Von Rehen und Seelöwen
Ryan, Luke, Noah und Lennox kamen im Lager an, als der Himmel langsam von grauen Wolken verdunkelt wurde. Doch nicht einmal der anstehende Regen konnte Lennox' Laune senken. Denn nun rannte Enya auf sie zu und als sie die Tüten bei Lennox sah und dieser grinste, sprang sie in seine Arme und klammerte sich an ihm fest. Sie quietsche aufgeregt.
„Wow, wie hast du das denn geschafft? Sind die für uns? Du bist echt ein Superninjadiebesjungenseelöwe!"
Lennox musste schon wieder lachen und wäre beinahe zu Boden gesunken. So lange hatte er sich nicht mehr so leicht gefühlt, einfach bloß lachen können, denn es hatte nichts gegeben, was es wert gewesen wäre. Dann fragte er:
„Seelöwe?"
„Jaaa, Seelöwen sind super! Richtig niedlich und sie können voll schnell schwimmen und tauchen!"
„Sie fährt voll drauf ab.", sagte Luna, die grade aus dem Unterschlupf getreten war.
Ihr Blick fiel, wie zuvor Enyas, auf das Essen und sie erstarrte. Dann sah Lennox Wärme und Dankbarkeit in ihren Augen.
„Lasst uns rein gehen, es sieht nach Regen aus!", warf Ryan ein.
Wir folgten ihm ins Innere der zusammengebauten Zelte und setzten uns auf die Decken und Kissen, die wirr auf den Boden verteilt waren. Lennox fragte sich unwillkürlich, wie lange sie schon auf der Straße lebten, dass sie all das besaßen, oder zumindest stehlen konnten. Was hatten sie erleiden müssen, weshalb sie hier waren? Die kleine Enya konnte doch höchstens zehn Jahre alt sein. Wie war ein so lebendiges und fröhliches Mädchen in einer solchen Situation gelandet? Dann dachte Lennox an das, was sie gefunden hatten. Die anderen waren eine Familie, hielten zusammen und das trotz der ganzen Hürden, die sie mit Sicherheit überwinden mussten.
Er öffnete die Brötchentüten und schaute, was alles dabei war, da er beim Stehlen nicht wirklich wählerisch sein konnte. Jetzt hatten sie eine gute Mischung aus Brötchen und süßem Gebäck. Enya stürzte sich auf ein Schokobrötchen, während Mark sich eines schnappte, welches mit Käse überbacken war. Luna nahm sich ein Milchbrötchen, ihr Bruder ebenfalls. Kai und Noah griffen zuerst nach zwei normalen Brötchen. Ryan wartete, bis die anderen etwas genommen hatten. Dann blickte er Lennox erwartungsvoll an, worauf diese die Augen verdrehte und sich wie Enya ein Schokobrötchen nahm. Dann endlich streckte auch der Anführer seine Hand aus, um sich am Essen zu bedienen.
Nach kurzer Zeit waren die Tüten leer und Noah seufzte glücklich auf.
„Wir haben so lange nur Dosenfraß gegessen, jetzt stehen wir tief in deiner Schuld.", sagte er und sah Lennox mit gespielt mitleiderregendem Blick an.
Ryan klopfte ihm auf die Schulter, dann verkündete er:
„Mir ist aufgefallen, dass der Pfad immer offensichtlicher wird. Noch hat niemand unser Lager entdeckt, aber wenn wir nicht so langsam etwas unternehmen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, besonders wegen der Aufruhr, die momentan herrscht. Wir müssen den Weg besser tarnen. Noah, Luke, ihr besorgt große Äste, meinetwegen könnt ihr auch irgendwelche Büsche entwurzelt, wenn euch das lieber ist, und den Trampelpfad damit tarnen!"
Die beiden stöhnten, machten sich dann jedoch auf, um die Aufgabe zu erfüllen. Noch war es trocken draußen, doch das konnte sich schnell ändern. Lennox starrte die dunklen Wolken mit finsterem Blick förmlich nieder. Ryan blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen von der Seite an, leicht belustigt. Wie sollte er auch wissen, weshalb Lennox Blick so voller Hass war? Nicht Hass auf den Regen. Sondern auf seine Konsequenzen. Lennox liebte das Wasser und er liebte den Regen, dass es ihn krank machte, das verabscheute er, diese ständige Sehnsucht, der er nicht nachgeben durfte.
