Kapitel 9 "Geschichtenerzähler"
Nachdem wir auch die restlichen Spiegel in der Wohnung entsorgt hatten, versuchten wir mehr über die aktuelle Situation herauszufinden. Das Internet war noch immer weg. Es musste komplett zusammengebrochen sein.
Die meisten Fernsehsender zeigten nur Störbilder, aber auf einigen wenigen liefen Berichte. Offenbar hatte es überall auf der Welt zur gleichen Zeit eingesetzt. Spiegelbilder hatten Menschen angegriffen und ernsthaft verletzt. Es war die Rede von einigen tausend Toten. Mir kam die Zahl zu klein vor, um der Wahrheit zu entsprechen. Wacklige Handyaufnahmen sollten das Ausmaß der Zerstörung zeigen.
Offenbar konnte ungefähr jeder fünfte Mensch die Wesen sehen, die die Menschen angriffen. Noch vor wenigen Tagen war mir niemand über den Weg gelaufen, der sie sehen hatte können. Und jetzt sollten es gleich so viele sein? Das konnte doch einfach nicht stimmen. „Das sieht noch übler aus, als ich es mir vorgestellt habe."
Juvia saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa und schaute gebannt auf den Bildschirm. Sie trug noch immer das blutverschmierte T-Shirt von gestern, offenbar hatte sie ganz vergessen, dass sie es noch anhatte. „Was ist denn nur passiert? Gestern um diese Zeit war noch alles normal." Ich suchte fieberhaft nach einer Erklärung dafür, aber ich fand keine. Es musste einen Grund dafür geben, da war ich mir sicher, aber ich kannte ihn nicht.
„Ich hab keine Ahnung", gab Juvia zu. Sie tat mir leid, noch gestern hatte sie nicht einmal von der Existenz der Spiegelwesen geträumt und jetzt waren sie der Grund dafür, dass Menschen starben. „Ross, sie hat uns gestern nichts getan. Als wir in dem Laden waren, hätte sie mit Sicherheit aus dem Spiegel kommen können. Aber sie hat es nicht getan. Du sagst, dass sie schon zwei Jahre bei dir ist. Warum hat sie dich nie verletzt, wenn sie es doch offenbar so gerne tun?"
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, warum das so war. Es hatte mit Sicherheit genügend Gelegenheiten für sie gegeben, mich umzubringen. Ich hatte mich nie wirklich komplett von Spiegeln ferngehalten, das war auch völlig unmöglich. Allein schon, weil ich keine übermäßige Aufmerksamkeit erregen wollte. Vor allem meine Familie hätte mich mit liebevoller Fürsorge erdrückt, wenn ich ihnen von ihr erzählt hätte.
„Vielleicht konnte sie nicht. Genau wie die anderen, die doch auch erst jetzt aufgetaucht sind. Irgendwas hat sich komplett verändert, viel zu viele Menschen können sie sehen. Bisher hat sie so gut wie gar niemand gesehen. Nicht mal ich hab außer ihr so was gesehen. Das alles geht zu schnell." Die Reporterin im Fernsehen redete weiter.
In den meisten Ländern wurden Sitzungen abgehalten, wie man das Ausmaß des Chaos noch in Schach halten konnte. Die meisten Großstädte waren längst evakuiert worden, auch hier konnte es nur noch eine Frage der Zeit sein. „Die Menschen haben Angst, sie wollen Erklärungen dafür. Aber am wichtigsten ist, dass irgendjemand dafür sorgt, dass das Ganze ein Ende findet. Je schneller, desto besser."
Nur leider war das eine ziemlich unmögliche Aufgabe. „Dazu müssten wir wissen, woher sie kommen und warum sie so gerne morden. Und natürlich, wie man sie aufhalten kann", stellte ich fest. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir beide das bewerkstelligen konnten. Wir hatten gar nicht die Mittel dazu. „Irgendjemand wird sich schon darum kümmern."
Juvia wirkte nicht sonderlich begeistert davon, dass ich den Job am liebsten den anderen überlassen würde. Was sollten wir beide auch schon tun können? Wir saßen vorerst in Los Angeles fest, von der Außenwelt abgeschnitten, auch wenn die Telefonnetze noch funktionierten. Dabei meldete das Fernsehen schon, dass in vielen Städten der Strom ausgefallen war.
Anderenorts waren auch die Telefonleitungen und die Handyverbindungen zusammengebrochen. Es ging wirklich alles unglaublich schnell. Andererseits hatte auch niemand damit gerechnet, sonst hätten sich die Menschen darauf vorbereiten können. Das Chaos hätte sich bei weitem nicht so schnell ausgebreitet.
„Niemand hat eine Ahnung davon, du und vielleicht noch ein paar andere schon eher." Ich zuckte mit den Schultern: „Selbst wenn es noch mehr gäbe, die sie auch schon vorher gesehen haben, bringt uns das doch nicht weiter. Glaubst du etwa, ich wüsste wirklich etwas über sie? Sie redet ja nicht! Und sie hat auch nie etwas getan! Das was da gerade um den kompletten Globus passiert, ist eine völlig andere Dimension."
Ich hatte kein Recht, sie so anzufahren, aber ich redete mich in Rage und wurde vor allem zum Ende hin immer lauter. Natürlich hatte sie recht: irgendjemand musste etwas unternehmen und wer auch immer es tat, er sollte sich nicht ewig Zeit lassen, aber ich war es nicht. Ich war Musiker, kein Superheld. „Tut mir leid", sagte ich nun wieder etwas ruhiger.
„Aber du stellst Anforderungen, die ich nicht erfüllen kann." Das Lächeln, das sie mir schenkte, erreichte ihre Augen nicht. „Schon okay, du hast recht, ich kann nicht von dir erwarten, dass du die Welt rettest." Ich hatte die Befürchtung, dass es wohl oder übel jemand tun musste, aber dieser jemand war nicht ich.
„Die Menschen sind noch nie ausgerottet worden, es wäre doch lächerlich, wenn ein Haufen dahergelaufener Spiegelwesen es jetzt schaffen würde." Sie wirkte nicht überzeugt davon. Stattdessen umklammerte sie den Anhänger ihrer Kette, als wäre es ein Rettungsring. Meine eigenen Ketten trug ich schon so lange, dass ich sie gar nicht mehr richtig wahrnahm. Dasselbe galt für die Ringe, die meine Finger schmückten.
„Ich hab Angst davor, zu sterben." Ihre Stimme war ganz und gar ruhig, ohne jegliches Zittern. Ich wusste nicht, was mir mehr Sorgen bereitete; ihre Worte, oder wie sie es sagte. Was sollte ich antworten? Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Lüge war, bestand, egal was ich ihr jetzt sagte. Aber sie hatte es verdient, dass jemand den Versuch unternahm, ihr diese Angst zu nehmen.
Ich schluckte meinen eigenen Ängste und Befürchtungen hinunter. „Du wirst nicht sterben." Juvia wirkte nicht überzeugt, aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen. „Warum solltest du auch? Du hast dein ganzes Leben noch vor dir." Sie gab ein ersticktes Schluchzen von sich: „Glaubst du wirklich, darauf nimmt jemand Rücksicht? Es sind schon genügend Leute gestorben, die ihr Leben noch vor sich gehabt hätten."
Meine Antwort darauf war Schweigen. Was sollte ich dazu noch sagen? Es stimmte leider, jedes Jahr so viele Tote für nichts. Langsam stand Juvia auf und ging zum Fenster. Dort stand sie einige Minuten und rührte sich kaum. Sie hob sich von der hellen Nachmittagssonne ab. Irgendwann seufzte sie. „Ich glaub ich hab das seelische Tief überwunden. Der Weltuntergang ist wohl etwas zu viel für mich. Normalerweise bin ich nicht so der Typ für Stimmungsschwankungen, aber nun ja. Die Situation ist auch nicht so sonderlich normal." Ich merkte, dass mein Lächeln verwackelt war, aber immerhin brachte ich noch eines zu Stande.
.-.-.-.
„Erzähl mir etwas über dich. Wir haben eine ganze Menge Zeit, die es zu nutzen gilt." Wir waren in die Küche gegangen, wo wir damit begonnen hatten, etwas zu kochen. Ich hätte jetzt zwar viel lieber eine Gitarre in der Hand, um mich zu beruhigen, aber solange ich überhaupt etwas tun konnte, war die Gedankenflut erträglich. Juvia trug dazu bei, dass ich nicht völlig in meinen Sorgen versank. „Meinen Namen kennst du ja schon", begann ich und sie nickte.
„Ich hab die ersten paar Jahre meines Lebens in Colorado verbracht, aber wir sind hierher gezogen, damit mein älterer Bruder sich seinen Zukunftstraum verwirklichen konnte." Ihre Augen leuchteten für einen Moment auf: „Hat es geklappt?" Diesmal war es einfacher zu lächeln, weil es einen echten Grund gab. „Ich glaube, er liebt was er tut. Mehr als jeder andere von uns."
Neugierig zog sie eine Augenbraue in die Höhe: „Euch?" Ich nickte, und dann erzählte ich ihr von meinen Geschwistern. Davon, wie sehr wir über die Jahre zusammengewachsen waren. Von R5s Aufstieg, von den Touren, einfach von allem. Sie stellte hin und wieder Fragen, aber die meiste Zeit über ließ sie mich einfach nur reden.
Noch lange nach dem Essen war ich nicht fertig und sie hörte noch immer zu. Es war ein gutes Gefühl, über all die normalen Sachen zu sprechen, wenn doch augenscheinlich nichts mehr normal war. „Jetzt du, erzähl du etwas über dich." „Meine Geschichte ist nicht ganz so interessant, eigentlich überhaupt nicht. Ich bin hier in Los Angeles groß geworden, auch wenn meine Eltern sich immer gewünscht haben, dass ich und meine Geschwister eine bessere Vorstellung von Afrika bekommen.
Sie sind ausgewandert, als sie geheiratet haben und nie zurückgekommen. Aber dort sind ihre Wurzeln und sie wollten immer, dass wir mehr über unsere Herkunft lernen. Als ich noch ganz klein war, haben sie auch eine Khoisansprache mit uns gesprochen. Sie haben allerdings damit aufgehört, bevor ich sie wirklich lernen konnte.
Mein älterer Bruder kann ein paar Brocken und nachdem wir jetzt in Afrika waren, kann sogar ich ein bisschen mit diesen Klicklauten sprechen. Ich hab auch noch eine kleine Schwester. Sie heißt Hadiya, was so viel bedeutet wie Geschenk. Und das ist sie wirklich, es gibt niemanden auf diesem Planeten, der liebenswürdiger ist als sie. Sie ist sechs Jahre jünger als ich, deshalb war es immer meine Aufgabe auf sie aufzupassen, auch wenn mein Bruder das vermutlich besser gekonnt hätte. Ich hoffe wirklich, dass es ihr gut geht."
Das Gefühl, seine Geschwister über alles zu lieben, kannte ich aus eigener Erfahrung. Es war schön zu sehen, dass auch Juvia jemanden hatte, der immer für sie da war. „Aber ich glaube schon. Sie mag erst 14 sein, aber sie ist sehr viel intelligenter als die meisten Kinder in ihrem Alter." „Ihr geht es bestimmt gut", versicherte ich ihr.
Die Hoffnung sollte bestärkt werden und nicht die Angst. „Ich mache mir trotzdem Sorgen", gab sie zu und umschloss mit der Faust wieder den Anhänger der Kette. Als sie meinen Blick bemerkte, lächelte sie etwas schüchtern. Das passte irgendwie nicht zu ihr, jedenfalls nicht zu der Juvia, die ich bisher kennengelernt hatte.
„Das ist noch so eine Familiensache. Wir sind alle ziemlich christlich, auch wenn meine Eltern uns nicht jeden Sonntag in die Kirche geschleppt haben. Hadiya zum Beispiel glaubt an nichts als Tatsachen. Keine Ahnung, was an ihrer Erziehung so anders war, aber es ist erstaunlich, wie sehr sie sich von mir und meinem Bruder unterscheidet. Ich glaube das ist auch der Grund, warum jeder sie am liebsten mag."
Sie zog die Beine an und verknotete sie zu einem Schneidersitz. „Von meiner Freundin Nicole hast du ja schon gehört. Als wir in der Grundschule waren, konnten wir uns nicht ausstehen. Es war echt schlimm, wie wir uns gehasst haben. Ich weiß nicht genau, wann wir Freundinnen geworden sind, aber es ist passiert. Inzwischen gibt es niemanden mehr, dem ich mehr von mir erzähle. Sie kennt so gut wie alle meine Geheimnisse."
In diesem Moment ging das Licht aus. Ich hatte schon fast nicht mehr mit einem Stromausfall gerechnet. Damit konnten wir also auch vergessen, im Fernsehen mehr über die Gesamtsituation zu erfahren. Auf der anderen Seite war ich mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt wissen wollte, wie schlimm es in den nächsten Stunden noch werden würde. Wenn die Leute jetzt nicht mehr in den Großstädten waren, musste das Land komplett überfüllt sein. Wo sollten die ganzen Menschen vorerst unterkommen? Die Krise hatte noch nicht einmal richtig begonnen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro