Straßengang für immer!
Lennox schlüpfte hinter einem Mann in die Apotheke. Niemand sah ihn, sodass es ein Leichtes war, Verbandszeug und einige andere Sache in seinen Rucksack gleiten zu lassen. Dann wartete er, bis der Mann die Apotheke wieder verließ und ging hinter ihm durch die geöffnete Tür. Zufrieden zog er einer Frau im Vorbeigehen einen Zwanziger aus der Tasche und bog dann um eine Ecke. Ein paar Straßen weiter, am vereinbarten Treffpunkt, wartete Mark bereits auf ihn. Als er Lennox kommen sah, hellte sich sein gelangweiltes Gesicht auf und er fragte ihn nach seiner Beute. Kurz darauf kam auch Luna und zum Schluss Ryan.
Als Lennox Blick auf den von Ryan traf, spürte er eine Vertrautheit, wie nie zuvor. Er selbst hatte keine Geschwister, aber vielleicht konnte er im Anführer der Straßenbande einen Bruder finden.
Zurück im Lager sortierten sie ihre Beute und Ende gab jedem eine Dosensuppe. Lennox blickte zu seiner Gitarre und musste unwillkürlich an das Denken, was Ryan ihm in der Nacht erzählt hatte. Seine Geschichte war erschütternd und erschreckend vertraut, doch dass Ryans Pflegemutter ihm die Musik verdorben hatte, machte ihn bloß unfassbar traurig. Lennox wusste nicht, wie er all die Jahre ohne Musik hätte durchhalten können. Also fasste er einen Entschluss, auch wenn Ryan das wahrscheinlich nicht so gut finden würde.
Nach dem Essen schnappte Lennox sich die Gitarre und ging nach draußen. Er setzte sich an den Rand der Lichtung und fing an zu spielen, bis er hörte, wie die Zeltplane geöffnet wurde und jemand nach draußen trat. Ohne sich umzudrehen wusste Lennox, dass es Ryan war, der einen Moment später hinter ihm stand. Dennoch unterbrach er den Song nicht, sondern spielte einfach weiter, bis er ein Flüstern hörte:
„Hör bitte auf!"
Es war nur ein Hauch, Worte, mit denen er gerechnet hatte. Auch wenn er Ryan nicht verletzen konnte, wollte er nicht hinnehmen, dass dieser die Musik hasste.
„Nein.", sagte Lennox entschlossen.
Er hörte auf zu spielen und drehte sich zu seinem Freund um, der mit geballten Fäusten hinter ihm stand. Der Schmerz stand in seinen Augen und einen kurzen Moment konnte Lennox sein Innerstes sehen. Ryan war so unfassbar stark, doch ein Teil von ihm war auch gebrochen. Wie bei ihm selbst auch. Ein Gewitter befand sich in seinen Augen, Blitze schossen aus ihnen und der Donner der Verbitterung hallte durch seinen Körper.
Lennox erhob sich und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich bin nicht wie sie, Ryan.", sagte er sanft und drückte den Blonden bestimmt auf den Boden.
Lennox setzte sich neben Ryan und gab ihm seine Gitarre, das einzig wertvolle Materielle, das er je besessen hatte. Er zuckte zusammen.
„Was wird das, Lennox?", fragte er und wollte aufstehen, doch Lennox hielt ihn zurück.
„Lass nicht zu, dass das Feuer dich verschlingt! Befreie dich von der steinernen Mauer, die du aus Schmerz gebaut hast und fühle die Energie!"
Lennox zupfte eine Saite und Ryans Körper fing an zu beben.
„Nicht.", sagte Ryan leise und blickte zu Boden.
Lennox nahm die Gitarre wieder in seine Hände und begann, ein Lied zu spielen, das Ryan seine Seele offenbaren würde.
Die ersten Töne fielen ihm sehr schwer, da ihn Erinnerungen an seine Mutter überkamen. Er war so klein gewesen, als sie verschwand, kannte nicht einmal mehr ihr Gesicht, nur noch den Hall ihrer Stimme.
„Eines Tages wirst du etwas Großes tun, mein kleiner Stern!", hatte sie einst zu ihm gesagt.
Lennox wusste nicht, wann oder warum, doch es war eine der wenigen Erinnerungen, die er hatte und die, die ihm am wichtigsten war.
Sein Spiel wurde schneller und er begann zu singen. Der Song handelte von Liebe, Schmerz, Verzweiflung und Feuer. Jedes Mal, wenn er ihn gesungen hatte, hatte er vorher genauestens überprüft, of jemand zugehört hatte. Denn er wollte sich nie mehr so verletzen lassen, wie sein Vater ihn verletzt hatte, wollte sich nie wieder so fühlen, wie er sich so lange fühlen musste.
