Kapitel 30 "Totenlabyrinth"
Am nächsten Morgen fühlte ich mich besser. Es tat jetzt nicht mehr jeder Knochen in meinem Körper weh, sondern nur noch ein paar. Gut genug, stellte ich fest. Mein Brustkorb fühlte sich nicht mehr an, als würde er in Flammen stehen und auch sonst befand ich mich in einer einigermaßen guten Verfassung. Ich erneuerte den behelfsmäßigen Verband um meinen Oberkörper und beschloss, dass ich mich weiter umsehen sollte.
Gerade im Keller hoffte ich, auf mögliche Vorräte zu stoßen. Ich war unglaublich hungrig. Als ich die Tür öffnete und in den Flur spähte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass Dwight tot sein könnte. Ich hatte keine Ahnung, wie stark die Bindung zu den Spiegelbildern war, aber möglicherweise konnte man ohne sein gläsernes Ebenbild nicht leben. Die Toten hatten immer noch ein Spiegelbild, aber es gab kein Lebewesen, das ohne Spiegelbild existierte.
Eigentlich war das gar nicht mal so abwegig. Aber ich konnte ja nicht mit Sicherheit sagen, dass Dwight Sawyers Spiegelbild inzwischen tot war. Bisher war es zwar noch nicht hier aufgetaucht, aber das war möglicherweise nur eine Frage der Zeit. Da meine Kleider noch nicht richtig trocken waren, zog ich lediglich meine Unterwäsche und meine Hose an. Der klamme Stoff klebte an meiner Haut, als wolle er sie ersetzen.
Weil ich noch immer nichts hatte, mit dem ich mich verteidigen könnte, war ich die ganze Zeit über extrem angespannt. Vorsichtig huschte ich von Tür zu Tür, um im Zweifelsfall möglichst schnell verschwinden zu können. Andererseits würde ich mich damit selbst in eine Sackgasse manövrieren. Ich hatte das Gefühl, jeder Plan würde am Ende nach hinten losgehen, aber ich konnte nichts dagegen tun.
Letztendlich musste ich mich wohl einfach auf mein Glück verlassen, bisher hatte es schließlich auch funktioniert. Bis ich die Treppe zum Keller wiedergefunden hatte, war sicher eine Viertelstunde vergangen. Es kam mir sogar länger vor, aber auf mein Zeitgefühl war schon lange kein Verlass mehr. Der Keller war genau wie der Rest des Gebäudes scheinbar verlassen.
Der einzige Unterschied zu den anderen Stockwerken, war die Dunkelheit. Es war nicht wirklich finster, da von oben Licht nach unten fiel, aber es fühlte sich trotzdem gänsehauterregend an. Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden und gleichzeitig meine Imagination davon abzuhalten, sich schreckliche Bilder auszumalen. Obwohl ich es hier gruselig fand, wurde ich schneller.
Keine Ahnung, woher der plötzliche Wagemut kam, aber ich nutzte ihn. Ganz am Ende des Ganges, im Schatten verborgen, wartete eine Tür, die sich von den anderen unterschied. Ein triumphierendes Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Erstaunlich, dass man selbst in Zeiten wie diesen nicht damit aufhören konnte, glücklich zu sein. Und wenn es nur kurze Momente waren.
Als ich die kalte, metallene Klinke in die Hand nahm und nach unten drückte, dachte ich für einen Herzschlag, sie wäre verschlossen. Das würde Sinn machen. Warum sollte Dwight seine Vorräte mit anderen teilen? Doch dann merkte ich, dass die Tür einfach nur so schwer war, dass man sie kaum bewegen konnte. Ich lehnte mich mit meinem gesamten Körpergewicht dagegen, bis sie langsam aufschwang.
Als ich den Schalter betätigte, flammte das Licht auf und ich stellte fest, dass der Raum wesentlich größer war, als ich es erwartet hatte. Man konnte es kaum mehr als Vorratszimmer bezeichnen. Es war eher eine ganze Halle, auch wenn die Decke nicht so hoch war. Regalreihen reihten sich aneinander und bildeten ein gigantisches Labyrinth. Sawyer hatte also tatsächlich nicht gelogen; das Haus war gebaut worden, um Menschen Unterschlupf zu bieten.
Wahrscheinlich hatten wir es der Beeinflussung durch das Spiegelwesen zu verdanken, dass es jetzt völlig verlassen war. Hier drin war es kalt, was mich nicht überraschte, schließlich lagerten hier Nahrungsmittel. Haufenweise Dosen türmten sich aufeinander und versperrten den Blick auf die dahinterliegenden Regale. Weiter vorne lagerte kiloweise Knäckebrot. Davon hatte ich in den letzten Tagen schon einiges gegessen.
Je tiefer ich in die Halle vordrang, desto gewaltiger schätzte ich die Ausmaße dieser Halle ein. Unterirdisch musste das Haus noch größer sein, als in den darüber liegenden Stockwerken. Mal abgesehen davon, dass hier scheinbar endlose Mengen an Nahrung lagerten, gab es absolut nichts Ungewöhnliches zu sehen. Ich belud mich mit so Essen und Trinken, wie ich tragen konnte. Damit sollte ich die nächsten Tage durchkommen.
.-.-.-.
Es war noch am selben Tag, als ich genug Mut fasste und mich auf die Suche nach Dwight machte. Vielleicht gab es ja doch noch eine Möglichkeit, von hier wegzukommen. Außer ihm konnte allerdings niemand davon wissen, also musste ich wohl oder übel mit ihm reden. Zuerst suchte ich dort, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Obwohl ich keine Munition mehr für sie hatte, war ich nach draußen gegangen und hatte die Pistole gesucht.
Es war nicht allzu schwer gewesen, sie zu finden. Dadurch fühlte ich mich um einiges sicherer. Dort wo ich ihn festgebunden hatte, war er offenbar schon lange nicht mehr. Seufzend wandte ich mich um; das würde die Suche erheblich schwieriger gestalten. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Das Problem war nicht mal, dass er nicht mehr hier war, sondern dass es praktisch unendlich viele Möglichkeiten für ihn gab, sich zu verstecken.
Und selbst wenn er mir gar nicht aus dem Weg gehen wollte, könnte man sich hier unwissentlich monatelang nicht begegnen. Ihn einfach zu rufen, war wohl auch keine Möglichkeit und ansonsten gab es nicht viel, das ich tun konnte. Na super. Während ich mich weiter umsah, zog ich in Erwägung, ihn in eine Falle zu locken. Er musste schließlich der festen Überzeugung sein, dass er mir überlegen war, was vermutlich auch stimmte.
Aber wenn ich meine Vorteile richtig nutzte, konnte ich ihn ausschalten, bevor er es mit mir machte. Ich hatte es immerhin schon einmal geschafft. Warum also nicht auch ein zweites Mal? Allerdings war jetzt auch einiges anders. Er rechnete damit, dass ich -falls er überhaupt wusste, dass ich noch lebte- früher oder später hier auftauchen würde. Zum einen, weil er ahnen musste, dass ich wusste, dass er etwas mit dem Auftauchen der Spiegelwesen zu tun hatte und zum anderen, weil man hier sicher war.
Jeder halbwegs intelligente Mensch würde hierher zurückkehren. Das musste er wissen. Aber ich bezweifelte, dass er jetzt schon mit mir rechnete. Wenn man davon ausging, dass ein Mensch nicht ohne sein Spiegelbild existieren konnte, bestand sogar die Möglichkeit, dass er bereits tot war. Ich wollte den Teufel zwar nicht an die Wand malen, da sein Tod auch für mich ein Rückschlag wäre, aber ich musste es in Erwägung ziehen.
Schließlich entschied ich mich dazu, das Haus nach ihm abzusuchen. Dabei musste ich eben auf mein Glück vertrauen, sonst würde er mich finden, bevor ich ihn fand. Inzwischen wusste ich, wie ich mich mit meiner Rippe bewegen musste, ohne dass es weh tat. Mal abgesehen von meinen Schritten, war es totenstill in dem riesigen Gebäude. Bei Nacht war es hier zwar noch unheimlicher, aber selbst am Tag rechnete ich hinter jeder Ecke mit einem Angreifer.
Wahrscheinlich wurde man ganz automatisch paranoid, wenn man sich in einer solchen Situation befand. Trotzdem blieb meine Suche erfolglos..-.-.-.Nachdem ich sämtliche Gänge durchsucht hatte, gab ich es auf. Dem Sonnenstand zufolge musste es später Nachmittag sein und ich hatte keine Lust mehr, durch die immer gleichen Flure zu laufen. Wie es wohl für Dwight gewesen sein musste, als er noch alleine hier war?
Andererseits war er von seinem Spiegelbild kontrolliert worden und hatte damit wahrscheinlich gar nicht die Empfindungen eines Menschen gehabt. Zurück in meinem Zimmer erneuerte ich den Verband um meinen Oberkörper, aß etwas und setzte mich dann auf mein Bett. Der Himmel über der Wüste färbte sich langsam rot, bis es dunkel wurde und die Sterne zu leuchten begannen. Mein Herz wurde schwer, als ich an die letzte Nacht mit Juvia dachte.
War waren nebeneinander eingeschlafen, nachdem ich ihr ein Märchen erzählt hatte. In den Geschichten starben die Helden nie. Sie waren schließlich dazu bestimmt, die Welt zu retten. Meine Unterlippe zitterte leicht, als ich tief einatmete. Der Gedanke an Juvia machte mich jedes Mal wieder traurig, es kam mir so unwirklich und grausam vor, dass sie für mich gestorben war. Ihre Familie hatte bestimmt immer noch die Hoffnung, dass es ihr gut ging, genau wie meine.
Ich wünschte, ich könnte mich bei ihnen melden. Sie sollten wenigstens wissen, dass ich noch lebte, damit sie sich keine Sorgen machten. Ich hoffte bloß, ihnen ging es gut. Das Ganze musste endlich ein Ende finden, bevor noch mehr Leute verletzt wurden. Wie viele Familien waren wohl schon auseinandergerissen wurden? Wie viele unschuldige Menschen hatten ihr Leben gelassen? Es musste etwas unternommen werden, und so ungern ich das auch tat, es blieb wohl an mir hängen.
Juvia wäre stolz auf mich. In diesem Moment hörte ich den Schrei. Er war hoch und so voller Schmerz, dass er mir einen Schauer über den Rücken jagte. Das musste Dwight gewesen sein. Hastig erhob ich mich, verließ das Zimmer und lauschte. Da ich nicht wusste, woher er gekommen war, konnte ich dem Schrei auch nicht folgen. Beim zweiten Mal war es kaum mehr ein Schrei, sondern eher ein hohes Wimmern.
Es klang, als würde jemand sterben. Vorsichtig lief ich durch den unbeleuchteten Gang und hielt Ausschau. Alle paar Meter blieb ich stehen, um zu lauschen, doch das Haus schien alle Geräusche zu verschlucken. Etwa eine halbe Stunde später fand ich Dwight Sawyers Leiche, halb gegen die Wand gelehnt, mit weit offenen Augen.
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