Kapitel 9
Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie über den beschlagenen Spiegel.
Bereute es aber sofort wieder.
Müde, aufgequollene Augen mit dunklen Schatten darunter, blasse fahle Haut und ein Gesichtsausdruck zum Wegrennen.
Kein Wunder. Hatte sie, wenn es hochkommt, vielleicht drei Stunden geschlafen.
Immer wieder war sie aufgewacht, nachdem sich teilweise verstörende Bilder in ihre Träume geschlichen hatten.
Auch das war kein Wunder.
Gestern hatte Jiwoons Mutter sie angerufen. Unter Schluchzen und teilweise nur schwer verständlich wurde sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Polizei eine Identifizierung des Leichnams verlangt hatte.
Jiwoons Mutter musste sich den zerschundenen Körper ihrer einzigen Tochter ansehen und bestätigen, dass es sich um selbige handelte.
Schlimm genug, so etwas überhaupt von ihr zu verlangen. Hatte Danbis Zeugenaussage nicht gereicht?
Schlimmer aber waren wohl nur noch die Vorwürfe, die sie sich von Jiwoons Mutter anhören musste.
Warum sie nicht aufgepasst hatte. Weshalb sie überhaupt mitten in der Nacht in der Stadt unterwegs waren.
Und überhaupt war ihr Job ja wohl das Letzte.
Seufzend hatte Danbi alles über sich ergehen lassen. Auch die Details, wie zugerichtet Jiwoon laut Aussage ihrer Mutter wohl war.
Das, was ihr über die tränenerstickten Lippen gekommen war, hatte für die nächsten Alpträume ausgereicht.
Ihrer Freundin wurde der Absatz ihres eigenen Stilettos ins Auge gerammt.
Wie grausam und kaltblütig musste man sein, um jemand anderen derart grausam zu ermorden?
Wieder und wieder hatte Danbi sich gefragt, ob genau das der Grund war, weshalb ausgerechnet Jiwoon zum Opfer gefallen war. Ob es an diesen verfluchten Schuhen gelegen hatte.
Und ob sie es irgendwie hätte verhindern können.
Warum hatte sie Jiwoon auch alleine losziehen lassen?
Wäre sie eine gute Freundin gewesen, hätte sie sie noch nach Hause begleitet.
Zwei Tage war es jetzt her.
Zwei Tage, in denen Danbi sich einfach nur in ihrer Wohnung verbarrikadiert hielt, nicht mal die Kraft hatte, zu duschen oder ihre Kleidung zu wechseln.
Zwei Tage, in denen sie sich gewünscht hatte, es hätte lieber sie selbst an Stelle von Jiwoon erwischen sollen.
Im Gegensatz zu sich hatte ihre Freundin Träume, Zukunftspläne. Eine Perspektive.
Danbi hatte nichts davon.
Sie war Realist genug, um zu wissen, dass jemand, der einmal nach Itaewon gekommen war, der eingetaucht war in diesen dunklen Strudel, nicht mehr so einfach nach oben kam.
Dass man tagtäglich kämpfen musste, um nicht noch tiefer zu fallen.
Genau aus diesem Grund hatte sie sich nach zwei Tagen nun doch aufgerafft. Sich regelrecht gezwungen aus ihrer Lethargie aufzuwachen.
Auch, weil sie sonst wahrscheinlich gefeuert werden würde,wie sie bedauerlicherweise feststellen musste.
Ohne Job kein Einkommen. Ohne Geld keine Wohnung.
Und eine drohende Obdachlosigkeit brachte Jiwoon auch nicht mehr zurück.
Seufzend trocknete Danbi ihre Haare ab, betrachtete sich dabei weiterhin im Spiegel, verzog spöttisch den Mund, als sie ausrechnete, wie viel Zeit sie benötigen würde, um aus dieser müden Grimasse etwas zu zaubern, was zumindest tageslichttauglich war.
Gedankenverloren griff sie bereits nach dem Föhn, als ihre Türklingel sie kurz zusammenschrecken ließ.
Einige Sekunden stand sie einfach nur da. In der Bewegung eingefroren spitzte sie die Ohren.
Das konnte nur ein Versehen sein. Weder hatte sie irgendwas bestellt oder jemanden eingeladen. Letzteres sowieso nicht.
Als es das zweite Mal klingelte, diesmal eindeutig länger und gefühlt energischer, wurde sie doch stutzig.
Wer zur Hölle hatte das Bedürfnis, sie um diese Uhrzeit zu nerven.
Ein kurzer Blick auf die Uhr über der Spüle verriet ihr, dass es halb drei nachmittags war.
Nun gut, später als vermutet.
Dennoch änderte es nichts an der Tatsache, dass sie für gewöhnlich nie Besuch erhielt. Auch weil kaum jemand überhaupt wusste, wo exakt sie wohnt.
Zwar neugierig, aber dennoch äußerst misstrauisch öffnete sie die Tür für einen Spalt. Selbstverständlich erst, nachdem sie die Sicherheitskette vorgelegt hatte.
Immerhin befand sie sich immer noch in einer Gegend, die nicht unbedingt für Familienfreundlichkeit stand. Von dem schweren Verbrechen vor zwei Tagen wollte sie gar nicht erst anfangen.
"Miss Choi.",wurde sie von einer altbekannten Stimme begrüßt.
Mit großen Augen linste Danbi durch den Türspalt, genau auf die breite muskulöse Brust von Jongin.
Schwer schluckte sie, spürte dabei, wie ihre Kehle trocken wurde.
"Was gibt's?", räusperte sie sich umständlich, hoffte, dass ihre Stimme trotzdem nicht ganz so piepsig klang, wie die eines Kleinkindes.
Was wollte er hier?
Woher hatte er überhaupt ihre Adresse? Obwohl... Er war ein Bulle. Es war wohl ein Leichtes, ihre Daten einfach aus dem Computer zu ziehen.
"Ich hätte noch ein paar Fragen an Sie.",gab er zur Antwort, setzte dazu einen auffordernden Blick auf, deutete für einen Sekundenbruchteil auf die schmale Kette, die ihn als einziges Hindernis davon abhielt, einfach die Tür aufzudrücken.
Danbi schob den abstrusen Gedanken wieder in die hinterste Ecke ihres Kopfes.
Es gab absolut keinen Grund, weshalb er so etwas überhaupt in Erwägung ziehen sollte. Und was am unwahrscheinlichsten von allem war: das eine kleine billige Metallkette einem voll austrainierten Polizeibeamten einer scheinbaren Spezialeinheit etwas entgegen zu setzen hätte.
"Jetzt?", hakte Danbi dennoch skeptisch nach. "Ich komme gerade aus der Dusche."
Er blickte ihr weiterhin stur in die Augen: "Das sehe ich."
Im ersten Moment schob Danbi irritiert die Brauen zusammen, konnte seine merkwürdige Reaktion nicht deuten. Und erst recht nicht diesen seltsamen starren Blick.
Was war bitte sein Problem?
Hatte sie vielleicht irgendwas im Gesicht? Oder sah sie doch beschissener aus als vermutet?
Reflexartig griff sie sich mit beiden Händen an die Wangen, bemerkte gleichzeitig, wie das Handtuch, das sie sich eigentlich umgebunden hatte, wohl im Laufe der letzten Minuten ein Eigenleben entwickelt und war bis zur Hüfte gerutscht.
Das erklärte zumindest das Verhalten von Jongin.
"Hoppla.", war alles, was Danbi rausbekam, ehe sie die Tür mit einem lauten Knall zuschlug.
Am liebsten hätte sie sie nie wieder aufgemacht.
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