Trübe Stunden
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf dem wie immer die abgetragene blaue Kappe thronte, saß Joshua Repp in der Regionalbahn Richtung Pulheim, einer kleinen Nachbarstadt von Köln. Er hatte es sich mit weit gespreizten Beinen auf einem Vierersitz gemütlich gemacht und summte melodielos vor sich hin, womit er einigen anderen Fahrgästen gehörig auf die Nerven ging. Die bösen Blicke der jungen Dame, die den Fehler begangen hatte, sich dem kleinen Reporter gegenüberzusetzen, nahm er jedoch gar nicht wahr, dazu war er viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt.
Für die Halterabfrage, die er am Morgen bei der Kfz-Zulassungsstelle beantragt hatte, um Namen und Adresse des Blonden von der Beerdigung herauszufinden, hatte er fünf Euro und zehn Cent bezahlt. Zusammen mit dem Zugticket waren das 16 Euro und zwanzig Cent, die er seinem Redakteur irgendwie als notwendige Ausgaben verklickern musste, jedoch war dies im Moment seine geringste Sorge. Tilmann würde sich ein wenig aufregen und zum hundertsten Mal drohen, ihn hinauszuwerfen, aber am Ende würde er ihn die Summe als Spesen abrechnen lassen, so wie immer.
Nein, was Joshua viel mehr beunruhigte, war die Tatsache, dass der anhand des Kennzeichens ermittelte Fahrzeughalter des silbernen BMWs den Namen Dr. med. Aryan Sunil trug und - nach dem Foto auf seiner Website zu urteilen - äußerlich das genaue Gegenteil zu dem Mann von gestern darstellte: Seine Haare waren schwarz, er hatte eine dunkle Hautfarbe und trug eine rahmenlose Brille mit rechteckigen Gläsern, die ihn wie den klischeehaften, gutmütigen Arzt wirken ließ. Möglicherweise hatte er seinen Wagen ja lediglich an den blonden Kerl verliehen, aber sollte dieser das Auto gestohlen haben, konnte das auch für Joshua unliebsame Folgen haben, denn selbstverständlich war es verboten, ohne triftigen Grund Halterdaten abzufragen. Der Anfahrunfall, den Joshua als Begründung angegeben hatte, war natürlich ein Produkt seiner Fantasie; Joshua besaß nicht einmal ein Auto, das Schaden hätte nehmen können.
Als der Reporter mit der blauen Kappe - sehr zur Erleichterung der Mitreisenden - in Pulheim sein unmelodisches Gesumme einstellte und sich von seinem Sitzplatz erhob, um auszusteigen, gab Taddl gerade Salz ins Kochwasser, damit die Nudeln ihren Salzgehalt behielten und hinterher nicht wässrig schmeckten. Simon hatte nach der Befragung auf dem Polizeibüro nicht in einem Restaurant essen wollen, weshalb Taddl nun bei sich zuhause seine berühmten, veganen Spaghetti Bolognese ,,nach Brick'scher Art" zubereitete, mit roten Linsen und ein wenig Paprika, aber ohne Knoblauch und Zwiebeln, weil Simon es nicht ertragen konnte, aus dem Mund zu riechen. Taddl wusste das und hatte deshalb die kritischen Zutaten von vornherein weggelassen. Sein niedergeschlagener Freund beobachtete schweigend, wie er mit den Küchenutensilien hantierte und hin und wieder einen Arbeitsschritt kommentierte, um ein wenig die Stille zu durchbrechen und Simon von seinen bedrückenden Gedanken abzulenken. Eines Mordes verdächtigt zu werden, zumal an einer Person, die man persönlich gekannt hatte, war auch für Taddl eine schreckliche Vorstellung, da mochte er sich gar nicht ausmalen, was die gegenwärtige Situation mit Simons sensiblem Gemüt machen musste.
Als sowohl Soße als auch Nudeln verzehrfertig waren, schaltete Taddl die Herdplatte und den Dunstabzug aus, platzierte die dampfenden Teller auf dem Tisch und wünschte einen guten Appetit. Simon bedankte sich und begann mechanisch zu essen.
Ein paar Minuten lang war nur das Klimpern des Bestecks zu vernehmen, während die Gedanken der beiden jungen Männer um ein und dasselbe Thema kreisten.
,,Die glauben wirklich, dass ich es war", brach schließlich Simon das Schweigen, mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme.
Wenn er ehrlich war, hielt auch Taddl dies für wahrscheinlich, aber er versuchte selbstverständlich trotzdem, seinen Freund zu beruhigen.
,,Bestimmt müssen die einfach alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Aber wir haben ja am Ende einfach wieder gehen dürfen. Solange die sich nicht sicher sind, kann uns gar nichts passieren. Die finden den echten Täter schon ..."
,,Aber meine Haare! Wie kommen denn meine Haare dahin?"
Taddl konnte diese Frage nicht beantworten, er konnte Simon auch nicht versprechen, dass er das Polizeipräsidium nie wieder von innen würde sehen müssen oder dass der Mörder innerhalb der nächsten Tage geschnappt werden würde. Aber er konnte sich Zeit für ihn nehmen, sich seine Befürchtungen anhören und ihm gut zureden. Und damit tat er im Endeffekt genau das Richtige. Mit je einer Tasse heißen Fencheltee in den Händen saßen die beiden einige Zeit später auf der großen Matratze in Taddls Eingangsbereich und unterhielten sich leise, während der Himmel allmählich eine dunkelblaue Farbe annahm und den Raum mit der großen Fensterwand in sanftes Dämmerlicht tauchte. Simon hatte sich ein wenig an die Schulter seines Freundes gekuschelt und genoss die Zuwendung und ungeteilte Aufmerksamkeit, die er ihm schenkte. Er konnte nicht behaupten, dass ihm wirklich wohl zumute war, aber es tat gut, dass Taddl sich um ihn kümmerte und vor allem einfach da war. Taddl würde ihn niemals im Stich lassen, niemals glauben, dass er irgendjemandem irgendetwas angetan hatte. Taddl hatte ihn gern, einfach so, ohne dass er irgendetwas dafür tun musste. Und vor allem behielt er dies nicht für sich, sondern sprach es regelmäßig laut aus, wenn er das Gefühl hatte, dass Simon es wieder einmal hören musste. Heute sagte er es schon zum zweiten Mal.
Wäre es ein wenig heller gewesen, hätte der junge Mann mit den blauen Haaren als Reaktion auf seine Worte ein dankbares Lächeln auf dem Gesicht seines Freundes ausmachen können.
Wer zu diesem Zeitpunkt ebenso lächelte, war der BILD-Reporter Joshua Repp; allerdings beschränkte sich der freundliche Gesichtsausdruck bei ihm auf die Mundwinkel und erreichte nicht die Augen. Sein Gegenüber, eine etwas mollige, grauhaarige Arzthelferin, beherrschte durch jahrelange Übung jene unverbindlich-höfliche Mimik um einiges besser und demonstrierte dem kleinen Reporter diese Fähigkeit, während sie ihn fragte, wie sie denn helfen könne. Joshua erklärte, dass er nicht krank sei und nur eine kurze Frage an den Doktor hätte, woraufhin er angewiesen wurde, sich noch ein wenig ins Wartezimmer zu setzen. Dr. Sunil würde erst in einer halben Stunde Feierabend machen und sich dann um ihn kümmern können.
Mehr als eine Stunde später, Joshua hatte bereits drei Kreuzworträtsel in den ausliegenden Zeitschriften gelöst, betrat der dunkelhäutige Allgemeinmediziner den Raum und unterbrach die Grübelei des Journalisten, ob die griechische Göttin der Weisheit nun Athene oder vielleicht doch Athena geheißen hatte. Ein wenig verwundert registrierte Joshua, dass er den Arzt, der auf den Fotos nicht eben klein gewirkt hatte, in Wirklichkeit sogar noch um einige Zentimeter überragte, was bei seiner geringen Körpergröße nun wirklich nicht häufig vorkam.
,,Sie wollten mich sprechen?", fragte der Mann, der bereits seine Jacke angezogen hatte. Es war ihm anzusehen, dass er einen langen Tag gehabt hatte und am liebsten sofort nach Hause gefahren wäre. Trotzdem blieb er gewohnheitsmäßig freundlich und trug weiterhin den typischen, großväterlichen Gesichtsausdruck zur Schau, an dem sich die älteren Damen stets erfreuten, wenn sie ihn wegen irgendwelcher Kleinigkeiten aufsuchten, was bei einigen wohl schon zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil ihrer Freizeitbeschäftigung geworden war.
Joshua war keine gute Geschichte eingefallen, die er als Vorwand für seine Neugierde benutzen konnte, weshalb er einfach direkt fragte, ob der Doktor einen großen, hellhaarigen Mann zu seinen Bekannten zählte.
,,Ich kenne einige Leute, die so aussehen. Woher kennen Sie ihn denn, wenn ich fragen darf? Vielleicht kann ich Ihnen dann besser weiterhelfen."
,,Es müsste schon jemand sein, den Sie so gut kennen, dass Sie ihm Ihr Auto anvertrauen würden. Ich hab ihn auf einer Beerdigung getroffen."
,,Beerdigung" war ein Wort, das man als Allgemeinarzt nicht gerne hörte, weshalb Doktor Sunil plötzlich vorsichtig wurde. ,,Sind Sie Anwalt?", fragte er misstrauisch.
,,Nein, Reporter."
,,Und von welcher Zeitung?"
Hätte Joshua beim Kreuzworträtsel Göttin Athenes Namen richtig geschrieben, wäre sie ihm jetzt vielleicht zu Hilfe geeilt und hätte ihn irgendein nettes, kleines Lokalblatt nennen lassen, aber so erwiderte er ausweichend, dass er nur als freier Mitarbeiter angestellt sei.
,,Die BILD also", stellte Aryan Sunil gelassen fest, was Joshua ziemlich aus der Fassung brachte. ,,Wenn das so ist, habe ich Ihnen nichts zu sagen. Es wäre nett, wenn Sie meine Praxis verlassen würden."
Joshua fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen; er konnte nicht fassen, wie schnell dieses Gespräch eine 180 Grad-Wendung genommen hatte. Weil er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, und offensichtlich zur Widerrede ansetzte, wurde der kleine Doktor noch einmal deutlicher: ,,Verschwinden Sie, für Ihr rassistisches Hetzblatt habe ich keine Informationen, die sie dann schön verdrehen können, bis Sie sich irgendeinen reißerischen Artikel zusammengesponnen haben! Mein Bruder war natürlich viel zu nett, Sie anzuzeigen, für die Lügen, die Sie über ihn verbreitet haben, aber glauben Sie mir, ich hab da keinerlei Skrupel! Ein einziges unwahres Wort über mich und Sie werden sich wünschen, mir nie begegnet zu sein! Hinaus!" Der kleine Mann rang nach Luft. Er wirkte nun gar nicht mehr klein und jede Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen, sodass Joshua es vorzog, lieber schnell das Weite zu suchen.
Auf der Straße angekommen, lehnte er sich gegen den Pfahl einer nicht weit von der Praxis entfernten Laterne, die den Gehweg erhellte und seinen Körper einen kleinen Schatten werfen ließ. Das war ja mal gründlich schiefgegangen. Er hatte umsonst anderthalb Stunden im Wartezimmer gesessen und am Ende rein gar nichts in Erfahrung gebracht. Joshua hätte sich ohrfeigen können, dafür dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, eine kleine Story zu erfinden, auch wenn diese leicht als Unwahrheit zu enttarnen gewesen wäre. Dann würde er jetzt vielleicht wenigstens nicht ganz mit leeren Händen dastehen. Nachdem er sich ein wenig gesammelt hatte, versteckte sich der kleine Reporter in der Nische, die das Nachbarhaus von der Arztpraxis trennte. Vielleicht konnte er auf diese Weise doch noch irgendeine nützliche Information ergattern, sodass er die Fahrkarte nicht völlig umsonst gekauft hatte.
Es dauerte einige Minuten, aber dann trat der Doktor, der den Reporter eben so unsanft vor die Tür gesetzt hatte, aus selbiger heraus und sah sich vorsichtig nach beiden Seiten um. Da er niemanden entdecken konnte, machte er sich gemächlich auf den Weg Richtung Stadtzentrum. Joshua folgte ihm in weitem Abstand, wobei er darauf achtete, sich nah an den Häusern im Schatten zu halten und nicht in den Lichtkreis der Straßenlaternen zu treten. Doch schon nach einigen Hundert Metern hielt er inne und kauerte sich hinter einen Gartenzaun, weil der Doktor sein Ziel erreicht zu haben schien, denn er blieb an der Haltestelle stehen, an der auch Joshua vor einigen Stunden ausgestiegen war. Nur etwa zehn Minuten später traf der um diese Uhrzeit relativ leere Bus auch schon ein und Joshua beobachtete aus seinem Versteck heraus, wie der Arzt an der Vordertüre einstieg. Da er nicht sogleich einen der Sitzplätze ansteuerte, sondern sich offensichtlich kurz mit dem Busfahrer unterhielt, vermutete Joshua, dass er ein Einzelticket gekauft hatte und keine Monatskarte besaß. Traurig die roten Rückscheinwerfer betrachtend realisierte Joshua, dass er nun vor der Entscheidung stand, entweder eine halbe Stunde auf den nächsten Bus zu warten oder die bestimmt einen Kilometer lange Strecke bis zum Bahnhof zu Fuß zurückzulegen. Seufzend entschied er sich für letzteres.
Der kleine Reporter war nicht der einzige, dessen Tag heute nicht ganz den Wunschvorstellungen gemäß verlaufen war und der an diesem Abend durch die Dunkelheit wanderte. Auch ein gewisser blonder Musiker hatte das Angebot seines Freundes abgelehnt, bei ihm zu übernachten, und befand sich nun mitsamt dem Mops Jomi und seiner über die Schulter gehängten Gitarre auf dem Weg nach Hause. Er hätte sehr gern bei Taddl geschlafen, aber zuhause warteten die Katzen Nala, Simba und Scar auf ihn, die er unbedingt heute noch füttern musste. Und seine Tabletten musste er ja auch noch schlucken. Er hatte einmal den Fehler gemacht, sie nicht einzunehmen, und es war die Hölle gewesen. Damals hatte er sich geschworen, dass dies nie wieder vorkommen würde.
Aus diesem Grund hatte er sich schweren Herzens von seinem Freund verabschiedet, versprochen, eine Nachricht zu schicken, wenn er wohlbehalten angekommen war, und sich zusammen mit Jomi auf den Weg gemacht. Der Abend war doch noch ziemlich schön gewesen, was nach dem Erlebnis auf dem Polizeibüro kaum zu vermuten gewesen war. Taddl war es zeitweise wirklich gelungen, die negativen Gedanken vollständig aus Simons Kopf zu vertreiben, doch jetzt, wo er alleine durch die Nacht marschierte und ihn nichts mehr ablenkte, kehrten sie natürlich wieder mit voller Wucht zurück.
Erneut fühlte er sich schuldig, auch wenn er eigentlich wusste, dass er nichts getan hatte. Aber war er nicht vielleicht auch selbst dafür verantwortlich, dass ihn nun alle verdächtigten? Trug er vielleicht sogar eine Mitschuld an dem Verbrechen? Vielleicht wäre Rainer ja noch am Leben, wenn er ihn niemals kennengelernt hätte, wenn er das Studiogelände niemals betreten hätte? Vielleicht war Taddl auch insgeheim der Ansicht, dass Simon am Tod seines Freundes mitschuldig war? Hatte er deshalb so schnell nachgegeben, ihn gehen lassen, nicht darauf bestanden, dass er bei ihm übernachtete?
Der junge Mann hasste sich für seine Gedanken, denn ein gewisser Teil seines Gehirns wusste, dass sie mit der Realität genauso wenig zu tun hatten wie Kim mit Android-Handys oder den frühen Morgenstunden. Ein anderer Teil schien jedoch außerordentlich großen Gefallen daran zu finden, am laufenden Band möglichst negative Auslegungen von Worten und Handlungen anderer Menschen zu ersinnen. Und leider gewann diese Seite zu oft die Überhand.
Um der Grübelei zu entfliehen, verfiel Simon in ein flottes Tempo, sehr zur Freude von Jomi, der den langsamen Trott gerne gegen einen kleinen Sprint austauschte. Mit wehenden Haaren und Mantel floh der junge Mann vor seinen Dämonen, im Licht der Laternen lange schwarze Schatten werfend, die ihn unter jeder Lampe wieder aufs neue ein- und überholten.
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Ich war mir wirklich lange unsicher mit diesem Kapitel, weil es die Handlung nicht besonders weiterbringt, sondern eher die Figuren charakterlich ein wenig näher beleuchten soll. Hoffentlich ist es mir einigermaßen gelungen, den schmalen Grat zum Kitsch nicht zu sehr zu überschreiten oder euch übermäßig zu langweilen. :)
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Und zum Abschluss noch eine kleine Frage-/Antwortrunde! Ein großes Dankeschön an Listenschreiberin alias Strichlisten_Prinzessin an der Stelle! <3
An Taddl: Kannst du dir vorstellen, dass Simon zu einem Mord fähig wäre?
Taddl: Ich kann mir das bei niemandem vorstellen, den ich kenne. Bei Simi schon gar nicht, den hab ich noch nicht einmal wütend erlebt, glaube ich. Es muss eine andere Erklärung geben, hoffentlich findet die Polizei sie bald. Simon war das auf jeden Fall nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer!
An Simon: Hast du denn zumindest schon mal über einen Mord nachgedacht?
Simon: Schon öfters, aber nie im Ernst. Immer nur so ,,was wäre, wenn"-mäßig vorgestellt oder aus einer Stimmung heraus. Wer mich ein wenig kennt, weiß, dass ich kein bisschen gewalttätig bin, ich würde sowas nie machen. Suizid ist das einzige, was ich mir wirklich ernsthaft überlegt hab, aber auch das jetzt schon länger nicht mehr.
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