Prolog - Die üblichen Verächtlichen
„Jeder, der noch weiß, wie er heißt und seinen Namen ins Rotlicht sagen kann, kriegt eine TV-Show."
Harald Schmidt
Gut, es hätte auch schlimmer kommen können!, dachte der Komiker, um sich zu beruhigen. Man hätte mich auch für den Kindergeburtstag von Til Schweigers Tochter buchen können. Ich hätte auch das Vorprogramm für Mario Barth sein können. Oder die Laudatio für Oliver Pocher bei der diesjährigen Verleihung des deutschen Comedy-Preises halten, bei der er -so wie in den vergangenen 23 Jahren- eine Auszeichnung in der Kategorie „Bester Nachwuchskünstler" erhalten wird.
Er atmete tief durch und versuchte erneut, seine aktuelle Situation zu bewerten. Er kam zu der Schlussfolgerung, dass er nun endgültig am Anus des Lebens angelangt war. In wenigen Minuten solle sein „großer" Auftritt beginnen. Wie konnte ich nur so tief sinken!
Langsam betrat er die Bühne, die nur aus mehreren Holzpaletten, auf denen ein alter Perserteppich gelegt wurde, bestand. Es war genau 19:54 Uhr, stellte der Komiker nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr fest. Er nahm ein altes Karaoke-Mikrofon, das an einen ebenso alten Verstärker angeschlossen war, in die Hand und räusperte sich.
Jeder bekommt genau das Publikum, das er verdient, dachte der Komiker, als er sich umschaute. Er kam zu der Erkenntnis, dass er in seinem früheren Leben vermutlich Jack the Ripper war. Karma is a Bitch!
Sein Manager beschaffte ihm diesen Job. Dieser Drecksack ließ ihn quer durch Ostdeutschland touren und dieses Kaff war ein „bedeutender" Teil seiner Route. Chemnitz, Pölitz, Gröbnitz, Neu-Opitz, Kolwitz, Bigtitz, ... Inzwischen kannte er sämtliche bescheuerten Ost-Dörfer, deren Name auf „Itz" endete. Ein Wissen, auf das er gut verzichten konnte.
19:57 Uhr. Drei Minuten bis zum Auftritt. Wie konnte es nur so weit kommen?, fragte er sich gedanklich. Vor seinem geistigen Auge ließ der Komiker die bisherigen Stationen seiner Karriere beziehungsweise seines Scheiterns Revue passieren ...
* * *
Nachdem er drei Jahre lang die Schauspielschule besucht hatte, sie mit Auszeichnung absolvierte und ihm von fast allen seinen Dozenten eine „strahlende Zukunft" prophezeit wurde, plätscherte sein Berufsweg die ersten Jahre nur vor sich hin, aber das war ein übliches Problem in der Branche. Werbespots. Kleine Rollen in Studentenfilmen. Kurze Sprechrollen im Theater. Es dauerte etwa zwei Jahre, bis man auf ihn aufmerksam wurde: Man castete ihn für die Rolle des „Electro-Eric" und er durfte sich weitere zwei Jahre lang in kurzen, vermeintlich „witzigen" Werbespots für „Jupiter Store", einer bekannten Kette von Elektronikgeschäften, zum Affen machen. Es war nicht unbedingt die anspruchsvollste Rolle, die sich ein Schauspieler wünschen konnte, aber sie half ihm, regelmäßig seine Miete bezahlen zu können – und was fast noch wichtiger war: Sie erhöhte seine Bekanntheit!
Für jeden Schauspieler ist es immer ein denkwürdiger Moment, wenn er zum ersten Mal in der Öffentlichkeit erkannt wird. Sein „erstes Mal" erlebte er an der Ladenkasse eines Discounters. „Hey, das is' ja Electro-Eric, wie geil is' das denn!", schrie eine leicht übergewichtige Kassiererin, während er sein Kleingeld zusammensuchte. Mit hochrotem Gesicht packte er rasch seine Überraschungseier, die Packung Strumpfhosen für seine Freundin, den Blasentee für ihn, eine Frauenzeitschrift sowie eine Boulevardzeitung in seine Einkaufstasche und stammelte beim Fortgehen: „D-D-Danke fürs Einschalten!"
Derartige Vorkommnisse ereigneten sich immer wieder in seinem Leben, was ein guter Indikator für seinen Bekanntheitsgrad war. Schon bald erhielt er die Rolle, die sein weiteres Leben maßgeblich beeinflussen sollte ...
Obwohl er Comedyserien zu Recht für die niederste Form des Humors hielt, bekam er das Angebot, zunächst zwölf Folgen lang die Titelrolle in der Sitcom „Alles klar, Karl?" zu übernehmen. Es war sehr reizvoll für ihn, die erste „richtige" Hauptrolle spielen zu dürfen. Und schließlich gab es ja auch gute Sitcoms wie „Frasier" und „The Black Adder". Wenn die Drehbücher gut wären, die Akteure motiviert, der Humor schwarz und die Regisseure zurechnungsfähig, dann könnte ... durchaus ... etwas ... halbwegs ... Sehenswertes ... zustande kommen. Zudem erfüllte es ihn mit Stolz, dass er wegen seines Erfolges als „Electro-Eric" keinen langen Casting-Prozess durchlaufen musste. Er hatte die Rolle!
Die erste Ernüchterung setze allerdings ein, nachdem er das erste Skript zugesendet bekommen hatte. Er stellte fest, dass dieser Karl, der er verkörpern sollte, ein arbeitsloser, alleinerziehender Vater von vier Teenager-Töchtern und einem hyperaktiven neunjährigen Sohn sei. Ein großer Teil der Handlung fand auf einer schmuddeligen Couch statt. Das Skript bestand zu 90% aus Pipi-Kaka-Witzen und zu 10% aus sentimentalen, abgedroschenen Phrasen auf Soup-Opera-Niveau. Der Sender, der diesen Schwachsinn ausstrahlen sollte, hieß natürlich „RTL". Groovy.
Drei Monate später begannen die Dreharbeiten. Man gab ihm kein Mitspracherecht an den Drehbüchern. Jeden auch noch so dummen Text musste er aufsagen und die Kinderdarsteller waren nur geringfügig talentierter als die Gören von Til Schweiger! Um nicht ständig vor Scham im Boden versinken zu müssen, gewöhnte er sich an, nach jeden schlechten Witz (was praktisch bei jeder zweiten Dialogzeile geschah) ironisch dreinzublicken. Er nahm den „Ich-nehme-nichts-ernst-und-betrachte-die-Welt-durch-eine-Ironiebrille"-Blick an, eine Technik, die er sich von dem großartigen Bill Murray abschaute. Er redete sich ein, über den Dingen zu stehen, sodass er diese Zeit überstand, ohne irgendwelche Schäden davongetragen zu haben, wenn man mal davon absieht, dass es ihm von nun an schwerfiel, nach jedem gesprochenen Satz keine Pause für eingespielte Lacher zu machen. (...) Seine Freundin hatte seit dieser Zeit sehr viel Freude an ihm. (...) Absolut. (...) Genau. (...) Mehr oder weniger. (...)
Entgegen seiner Erwartungen wurde vom Sender eine zweite Staffel bestellt. Der Marktanteil bei anspruchslosen, geistig minderbemittelten Menschen zwischen 14 und 49 Jahren stieg stetig an, sodass er ein weiteres Jahr lang stumpfsinnige Witzchen reißen durfte. Allerdings gelang es ihm nach einer Weile, das System auszutricksen: Er bestach die Studenten, die an den Drehbüchern werkelten, sodass er einige Tage vor allen anderen an der Serie beteiligten, einschließlich der Redakteure, die aktuellen Skripte zugemailt bekam. Nachts bearbeitete er die Texte und schickte sie ASAP an die „Autoren" zurück. Die Studenten waren ihn für jeden Verbesserungsvorschlag dankbar, sodass er heimlich seine eigenen Dialoge aufwerten konnte. Beispielsweise wurde aus ...
„Papi, die Tanja hat einen neuen Freund!" - „Toll, ich wollte schon immer eine Schlampe zur Tochter haben! *rülps*"
... der seiner Meinung nach verbesserte Dialog:
„Daddy, Tanja hat einen neuen Freund!" - „Ab einem gewissen Alter darf jede junge Frau für sich entscheiden, wer oder was für sie das Beste ist. *hicks*"
Wie dieses Beispiel zeigte, gab es humortechnisch nicht unbedingt Verbesserungen, allerdings konnte der Komiker sich nach Drehschluss wieder ohne Abscheu im Spiegel betrachten.
Die zweite Staffel war sogar noch erfolgreicher als die erste, es gab eine dritte mit mehr Folgen und während dieser Zeit hatte der Komiker es hingekriegt, sein heimliches Korrigieren der Skripte zu perfektionieren. Er gewöhnte sich daran, noch während des Drehens der aktuellen Folge die jeweils folgende Folge zu verbessern, gleichzeitig konnten die Nachwuchsautoren die Lorbeeren für seine Arbeit einheimsen.
Mit der obligatorischen vierten Staffel begann das Verhängnis. Und dieses Verhängnis hatte einen „Namen". Es hieß „Oliver Pocher". Folgendes geschah: Irgendein Schlipsträger des Senders kam auf die Idee, die „Karriere" von Oliver „Bitte-beachtet-mich" Pocher (mal wieder) pushen zu müssen. Ohne den Komiker vorher mental darauf vorzubereiten, dackelte der „unbedeutende Pocherzwerg" eines Tages am Set herum. Man gab ihm (übrigens auch ohne ein vorheriges Casting) die leider dauerhafte Rolle des/der „Gudrun", des/der transsexuellen Cousins/Cousine des Hauptcharakters. In 18 der 20 Folgen der vierten Staffel hüpfte der kleine Pochergnom in rosa Kleidchen herum und nervte alle am Set mit seiner Angeberei. Der Komiker hatte keine Ahnung, wie er diese Zeit überstehen sollte, aber, indem er die braune Brühe in seinen Fake-Bierdosen heimlich durch echten Alkohol ersetze, konnte er mit der „Pocherinsekt"-Situation einigermaßen umgehen.
Leider wurde er kurz vor dem Ende der Dreharbeiten von Staffel vier in das Büro des Senderchefs berufen. Man teilte ihm mit, dass er gefeuert worden sei. Der Komiker verlangte natürlich eine Begründung dafür, die Qualität der Serie wurde in den ersten drei Staffeln permanent erhöht, ebenso wie die Zuschauerzahl. Und für das „Pocherfitzel"-Problem könne er ja nichts. Der Senderchef erklärte ihm daraufhin, dass es ihm zu Ohren gekommen sei, dass er heimlich an den Drehbüchern (so wie er es ausdrückte) „herumpfuschte" und das dieses Verhalten untragbar sei. Sein Vertrag würde nicht mehr verlängert werden! (Zufälligerweise war der Chef des Senders ein Saunafreund von der Pocheramöbe.)
Die fünfte Staffel, die ohne ihn produziert wurde, wies ein paar signifikante Veränderungen auf: Zunächst einmal wurde sie von „Alles klar, Karl?" in „Alles im Lot, Lothar?" umbenannt. Die Hauptrolle des Lothar spielte (oh Wunder!) Oliver „Pochermölekül" Pocher. Alles andere blieb gleich. Warum der Vater in der Serie plötzlich ein gänzlich Anderer war, wurde den Zuschauern nie erklärt.
Wie zu erwarten war, wurde die Serie nach den ersten sieben Folgen der fünften Staffel gänzlich abgesetzt. Als die Quoten tief in den Keller fielen und nicht einmal mehr die Verwandten des „Pocheratoms" einschalteten, war das Ende besiegelt.
Für den Komiker kam seine Entlassung zwar sehr plötzlich, aber sie hatte für ihn auch etwas Befreiendes: Nun war er ziemlich bekannt und er würde Rollenangebote bis zum Abwinken bekommen. Zumindest dachte er das.
Die Realität sah allerdings etwas anders aus, ihm war leider ein klitzekleiner Denkfehler unterlaufen: Durch seine mehrjährige Tätigkeit für das Unterschichtenfernsehen wurde er als Schauspieler nicht mehr ernst genommen. Letztendlich hatte er nur die Wahl, für Pro7 in „Knallerkumpels", einer ähnlich substanzlosen Serie wie „Alles klar, Karl?", den permanent alkoholisierten Nachbarn des Protagonisten, gespielt von Luke „Grinseäffchen" Mockridge zu spielen oder den Sidekick für Til Schweiger in den kommenden ARD-Tatorten. In beiden Fällen hätte das bedeutet, fortan an der Seite eines ihm völlig unsympathischen, talentreduzierten Typen zu agieren. Im Fall von Til Schweiger hätte er zusätzlich in seinem Vertrag eine Klausel unterschreiben müssen, die verlangte, dass er in jedem Interview, in dem er nach Schweiger gefragt worden wäre, mit der Phrase antworten solle: „Til Schweiger ist ein Vollblutfilmemacher und ich würde jederzeit wieder mit ihm arbeiten!" Leider erzeugte dieser Satz bei ihm einen starken Brechreiz, genauso wie das Gehampel von Luke Mockridge, deshalb kamen diese beiden Optionen für ihn nicht mal ansatzweise in Frage.
Selbst seine Beziehung war dem Untergang geweiht: Seine Freundin, die ihn jahrelang als ihren Seelenpartner betrachtete und es jeden, den sie auf Parties (oder der Straße) traf immer wieder erzählte, packte die Koffer, verließ ihn und zog nach Süddeutschland; wenige Nanosekunden, nachdem sie von seinem Rauswurf erfahren hatte. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell eine immerwährende Seelenverwandtschaft beendet werden kann.
Wie sollte nun seine Zukunft aussehen? Sein Manager schlug ihm vor, es mit Comedy zu versuchen, sodass sich der Komiker entschloss, von nun an als Komiker aufzutreten. Warum auch nicht? Obwohl der Komiker-Markt in Deutschland stark überschwemmt war, gab es immer genügend Hirmis, die sich nach Abwechslung sehnten und über jeden auch noch so bedeutungslosen Schwachsinn lachten! Außerdem verinnerlichte der Komiker die wichtigste Regel für deutsche Deutsch-Stand-Up-Comedy, die ihm einer seiner Schauspiellehrer nahebrachte: „Wenn du kein Material, irgendwelche Gags oder Witze auf Lager hast, dann erzähle dem Publikum einfach deine Lebensgeschichte. Irgendwo in der letzten Reihe gibt es immer einen Vollhonk, der darüber lacht. Und wenn einer lacht, dann schließen sich die anderen Honks im Publikum sofort an ..."
Von nun an nahm der Komiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit an Comedy-Contests teil. Selten gewann er sie, häufig belegte er einen der vorderen Plätze. Obwohl er sehr unsicher war, ob das Publikum über seine Scherze oder über ihn als Person lachte, gewann er das nötige Selbstvertrauen, um es mit Stand-Up-Comedy zu versuchen. Ey, schließlich war ich jahrelang Elektro-Eric und Karl! Es kann nichts schiefgehen!
Etwa ein halbes Jahr, nachdem er beschlossen hatte, sich der Comedy zu widmen, war er mit der Kreation seines ersten Solo-Programms „Halbaffen reden wie Politiker" fertig. Es bestand an sich nur aus mehreren Textbausteinen, die er auswendig lernte und – je nach Publikum – beliebig kombinierte. Qualitativ entsprach es dem Mittelmaß, aber das genügte dem Komiker. Warum sollte er sich Mühe geben, wenn es seine Kollegen auch nicht tun?
Er erinnerte sich an frühere Zeiten, in denen man die Comedians noch „Kabarettisten" nannte. Meistens waren es biedere, ältliche Kerle mit grauen Haaren sowie langweiligen An- und Gesichtszügen, die sich über die Fehlleistungen der Politiker ausließen. Kohl, Genscher, Blüm. Viele dieser sogenannten politischen Kabarettisten machten sich sogar die Mühe, die Stimmen dieser Volksvertreter nachzuahmen und wenn man sich Mühe gab und ihnen zuhörte, konnte man sich köstlich amüsieren, manchmal sogar etwas von ihnen lernen!
Doch nachdem die Blütezeit dieser politischen Kabarettisten nach einigen Jahrzehnten ihrem Ende zugeneigt war, wurden sie nach und nach durch „unpolitische" Comedians ersetzt. Gesellschaftskritische Themen wurden von den neuen deutschen Spaßfabrikanten so sehr vermieden, wie der Teufel das Weihwasser in der Toilette des Vatikans vermeidet. Man wollte mit dem eigenen Humor nicht mehr „anecken". Comedy musste für so viele Menschen wie möglich verständlich sein. Letztendlich blieb den „modernen" Comedians nichts anderes übrig, als abgedroschene Klischees zu bedienen. Frauen nörgeln ständig, kaufen in ihrer Freizeit unnützes Zeug wie Schuhe oder Lebensmittel und sind permanent beleidigt. Männer sind faul, trinken Bier und sind dumm. Verallgemeinerungen also, die keinen Bezug zur Realität haben ... tun. Nein, heutzutage war es die einfachste Sache der Welt, ein Comedyprogramm zusammenzuklöppeln.
Um den weiteren Verlauf des Niedergangs des Komikers kurzzufassen: Nachdem sein Manager den 25. Entwurf seines Soloprogramms absegnete, besorgte er ihm ein paar Auftritte vor eher überschaubaren Publika. Ein paar mal durfte er in irgendwelchen Turnhallen, ein paar Mal kurz bei Stadtfesten oder den Eröffnungen von Möbelhäusern seine humoristischen Reden schwingen. Abschließend ließ man ihn durch Ostdeutschland touren. Es gab diverse Dörfer in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, in denen man sich noch an ihn und „Karl", seine frühere Hauptrolle erinnerte ...
* * *
Nervös stand der Komiker auf seiner „Bühne" und führte einen ersten Soundcheck durch. Sein „Mikrofon" war mit einem alten Klebeband an einem alten Fotostativ, das mit einer Holzlatte verlängert worden war, befestigt.
„Test-Test-Test. Eins-Zwei-Drei. Oliver Pocher hat nichts in der Hose. Test-Test-Test."
Vereinzelte grinsende Gesichter konnte er im Publikum ausmachen. Wenn man alle anwesenden Personen zusammenzählte, dann kam man auf insgesamt neun Personen. Ein mittelaltes, schweinegesichtiges Ehepaar, vermutlich der Dorfmetzger nebst Gattin und/oder Schwester, saßen an einem Tisch, an einem weiteren drei Dorfteenager. Die Kids trugen alle schwarze T-Shirts und hatten kurzgeschorene Haare. Auf einem der Shirts stand „FCK DMKRT".
Etwas abseits der drei Tische, von denen nur zwei besetzt waren, befand sich die Bar, die, genauso wie die Tische und Sitzgelegenheiten von einem bekannten schwedischen Möbelhändler stammten. Ein bärtiger, wuschelköpfiger Mann saß vor der Bar, hinter ihr befand sich der einzige Lichtblick in dieser Ödnis: Kira!
Kira war eine Rucksacktouristin, Anfang 20, die an diesem Abend an der Bar bediente, um sich etwas Reisegeld zu verdienen. Ihre Mutter stammte aus Indien, ihr Vater aus Deutschland und sie unternahm während ihrer Semesterferien eine Rundreise durch die neuen Bundesländer. Sehr hübsche Frau mit karamellfarbener Haut, einer knackigen Figur und einem zuckermäßigen Lächeln. Der Komiker verstand sich gut mit ihr und ihr Anblick half ihm, den Abend zu überstehen.
Unschön waren allerdings die beiden mutmaßlichen Nazis, die mit verschränkten Armen etwas hinter den Tischen standen. Sie beide trugen Bomberjacken (beziehungsweise Bömberjaggen), Springerstiefel und hatten germanische Runen in Form von Tattoos auf ihren Stirnen. Man sollte meinen, dass sie eventuell Unruhestifter seien, aber natürlich kann der erste Eindruck von jemanden auch täuschen.
Es war nun 20:02 Uhr.
„Geht es nu' lös, dü Sau, öder was?", grölte einer der beiden Nazis. Doch, es sind Unruhestifter.
„Ich begrüße euch recht herzlich zu diesem heiteren Abend in ‚Onkel Kurtis Kaschemme'! Eine Stunde voller Heiterkeit und fröhlicher Bonmots."
Aus dem Publikum rief jemand: „Isch verträge keene Bönböns, bin Diabetischer!"
„... Äh, nun gut. Geht es euch auch so, Leute? Hasst ihr auch alle Menschen, die zu Verallgemeinerungen neigen?"
Diesen Spruch machte der Komiker immer zu Anfang seines Vortrages, um die Intelligenz seiner Zuhörer zu testen. Das Ergebnis seines kleinen Tests war ziemlich enttäuschend, aber auch recht aufschlussreich.
Er hörte, wie alle Anwesenden (mit Ausnahme von Kira) Sätze riefen wie:
„Ja, mer' hassen de' ooch!"
„Roos mit Verallgemeenenerer!"
„De' Reggierüng is' schüld an Generalisierüngen!"
Es dauerte eine Weile, bis sich alle beruhigten. OK, ich muss das Niveau weiter absenken!
Er versuchte es mit einer Mario-Barth-Imitation: „Meene Freundin, wa? Kennta die? Wa? Kennta? Kennta? Kennta die? Wa?"
Anscheinend konnte sich das Publikum für interaktive Comedy begeistern, denn auch nach dieser kurzen Einleitung gab es Zwischenrufe wie:
„De' Schlambe hassen mer' ooch!"
„Roos mit der dümmen Küh!"
„De' Reggierüng söll de' Pute abschieben tün!"
Er konnte nicht glauben, wie primitiv diese Leute waren, selbst Kira musste verständnislos mit ihrem hübschen Kopf schütteln. Der Komiker wagte einen weiteren Test:
„Was ist der Unterschied zwischen einem süßen Kätzchen und einem Tapir? Mit ihren breiten Ärschen passen Tapire durch keine Katzenklappe."
„Mer' aggzepdieren keene Dapiere!"
„Dapiere roos oos Deutschland!"
„De' Kanzlerin isn' Dapier!"
Es war zum Verzweifeln! Die Leute in seiner unmittelbaren Umgebung hielten diesen Comedy-Abend für irgendeine rechtspopulistische Kundgebung. Das wird ein seeehr langer Abend werden ...
Der Komiker entschied sich, von nun an das Publikum zu ignorieren und begann, emotionslos Witze auf Kleinkinderniveau aufzusagen. Seine Augen fixierten sich nur noch auf Kira.
„... Immer, wenn ich zuviel Käse gegessen habe, dann muss ich ganz doll pupsen. Pups. Pups. Mein Popo macht dann, dass die Luft ganz komisch riecht."
Die Leute an ihren Tischen und an der Bar schauten ihm von nun an nur noch gelangweilt zu. Die gleichen langweiligen Sprüche kannten sie schon von Mario Barths letztem Soloprogramm „Männer sind die besseren Halbaffen" und kaum jemand interessierte sich noch für den Komiker auf seiner „Bühne".
Auch die beiden Nachwuchs-Nazis verlagerten ihre Aufmerksamkeit in Richtung Kira, die noch immer hinter der Bar saß. Nach einer Weile gingen sie zu ihr hinüber und flüsterten ihr etwas zu, dass der Komiker aufgrund seiner Entfernung nicht akustisch wahrnehmen konnte. Es ging ihm ja auch nichts an, aber der Komiker bemerkte, wie Kira sich angewidert von dem einen Nazi abwenden wollte. Leider hielt er sie am Unterarm fest und es schien so, als würde er sie bedrohen. Der andere Nazi stand daneben und grinste dümmlich.
„... Mögt ihr auch die Farbe rot auch so sehr wie ich?" Der Komiker war noch immer von Kira abgelenkt. Beide Nazis bedrängten sie nun. Die junge Frau wollte sich ihnen entziehen, aber der eine Nazi und sein Kumpel, der hinter ihr am Tresen stand, ließen sie nicht gehen. Flehentlich blickte sie zu dem Komiker. Er musste etwas tun, um die Aufmerksamkeit der Nazis zu erringen. Den anderen Anwesenden war Kira gleichgültig; von der Mentalität waren sie nicht sehr weit von den Nazis entfernt.
„... Oder bevorzugt ihr eher die Farbe rot-braun? Also, wenn ich etwas ganz besonders hasse, dann sind es Nationalsozialisten."
Nun hatte er wieder die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Das gelegentliche Murmeln verstummte. Alle schauten ihn empört an. Der Klammer-Nazi ließ Kira kurz los, sodass sie schnell zur nahegelegenen Eingangstür laufen konnte. Der Grinse-Nazi formte mit Zeige- und Mittelfinger eine imaginäre Pistole und richtete sie auf den Komiker. Very cool ...
„Wie viele Nazis braucht man, um eine Glühbirne einzuschrauben? Na, wer kennt die Antwort? Wie viele menschenverachtende, unterbelichtete Pöbler braucht man wohl dazu?"
Schaum quillte aus dem Mund des Klammer-Nazis, während der Grinse-Nazi seinen Freund fragend anschaute.
„Die Antwort lautet: Keine. Es hat keinen Sinn, Nazis mit einer so komplexen Aufgabe zu betrauen. Es würde nicht gelingen. Nazis ist noch nie ein Licht aufgegangen. (...) Kommt ein Nazi zum Arzt und sagt: ‚Herrr Rrreichs-Doktorrr, ich habe starrrke Schmerrzen im linken Arrrm.' Daraufhin antwortet der Arzt: ‚Ja, sie haben ihren rechten Arm zu oft zum Hitlergruß erhoben und haben nun einen Tennisarm beziehungsweise Teutonenarm. Da hilft nur eine Amputation!' – ‚Sie wollen meinen Arrrm amputierrren?' – ‚Nein, das Gehirn.' (...) Warum überquert der Nazi die Straße? Weil auf seiner Straßenseite ein Nicht-Nazi ist.'" Diesen Abend werde ich nicht überleben. Wenigstens konnte Kirrra, äh, Kira „fliehen" ...
Auf diese Weise schaffte es der Komiker, den Abend wie vorgesehen, wenngleich etwas zu hastig, zu beenden. Nach und nach verließen die Gäste den „Nachtclub", am Ende saßen nur noch die Dorfteenager an ihren Plätzen. Der Komiker verbeugte sich und wartete vergeblich auf Applaus. Zum Glück hat Kurti meine Gage im Voraus bezahlt ...
Der Komiker verließ den Raum durch eine Hintertür. Die einzigen verbliebenen Leute waren die drei Dorfteenager. War es sinnvoll, Kids in einem Raum voller Alkohol alleinzulassen? Ach, was soll's, das ist jetzt nicht mein Problem ... Er hielt Ausschau nach Kira, denn er wollte nach seiner Show noch kurz mit ihr „fraternisieren". Nachdem er das Gebäude umrundete, fand er sie – zum Glück ohne Nazi-Blutegel an der Backe – im Gespräch mit Kurti, dem Besitzer dieses Etablissements, welches man ohne Über- oder Untertreibung als „schäbig" bezeichnen konnte. Mit der Hilfe des Komikers konnte sie sich ein zusätzliches „Schmerzensgeld" aushandeln.
Kurti, der es mochte, wenn man ihn „Onkel Kurti" nannte (auch wenn das niemand jemals getan hatte), war ein gemütlicher, hamsterbäckiger Mann in seinen frühen 50ern. Weil er sehr stolz auf seinen „Special Guest" an dem Abend war, spielte er ausnahmsweise den Türsteher und begrüßte jeden Gast mit Handschlag, sodass er von dem Auftritt des Komikers kaum etwas mitbekam. „Äh, die Leute haben nur deshalb so selten laut applaudiert, weil sie von meinen Witzen so gefesselt waren ... Äh, und alle waren von mir sehr hingerissen, du hast bestimmt gehört, wie sie am Anfang laut vor Freude gegrölt haben ..." Kurti glaubt echt jeden Schwachsinn, den er von mir aufgetischt bekommt ...
Sowohl Kira als auch der Komiker waren nur für diesen einen Abend gebucht. Wehmütig verabschiedete er sich von ihr, nachdem sie ihre Handynummern ausgetauscht hatten. Der Komiker schaute ihr noch kurz hinterher, wie sie zu der nächstgelegenen Haltestelle ging und achtete darauf, dass sie ordnungsgemäß in ihren Bus stieg. Sie war nun in Sicherheit, was der Komiker nicht von sich behaupten konnte.
Er selbst latschte nun gemächlich zu der kleinen Frühstückspension, die für ihn freundlicherweise gemietet wurde. Am nächsten Morgen sollte ihn ein Taxi zu der nächsten Station seiner Ost-Tour befördern, der Jubiläumsfeier der freiwilligen Feuerwehr von Neu-Pröbnitz.
Mit seinen Gedanken war er immer noch bei Kira, als er die einsame Straße, die nur von einer entfernten Straßenlaterne beleuchtet wurde. Hätte er etwas mehr auf seine Umgebung geachtet, dann wären ihm die Schritte hinter ihm aufgefallen. Hinter einen Baum sprang ihm eine bekannte Person entgegen. Es war der Grinse-Nazi.
„Man begegnöt sisch immer zweemal im Lebn!", rief er. Reflexartig drehte sich der Komiker um, aber das einzige, was er noch mitkriegte, war ein Fausthieb in seinem Gesicht.
* * *
Der Komiker erwachte in einen kleinen Raum, anscheinend war es eine Abstellkammer. Man hatte ihn an einen Stuhl gefesselt. Noch immer schmerzte sein Riechkolben und er schmeckte etwas Blut, dessen Ursprung allen Anschein nach seine aufgesprungene Oberlippe war. Verschiedene, zumeist metallene Gegenstände umgaben ihn.
„Öh, er ischt oofgewächt!", sagte der eine Nazi zum anderen. Beide Nazis standen mit verschränkten Armen vor dem Komiker. Wenn sie gerade mal nicht grinsten oder junge Frauen belästigen, konnte man sie nicht voneinander unterscheiden. Zwei in jeder Beziehung identische Personen. Nazi-Twins.
„Mer ham' hier ne Autobatterie und n'Starthilfekabel. Und dü hascht Nippel. Wa' wird wohl geschehn, wenn mer diese Objekte miteinander kombinieren tün?"
„Der Auftakt zu einer schwulen BDSM-Party?"
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