Als er am Refrain ankam, verlor er sich in der Musik. Er nahm Ryan nicht mehr wahr, der ihm eine Hand auf die Schulter legte, bemerkte nicht, dass die anderen zu ihnen kamen und spürte die leichte Kälte nicht mehr, die ihm vorher eine Gänsehaut beschert hatte. Er verlor sich in der Vergangenheit, wehrte sich nicht gegen die Schatten, die sich um ihn wanden.
„Du verdammter Bengel!"
„Ich liebe dich, Lenni!"
„Yavani."
Er hatte das letzte Wort noch nie, doch es erfüllte ihn mit einem warmen Gefühl und seltsamerweise kannte er dessen Bedeutung.
Es war zu viel.
„Verschwinde von hier, geh mir aus den Augen!"
Die Worte, die sein Vater zu ihm gesagt hatte, als er ihn rausgeworfen hatte. Jener Moment, der alles geändert hatte.
Er wollte in der Dunkelheit versinken, konnte nicht länger gegen die Dämonen kämpfen, es war zu schwer.
Nein!
Nein, nein, nein!
Das Feuer würde ihn vernichten, wenn er sich nicht wehrte und das dürfte nicht passieren!
So viel Schmerz, doch jetzt war er stark und frei. Sein Vater konnte ihn nicht ausnutzen und seine Mutter würde für immer in seinem Herzen sein.
Er spielte den letzten Ton des Liedes.
So viele Gefühle, die es auslöste. Ryan hatte den Kopf auf Lennox' Schulter gelegt, Marks Hand ruhte auf seinen Rücken und Enya kuschelte sich an ihn.
„Das war wunderschön, Ninja.", brach Luke das Schweigen.
Ryan seufzte.
„Vielleicht erzählst du uns ja auch irgendwann mal deine Geschichte."
Erst jetzt bemerkte Lennox, dass Ryans Augen gerötet waren, jedoch wirkte er deutlich entspannter als noch vor ein paar Minuten.
Die Leute sagten, wenn man sich jemandem anvertraute, half es, die Dinge selbst zu verarbeiten.
Und er war bereit.
Ryan hatte ihm Vertrauen geschenkt. Wie sie hier alle gemeinsam saßen, war so intensiv, dass Lennox gar nicht anders konnte, als Ryan zurückzuhalten, als er aufstehen wollte. Er zögerte noch einen Moment, dann sagte er:
„Ich vertraue euch. Und ich werde immer für euch kämpfen, wenn uns ein Feind gegenübersteht!"
Dann erzählte Lennox seine Geschichte.
Er begann damit, wie seine Mutter verschwunden war, wie sein Vater sich geändert hatte und er immer mehr ertragen musste. Er berichtete von den Schatten die ihn umgeben hatten, von den Zeiten, wo Lennox eingesperrt worden war und sein Vater versucht hatte, ihn zu brechen. Er offenbarte, wie es ihm ergangen war, als er rausgeschmissen worden war und plötzlich auf der Straße klarkommen musste. Nie zuvor hatte er jemandem seine Gefühle anvertraut. Als er in Zügen geschlafen hatte, um einfach von seiner Heimat möglichst weit Weg zu kommen, als er unter der Brücke gesessen hatte, solche Angst hatte, nicht gewusst hatte, wie es weitergehen sollte, doch fest entschlossen, niemals aufzugeben. Dass er sich zwar allein, aber auch frei gefühlt hatte. Dass er dann die anderen getroffen hatte und wie er zunächst verwirrt war und misstrauisch. Er erzählte, wie wichtig sie ihm mit der Zeit geworden waren und dass er nicht zulassen würde, dass jemand sie trennte.
Und dann weinte er. Zeigte Schwäche. Doch es war ihm egal, tat gut, ganz anders, als erwartet. Denn er war nicht allein. Die anderen nahmen ihn in die Arme und gemeinsam verweilten sie. Wind war aufgekommen und die Luft kalt, aber sie wärmten sich gegenseitig.
Als sich alles wieder beruhigt hatte, sagte Noah: „Jetzt brauchen wir aber auch einen Schlachtruf! Straßengang für immer?"
Lennox musste lachen.
„Straßengang für immer!"
„Straßengang für immer!", hallten auch die Stimmen der anderen über die Lichtung.
Lennox fühlte sich geborgen und dennoch etwas müde, immerhin war es ein anstrengender Tag gewesen.
Allerdings sollte er in diesem Moment noch nicht entspannen dürfen, da in der nächsten Sekunde der Sturm losbrach.
___________________________________________
Sorry, dass das Kapitel so spät kommt, ich wollte es eigentlich schon gestern veröffentlichen, bin aber abends nicht mehr dazu gekommen. Hoffentlich hat's euch gefallen😊!
Wer von der Straßengang ist euch bisher eigentlich am meisten ans Herz gewachsen?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro