Kapitel 38 "Ravengers"
„Ist das dein Ernst? Du willst einfach wieder abhauen? Kommt gar nicht in Frage!“ Dad schüttelte entschieden den Kopf und auch Mum sah nicht so aus, als wäre sie übermäßig begeistert von meinen Plänen. „Lasst es mich erklären“, bat ich sie und setzte mich nun doch. „Rydel hat vorhin gesagt, dass ich ein Konfettiherz hätte.“ Alle drehten sich zu ihr um, woraufhin sie mit den Schultern zuckte: „Was? Darf ich nicht auch mal poetisch sein?“
„Juvia hat eins. Sie würde sich opfern, um die Leute zu retten, die sie liebt. Ich bin mir fast sicher, dass sie nicht zurück zu ihrer Familie ist, sondern auf dem Weg, die Spiegelwesen dorthin zurück zu verbannen, wo sie herkamen. Und ich kann nicht zulassen, dass sie dabei stirbt.“ Das schlechte Gewissen, das ich hatte, weil ich ihr Informationen vorenthalten hatte, wurde noch schlimmer. Wenn ich mir vorstellen musste, dass sie womöglich wirklich sterben würde, schon wieder wegen mir, zog sich mein Herz zusammen.
„Dir ist es echt ernst damit, oder? Du kennst sie nicht mal einen Monat lang. Denkst du nicht, dass sie vielleicht nicht das Wichtigste in deinem Leben ist? Sie hat eine Entscheidung getroffen, falls sie überhaupt wirklich auf dem Weg ist, uns zu retten. Selbst wenn du ihr jetzt sofort folgen würdest, wirst du sie wahrscheinlich nicht finden. Du weißt ja nicht mal, wo genau sie ist.“ Zustimmendes Gemurmel unter meinen Geschwistern. Ich wollte sie mit der Wahrheit überzeugen, aber die konnte ich ihnen nicht erzählen.
„Bitte Leute, ihr müsst mir vertrauen.“ „Wobei sollen wir dir vertrauen?“ Ich holte tief Luft: „Die Berge sind nicht sicherer, als es irgendwo anders ist. Juvias Familie ist noch immer in einem Vorort von LA. Ihr solltet auch dorthin.“ „Nie und nimmer! Wir haben Tage gebraucht, bis wir hier waren und uns sicher genug gefühlt haben, um ein Lager aufzubauen“, widersprach Rocky heftig.
„Aber hier ist es nicht sicherer! Versteht ihr das nicht? Es ist nirgendwo mehr sicher. Nur noch ein paar Tage, vielleicht auch nur noch Stunden, bis-.“ Stockend hielt ich inne. Konnte ich ihnen das wirklich sagen? „Bis was?“, fragte Riker neugierig. „Sie werden mächtiger. Die Spiegelwesen meine ich. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie auch aus anderen spiegelnden Oberflächen heraustreten können.“
Dad legte Mum beschützend einen Arm um die Schulter. „Woher willst du das wissen?“ Ich hatte das Gefühl, das die ganze Welt gegen mich war. „Ich weiß es eben.“ Blicke wurden gesenkt, als ich in die Runde schaute, musterten alle den Boden. „Das reicht aber einfach nicht“, murmelte Riker. „Du musst uns das Ganze erklären.“ Ich wollte es ihnen nicht sagen, am liebsten würde ich ihnen den Schrecken, der noch auf uns wartete, ersparen. Das ging aber nicht.
„Also gut, wenn ihr es unbedingt wissen wollt.“ Die Verzweiflung sprach in diesem Moment aus mir. Ich musste sie überzeugen, mir zu vertrauen. Niemals hätte ich gedacht, dass es je soweit kommen würde. „Juvia und ich haben in den Bergen eine Art Unterschlupf gefunden. Wir waren nur leider keine willkommenen Gäste und wurden deshalb verschleppt. Der Typ, der uns gefangen genommen hat, war völlig gestört. Tagelang hat er uns festgehalten, bis wir gemerkt haben, dass er nicht er selbst war. Am Anfang waren es nur Anzeichen einer gespalteten Persönlichkeit, aber irgendwann haben wir gemerkt, dass es tatsächlich zwei verschiedene Personen waren. Eine davon war ein Spiegelbild. Sie sahen nur beide menschlich aus. Das Spiegelbild hatte den Mann vollkommen unter Kontrolle. Versteht ihr das? Sie können uns nicht nur von außen verletzen, sondern genauso gut von innen.“
Riker schüttelte den Kopf: „Wie soll das gehen?“ Zweifel war in den Augen meiner Geschwister zu lesen, Angst in denen meiner Mutter und Wut in den sonst so ruhigen Augen meines Vaters. „Sie sind schon immer dort gewesen und die Leute haben auch schon immer zugelassen, dass sie sie beeinflussen, aber jetzt sind sie stärker. Schon früher haben sie Leute umgebracht, in den Wahnsinn getrieben, sie davon abgehalten zu essen.“ „Das stimmt nicht. Du lügst.“
Ungläubig starrten sie mich an. Was sollte ich darauf antworten? Entweder sie würden mir glauben, oder nicht; ich hatte kaum noch Argumente. „Sie brauchen sich gar nicht mehr die Hände schmutzig machen, sie werden uns langsam in den Tod führen. Wenn sie keiner aufhält.“ „Warum solltet ausgerechnet ihr das können?“, fragte Ryland. „Weil sonst kaum jemand davon weiß. Und weil wir tief genug mit drin stecken.“ Ohne ein Wort zu sagen standen Mum und Dad auf, um im Zelt zu verschwinden. Vielleicht berieten sie darüber, ob sie meinen Worten Glauben schenken durften, oder ob ich nur verrückt geworden war.
„Was ist denn jetzt mit dem Essen?“, fragte Rocky, nachdem minutenlang betretenes Schweigen geherrscht hatte. „Mir ist ein bisschen der Appetit vergangen“, sagte Rydel und musterte mich. „Du musst aber was essen, wir können es nicht gebrauchen, dass du uns nachher umkippst.“ Riker hielt ihr eine Schüssel mit dampfender Suppe hin, die sie widerwillig entgegennahm. Sowohl Besteck als auch die Schüsseln waren ein bunter Mix aus Dingen, die nicht so recht zusammen passen wollten.
Gedankenverloren starrte ich die Löffel an, bis mir Riker ebenfalls eine Schüssel reichte. „Hier, du solltest auch was essen.“ „Wie seid ihr von dort wieder weggekommen?“, platzte es aus Ryland heraus. „Er ist gestorben.“ „Ihr habt ihn umgebracht?“ Obwohl er die Aufregung in seiner Stimme zu unterdrücken wusste, bemerkte ich sie. Ich schüttelte den Kopf und auch Riker kam mir zu Hilfe: „Das hat er nicht gesagt. Wie ist er gestorben?“ Erwartungsvolle Blicke wurden in meine Richtung geworfen. Ich zögerte mit meiner Antwort.
„Sein Spiegelbild konnte nicht zurück in seine eigene Welt und ist dadurch umgekommen. Er konnte nicht ohne sein Spiegelbild weiterleben.“ „Aber das bedeutet auch, dass sie nicht so unverwundbar sind, wie wir bisher angenommen haben, richtig?“, fragte Rocky interessiert. „Doch, sind sie. Selbst wenn du sie von den Spiegeln weglocken kannst, bringen sie dich um und kehren zurück, lange bevor die Situation für sie gefährlich wird.“
„Wenigstens haben sie überhaupt eine Schwäche, das bedeutet, dass wir tatsächlich eine Chance haben. Den Leuten fehlt die Hoffnung, und du hast einen Grund gefunden, warum sie wieder welche haben können. Wir müssen nur einen Weg finden, sie alle zu töten.“ Keiner meiner Brüder schien sich im Moment wirklich wohl in seiner Haut zu fühlen. Vielleicht glaubten sie, dass die Aktion viel zu gefährlich war und ich konnte ihnen da nur zustimmen. Rydel hingegen wirkte wesentlich ruhiger.
„Wir können nicht alle Spiegelbilder töten. Was, wenn sie sich alle selbstständig machen? Ihr habt doch gehört, dass man ohne Spiegelbild nicht leben kann. Was wollt ihr dann machen? Jeden umbringen? Das macht es doch nicht besser, Jungs.“ Nachdenklich rührte sie in ihrer Suppe, die nicht so ungenießbar war, wie sie aussah. „Genau deshalb muss ich Juvia ja auch helfen. Sie zu töten ist keine Lösung, wir müssen einfach nur dafür sorgen, dass sie dort bleiben, wo sie hingehören.“
„Gut“, sagte Riker und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, „ich komme mit.“ Ryland hob die Hand und grinste mich an: „Ich bin auch dabei.“ „Was ist mit mir?“, fragte Rocky. „Ich wollte schon immer mal in einem Horrorfilm mitspielen. Die Gejagten werden früher oder später immer zu den Jägern.“ „Ich komm auch mit“, sagte Rydel entschlossen. „Glaubt ja nicht, dass ihr hier die Helden ohne mich spielen könnt.“ Entsetzt schaute ich meine Geschwister an: „Ihr könnt nicht alle mitkommen! Wisst ihr, wie gefährlich das ist?“
Allesamt nickten sie, oder zuckten mit den Schultern, als würde es ihnen nichts ausmachen. Rocky legte den Kopf schief: „Anstatt mit uns zu diskutieren, solltest du lieber Mum und Dad überzeugen. Jede Minute die wir warten, gibt Juvia Zeit, sich weiter von dir zu entfernen.“ So ungern ich es auch zugab, er hatte recht. „Was machen wir, wenn Mum und Dad nicht mit sich reden lassen?“ Rydel legte ihre Schüssel beiseite und beugte sich vor, gefährlich nahe an das Feuer.
„Die beiden reden da drin seit mindestens zehn Minuten. Sie haben sich offenbar noch nicht festgelegt, also kannst du auch mit ihnen reden. Außerdem hast du jetzt ein Team.“ Rocky lachte kurz auf: „Wir sind die Ravengers. Versteht ihr?“ Alle schüttelten über diesen schlechten Witz den Kopf; manche Dinge änderten sich eben doch nie. „Ich rede mit Mum und Dad“, erklärte Rydel und stand auf.
„Ihr passt derweil auf, dass nichts in Flammen aufgeht oder jemand stirbt. Bekommt ihr das hin, Ravengers?“ Wir nickten unisono, während auch meine ältere Schwester im Zelt verschwand. Einige Sekunden blickten wir ihr schweigend nach. „Ich will Thor sein“, informierte Rocky uns. „Wisst ihr noch, wie wir uns an Halloween verkleidet haben? Wie lange ist das jetzt her?“ „Kommt mir ewig vor“, gab ich zu. „Aber ich weiß noch, dass ich Iron Man war.“
„Ellington war Hulk.“ Amüsiert über die Erinnerung, lauschte ich dem Knacken der trockenen Äste, die unter der Hitze des Feuers brachen. „Ich war Captain America. Und Delly war Natasha Romanoff alias Black Widow”, sagte Riker und lächelte dabei. „Rydel hat recht“, meinte er schließlich, „du hast jetzt ein Team.“
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro