gegangen, weshalb ich mich lieber auf meinen Platz ganz hinten am Fenster verkrochen habe."
Genau dieser Platz macht mich fertig.
"Schließlich musstest du dich wohl oder übel neben mich setzten, da das der einzige, freie Stuhl war. Das war der Anfang, unser erstes Treffen, weißt du noch? Ich weiß nicht genau wie das passiert ist, doch irgendwann sind wir Freunde geworden. War es an dem regnerischen Nachmittag, an dem du plötzlich vor meiner Tür standst, da du pitschnass warst? Oder bei dem Schulprojekt, das wir für Physik vorbereiten mussten, weshalb wir uns im Flying W. Wranglers getroffen haben? Ich weiß es nicht, aber bis zu einem gewissen Punkt, war die Zeit mit dir wundervoll."
Das Wranglers lässt mich für einen Moment in Erinnerungen schwelgen.
"Unsere Freundschaft endete da, wo sie vielleicht angefangen hat. Im Flying W. Wranglers. Deshalb ist das unser Ort. Das kleine, gemütliche Restaurant, das nördlich vom Bredminster liegt. Wer dort noch nicht war, empfehle ich hinzugehen. Es ist sehr schön auf Western angelegt, eine alte Ranch und es gibt super Menüs. Schade eigentlich, das ich jetzt nicht mehr hingehen werde. Ich will euch von einem meiner Besuche dort erzählen, womit dein schöner Teil der Geschichte endet, Chloe."
Alice Clark war wundervoll. Sie war unberechenbar, aber wunderschön. Ich drücke die Pausentaste und sehe sie vor Augen. Alice war durchschnittlich groß, nicht sehr dick, aber auch nicht dünn. Perfektes Mittelfeld eben. Ihre blonden, leicht gewellten Haare fallen ihr vor meinem inneren Auge über ihre Schulter. Sie lächelt und hebt ihre Hand, bevor sie verschwindet. Ich lächle leicht beider Erinnerung an sie. Ich bin ein Schwachkopf. Ich hab es nicht verdient, mich zu freuen.
"Es war an einem Frühlingstag, die Sonne schien und es war mollig warm. Ich bin früh zur Schule gegangen, wie jeden Tag. Du kamst mir auf dem Gang direkt entgegen und wir haben uns umarmt. Sofort hast du vorgeschlagen, zum Wranglers zugehen. Natürlich stimmte ich zu, und so verabredeten wir uns für diesen Tag in unserem Lieblingsrestaurant. Zusammen sind wir zum Deutschkurs gegangen, den wir an diesem Tag hatten."
Ich habe nie wirklich etwas von deren Freundschaft mitbekommen. Ich weiß nichts ob ich blind war, oder ob ich einfach nicht auf Chloe geachtet habe. Das erste Mal, als ich die Beiden zusammen gesehen habe, war im Physikkurs. Die beiden sahen allerdings nicht so aus, als wären sie beste Freunde. Im Gegenteil, wir sahen sich gegenseitig wütend an und sprachen nicht miteinander.
"Ich habe in dieser Stunde sehr viel nachgedacht. Über alles. Alles, was wir in den letzten Wochen passiert ist. Erst die Sache mit der zerbrochenen Freundschaft, dann die Sache mit Ethans Verrat und am Ende diese Bilder. Und ratet mal, wer in dieser Stunde eine Bank vor uns saß. Ethan Bullstrout. So schnell taucht dein Name wieder auf, Ethan."
Und wer saß neben Ethan? Ich. Aber vielleicht ist es nicht nötig, meinen Namen hier zu nennen. Oder sie hat mich garnicht bemerkt.
"Es tut mir leid, Ethan, wirklich. Du bist kein schlechter Mensch. Vielleicht habe ich auch bloß überreagiert, damals im Bus. Aber ich habe mich eins gefragt, Warum? Warum hast du das getan, Ethan? Warum musstest du diese Bilder verschicken? Ich merkte nicht, dass ich die letzten Sätze laut aussprach."
Ich erinnere mich. Das hat Alice gesagt, ist aufgesprungen, hat Ethan geschlagen und ist aus dem Zimmer gerannt.
"Ich sah auf und ließ meinen Blick zu dir gleiten, Ethan. Du hast zu mir geblickt und ein Funke von Schuld war zu sehen. Das hat mich nicht gekümmert und ich bin aufgesprungen, zu dir gelaufen und habe dir eine Ohrfeige verpasst. Bevor irgendwer reagieren konnte, rannte ich aus dem Raum. Problem: eine verliebte Chloe."
Uff. Alice tut mir leid.
"Chloe, du warst schon länger in Ethan verschossen, das hatte ich als deine beste Freundin natürlich bemerkt. Ich saß den Rest der Stunde dann auf dem Klo und habe geheult. Ich glaube tatsächlich, dass du es warst, die irgendwann auftauchte, um mich zu fragen, was los sei. Keine Hanung, vielleicht musste auch ein anderes Mädchen herhalten, die zufällig da war. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich habe nur über Ethan geflucht und du hast mich irgendwann angeschrien, dass ich das bitte unterlassen sollte und bist von dannen gegangen. Ja, ich bin mir sicher, dass du es warst."
Liebe macht Blind, könnte Chloes Spruch auch heißen.
"Glücklicherweise hatten wir an diesem Tag keine Stunden mehr zusammen. Das wäre gewaltig schief gelaufen. Trotz allem bin ich am Nachmittag zum Treffen gegangen. Ich war überrascht, als du auch aufgekreuzt bist. Schweigend saßen wir an unserem Stammtisch. Ich trank eine heiße Schokolade, mit Marshmallows."
Sie lächelte. In ihrer Stimme hört man es. Alice hatte gelächelt. Bedauernd stelle ich fest, dass dieses Lächeln vermutlich ihr Letztes war.
"Du hattest, untypisch für dich, einen Kaffee bestellt, den du getrunken hast. Du hast mir nicht in die Augen gesehen, obwohl ich ständig zu dir gesehen habe. Tja, schon wenige Minuten später endet deine Geschichte, Chloe."
Alice war so einsam... Ihre Mutter war nie zu Hause, ihr Vater trank viel und war irgendwann an dem Alkoholkonsum gestorben. Und nun hatte sie auch schon zwei ihrer besten Freunde verloren. In ihrer Schule hatte ein Junge sie belästigt und Gerüchte über das arme, grade mal 14 Jahre alte Mädchen verbreitet. Was kommt denn noch alles?
"Du hast irgendwann geflüstert: "Warum?". Dann platzte die ganze Geschichte aus mir heraus. Ich erzählte von der Sache im Bus, den Bildern und Gerüchten. Ich erinnere mich noch genau an deinen Gesichtsausdruck. Es war eine Mischung aus Argwohn, Angst, Wut, Traurigkeit und Verzweiflung. Plötzlich bist du aufgesprungen. Ich glaube, du hast lange nichts von den Gerüchten mitbekommen. Anders kann ich mir es nicht erklären, dass du plötzlich angefangen hast, mich als Lügnerin und Schlampe zu betiteln. Ha, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Du hast deinen Kaffee über den Tisch verteilt, was dich nicht die Bohne juckte. Und schließlich hast du mich geschlagen."
Und dahin war eine weitere Freundschaft, die Alice vielleicht das Leben gerettet hätte.
"Erschrocken habe ich dich angesehen, als du davon gerannt bist. Ich hätte gerne etwas Hoffnung in diesem Moment gebrauchen können. Freunde. Und irgendwie habe ich das dann auch geschafft. Wen? Legt CD vier ein, für die Antwort."
Wie ich dieses Rauschen hasse.
"Ach ja, Chloe, Liebes, bleib dran. Du kommst noch einmal vor."
Nun höre ich auch das leise Klicken und Alices Stimme verstummt.
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