Lennox wandte sich ab und ging zu Noah und Luke, um ihnen zu helfen. Noch regnete es nicht, noch war er nicht zum Abwarten verdammt! Er spürte Ryan Blick auf sich, drehte sich jedoch nicht um, als er an einem kleinen Busch zerrte. Die scharfkantigen Äste schnitten in seine Haut und er stöhnte vor Anstrengungen auf, bis sich das vertrocknete Ding endlich löste und von ihm zum Pfad gezogen wurde. Er zerrte das Gestrüpp hinter sich her, bis zum Anfang des Pfades. Dann platzierte er es so, dass es den Weg verbarg, wohlwissend, dass Ryan ihn noch immer anschaute. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Luke seine Arbeit unterbrach und zu Ryan ging. Er hörte nicht, was sie sagten, aber dennoch hatte er dass Gefühl, es ging um ihn. Lennox schloss die Augen. Er riss an einem weiteren Gestrüpp und zog fluchend die Hand zurück. Blut lief ihm über die Finger, wo die Stacheln in seine Haut geschnitten hatten. Dann schlich sich Kälte in sein Herz, vermischt mit einem Anflug von Wehmut, entsprungen aus der Zeit, als sein Vater noch anders war:
Weite erstreckte sich vor dem Jungen, ein Meer aus Wald und Wiese. Auch wenn es nicht an's echte Meer herankam, begeisterte es Lennox so sehr, dass er den Mann an seiner Seite losließ und einfach rannte. Er rannte über Hügel, zwischen Bäumen entlang, neben Flüssen und Sträuchern. Er war glücklich, unerschütterlich. Lennox drehte sich zu seinem Vater um und grinste ihn an. Er hatte eine große Entdeckung gemacht und wollte sie ihm unbedingt zeigen, er zerrte den großen Mann am Arm und flüsterte:
„Komm schon, Papa, sonst sind sie gleich weg!"
„Wieso flüsterst du, Lennox?", fragte er.
„Pssssst, ich will sie nicht verscheuchen und jetzt komm!", verlangte Lennox flehend.
Der Vater lachte leise und folgte Lennox durch den Wald. Sie waren aus der Stadt gefahren, damit beide mal etwas anderes sahen, als die merkwürdigen Gesichter der anderen. Lennox war zu jung um zu verstehen, weshalb sie ihn und seinen Vater so anblickten. Lag es an ihm? Oder an dem komischen Zeug, was sein Vater neuerdings immer trank? Lennox hatte einmal daran gerochen und die Schärfe der Flüssigkeit hatte ihm in der Nase gebrannt. Zwar fragte er sich seitdem, wieso sein Vater sowas freiwillig trank, jedoch dachte er sich nichts böses dabei. Wenn das Zeug seinem Vater schmeckte, dann konnte es schon nicht so schlimm sein!
Der Junge führte seinen Vater zu einer kleinen Wiese, umgeben von riesigen Bäumen, und blieb stehen. Er duckte sich ins Gras und bedeutete dem Mann, es ihm gleichzutun. Und kurz darauf sollte er auch den Grund erfahren, weshalb Lennox so sehr darauf bestand, leise zu sein. Der Junge trotzte nur so vor Stolz, als sein Vater die Rehe sah, eine große Familie mit vielen Kälbern, die durch das hohe Grad tollten. Sie waren wunderschön und Lennox hatte sie gefunden!
„Wow, unglaublich, mein Junge! Da hast du ja wirklich eine Entdeckung gemacht, Rehe sind nämlich sehr scheue Tiere!", lobte sein Vater.
Lennox strahlte und die beiden beobachteten die Tiere noch etwas, natürlich aus sicherer Entfernung, um sie nicht aufzuschrecken. Dann machten sie sich auf den Weg zurück zur Straße wo ihr Auto stand. Da sie mitten durch den Wald gelaufen waren, blieb ihnen auch jetzt nichts anderes übrig, als sich durch das Gestrüpp zu schlagen. Lennox ging voraus, er fühlte sich wie einer dieser Piraten, die mit ihrem Säbel alles Gestrüpp, was ihnen im Weg stand, einfach durchtrennten. Allerdings hatte er keinen Säbel, sondern einzig seine Hände, mit denen er den Weg freischlug. In dem Wald wuchsen allerhand verschiedene Sträucher, sogar wilde Brombeeren fand man dort! Lennox liebte Brombeeren, doch jetzt, wo er mit seinen Händen erneut die Pflanzen beiseite schob, wünschte er sich zum ersten Mal, sie würden hier nicht wachsen. Denn er traf eben diese Büsche in dem Moment mit seiner Hand, jene stachelbesetzte Pflanzen, und sprang erschrocken zurück.
„Lennox, was ist passiert?", fragte sein Vater hinter ihm.
Lennox hielt seine rechte Hand umklammert und Tränen schossen ihm in die Augen. Er blickte seinen Vater an, der sofort nach Lennox Hand griff und sie begutachtete.
„Oje Lennox, hey, keine Sorge, dass ist nur ein kleiner Schnitt, gar nicht schlimm.", versuchte er seinen Sohn zu beruhigen.
Lennox schaute zögernd auf seine Hand. Diese blöden Stacheln hatten ihn gekratzt! Der Schnitt war alles andere als tief, doch er brannte wie verrückt. Sein Vater schien das zu bemerken und sagte:
„Komm, wir gehen jetzt zum Auto, desinfizieren das, machen ein Pflaster drauf und dann kaufe ich ein Eis für meinen tapferen Jungen!"
Er hielt Lennox die Hand hin, welcher sie nahm und nach kurzer Zeit erreichten sie das Auto.
Sie verbrachten den Rest vom Tag, wie Lennox' Vater es gesagt hatte und kamen am Abend heim. Beide waren glücklich und für einen Moment stand nichts zwischen ihnen, es gab kein Geschrei, wie es neuerdings immer häufiger vorkam und auch Lennox' Hand tat nicht mehr weh.
Der nächste Tag jedoch, war anders. Die ganze Wohnung roch nach dem komischen scharfen Zeug. Lennox ging in's Wohnzimmer und sprach seinen Vater darauf an. Er wusste nicht mehr, was sein Vater zu ihm gesagt hatte, kannte den Grund nicht, aus dem er geschrien hatte. Doch was auch immer es war, hatte ihn dazu veranlasst, in sein Zimmer zu fliehen, sich in die Ecke zu kauern und zu weinen.
Lennox hatte keine Ahnung, wieso er sich an das Ereignis vor Jahren erinnern konnte. Zurück mit den Gedanken bei der Straßenbande, blickte er nach oben.
Der Himmel wurde immer dunkler und sie waren noch immer dabei, den Weg zu tarnen. Ryan und Mark hatten irgendwann einfach geholfen, auch wenn es bei Mark Protestrufe verursacht hat. Aber verübeln konnte es ihm keiner, immerhin war er noch immer nicht wieder ganz fit.
Auch Luna und Enya waren hinzugekommen, aber Lennox konnte sie nicht sehen, da sie den Eingang des Weges tarnten. Und er wünschte, er hätte das Folgende nicht hören müssen, denn es zerriss ihm das Herz und füllte es mit Angst, jedoch keine Angst um ihn selbst:
Ein Kreischen ertönte, voller Angst und Verzweiflung, welches Lennox Blut gefrieren ließ. Auch Ryan, Mark, Luke, Noah und Kai wirbelten herum. Und im selben Moment fiel der erste Tropfen. Dennoch gab es kein Zögern, nicht einen verschwendeten Gedanken, als Lennox rannte, weg vom Unterschlupf, weg von der einzigen Sache, die ihn vor dem Regen hätte schützen können. Den Pfad entlang, immer weiter, über die Büsche, die ihnen doch helfen sollten, eine Falle, ein Verderben, aber sie waren eine Seele, eine Einheit und würden nicht zulassen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen in diesem Augenblick Wirklichkeit wurden. Er musste sich nicht umschauen, um zu sehen, dass die anderen ihm folgten, er spürte ihre Anwesenheit, fühlte das Adrenalin durch seinen Körper rauschen. Dann erreichte er sein Ziel, die Quelle jenes erschütternden Kreischens und der Anblick ließ ihn erstarren.
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