Flucht
Fast alle Menschen kennen Situationen wie diese: Man sieht im Einkaufszentrum ein tolles Legoset oder eine viel zu teure Küchenschürze mit hübschem Motiv und würde am liebsten sofort zuschlagen, obwohl man ohnehin beim Kochen nie eine Schürze trägt, längst nicht mehr mit Lego spielt und das Geld eigentlich für andere Dinge benötigt. Man sitzt mit einem Stift in der Hand am Schreibtisch, starrt Löcher in die Luft und bekommt mit einem Mal Lust, irgendetwas an die Wand zu kritzeln. Man geht über eine Brücke und verspürt plötzlich den irrationalen Drang, sein Handy in den Fluss darunter zu werfen.
Dass all das nicht gerade schlau wäre, ist natürlich keine Frage, und glücklicherweise gelingt es ja auch in den meisten Fällen, sich auf seine Vernunft zu besinnen und solch spontanen Anwandlungen nicht nachzugeben. Zumindest wenn man nicht Simon Vogt hieß.
Simon fiel es nämlich leider nicht ganz so leicht, derartige Impulse unter Kontrolle zu halten, weshalb sich des Öfteren Vorfälle ereigneten, wie dass er spontan über die Sohle von Lunas neuem Gucci-Schuh leckte, dass er sich ein Tattoo stechen ließ, dessen Motiv er in weniger als einer Viertelstunde ausgesucht hatte, oder dass er einem Freund auf eine scherzhafte, nicht ernstgemeinte Anfrage hin intime Fotos schickte, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
Wahrscheinlich wäre aber auch Simon, hätte er sich nicht gerade in einer psychischen Ausnahmesituation befunden, auf die Idee gekommen, dass es nicht besonders klug war, einfach die Flucht zu ergreifen und vor seinen Problemen wegzurennen, vor allem da es sich bei besagten Problemen um ein laufendes Ermittlungsverfahren in einem Mordfall handelte. Klar zu denken war jedoch eine Fähigkeit, über die der junge Mann im Augenblick nur sehr eingeschränkt verfügte. Alles machte ihm Angst, sogar der Gedanke an Taddl, der möglicherweise glauben könnte, er hätte etwas mit dem Verbrechen zu tun, erfüllte ihn mit Schrecken. Kurzentschlossen schlug Simon die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Er schnappte sich den Rucksack, den Kim ihm aus Japan mitgebracht hatte, und stopfte alles hinein, was ihm gegenwärtig am unentbehrlichsten zu sein schien und was ihm auf die Schnelle in den Sinn kam: Ausweis, Geldbörse, Handy, Ladekabel, Medikamente und alles Bargeld, das er derzeit in seinem Zimmer aufbewahrte. Nach kurzem Innehalten kamen auch noch andere Gegenstände hinzu, Brille, Stimmgerät, Tagebuch sowie weitere Kleinigkeiten, die die meisten Menschen wohl kaum für notwendig erachtet hätten. Zumindest den rosa Nagellack hätten wohl die wenigsten eingepackt, hätten sie geplant, ihre Wohnung Hals über Kopf zu verlassen.
Nachdem Simon alles beisammen hatte, wobei er für seine Verhältnisse und vor allem angesichts der Stresssituation erstaunlich sinnvoll ausgewählt hatte, schulterte er den randvoll gepackten Rucksack, griff sich die Gitarrentasche mit seiner geliebten Stratcoaster und öffnete vorsichtig seine Zimmertür. Sofort drang das Geräusch einer rhythmischen Beatboxroutine an sein Ohr. Taddl hatte in dieser unmittelbaren Art Musik zu machen eine große Leidenschaft gefunden und übte wo er ging und stand, somit auch jetzt, während er kochte. Gut so! Wenn er auf andere Dinge konzentriert war, würde er sicherlich nicht mitbekommen, wie Simon leise an der Küche vorbei zur Haustür schlich.
,,I am an alien, I got that alien bass, I am an alien, I'm gonna kill your race ..."
Ein bisschen hoffte der junge Musiker, sein blauhaariger Freund würde seine Flucht bemerken, sich im richtigen Moment umdrehen und ihn aufhalten, versuchen, ihn davon abzubringen, was er im Begriff war zu tun. Er wünschte, Taddl würde ihn in den Arm nehmen, ihm gut zureden und sagen, dass alles in Ordnung sei, dass er sich keine Sorgen machen müsse und dass niemand ihm etwas Böses wolle. Nicht ganz unabsichtlich stieß Simon zweimal gegen den Schuhschrank, während er sich die schwarzen Chucks anzog und den schweren Mantel überwarf. Allein Taddl war so vertieft in seine musikalische Darbietung und parallel viel zu sehr mit Umrühren beschäftigt, als dass er das nicht besonders laute Geräusch gehört hätte, das kaum das Gebläse der Dunstabzugshaube übertönte. Auch dass Jomi in der Hoffnung auf einen Spaziergang zum Eingangsbereich flitzte, fiel dem jungen Mann nicht auf, der gerade Mühe hatte, das Gemüse am Anbrennen zu hindern. Resignierend und mit unterdrückter Verzweiflung verließ Simon schließlich die Wohnung, wobei er den schwarzen Mops enttäuscht zurückließ.
Als die Tür endgültig ins Schloss gefallen war, fühlte sich die Entscheidung wie besiegelt an. Es war, als hätte Simon sich von allen abgespalten, einen großen Keil zwischen sich und seine Mitmenschen getrieben, die nicht im Verdacht standen, jemanden getötet zu haben, und jeden Augenblick Gefahr liefen, deshalb verhaftet zu werden. Den Schlüssel hatte der blonde Künstler gar nicht mitgenommen; jetzt noch umzukehren stand nicht mehr zur Debatte. Panik verspürte er kaum mehr, wie er jetzt, die Gitarrentasche in der Hand, im leichten Nieselregen unter dem grauen Herbsthimmel stand und sich auf den Weg zur Bahn machte. Sein Kopf hatte den Entschluss gefasst wegzulaufen und sein Körper folgte nun mechanisch diesem Befehl. Äußerlich und auch innerlich hatte sich eine seltsame, künstliche Ruhe in ihm ausgebreitet, Gefühle und Gedanken waren unterdrückt, das Chaos seiner Empfindungen war vorläufig wie unter einer zerbrechlichen Eisdecke verborgen. Ohne bewusst viel von seiner Umgebung wahrzunehmen, trugen Simon seine Beine wie von selbst entlang des gewohnten Wegs zur nächsten Haltestelle.
Im Gegensatz zu Jomi, der den Weggang seines Ersatzherrchens genau beobachtet hatte und seine Aufmerksamkeit jetzt vollkommen der dampfenden Pfanne widmete, wähnte Taddl seinen Freund noch im Bett, während er den Küchentisch möglichst hübsch für zwei Personen deckte. Simon hatte schon das Frühstück ausgelassen, deshalb hatte der blauhaarige Musiker eine etwas größere Portion Gemüse kleingeschnitten, mit Öl angebraten und anschließend ein wenig gewürzt. Obwohl die Zubereitung dieses Gerichts sehr simpel war und auch nicht viel Zeit in Anspruch nahm, aß Taddl es sehr gerne. Er hoffte, dass auch Simon es mögen würde, denn dieser war oft etwas heikel, was die Nahrungsaufnahme anging. Andererseits hatte er aber bisher noch alles gegessen, was Taddl zubereitet hatte, sodass der junge Mann mit einem zuversichtlichen Gesichtsausdruck zum Zimmer seines Freundes ging, um ihm mitzuteilen, dass er zum Essen kommen könne. Er hoffte, dass er ihn ein wenig von den düsteren Erinnerungen an die Hausdurchsuchung ablenken konnte. Vielleicht konnten sie nach dem Mittag- oder Abendessen - wie auch immer man eine Mahlzeit um vier Uhr Nachmittag bezeichnen wollte - ja noch eine Runde mit Jomi spazieren gehen. Oder einen Film schauen. Oder dafür sorgen, dass Simons Xbox mal wieder entstaubt wurde. Taddl hatte viele Ideen, wie er seine Freund auf andere Gedanken bringen konnte, aber sie alle verblassten, als er in Simons Bett nur eine graue Katze vorfand, die ihn vorwurfsvoll anblinzelte, da er sie aus ihrem Dämmerschlaf geweckt hatte.
,,Sorry, Nala", entschuldigte sich der junge Mann für diese Dreistigkeit, bevor er die Tür wieder zuzog und sich auf den Weg zum Badezimmer machte.
,,Simon!"
Als er auch nach mehrmaligem Klopfen keine Antwort erhielt, überkam den blauhaarigen Musiker ein ungutes Gefühl. Er hatte gedacht, der eigenartige Anfall von heute Vormittag sei längst überstanden, aber was war, wenn der Körper seines Freundes dabei doch irgendwie Schaden genommen hatte? Entschlossen drückte Taddl die Klinke herunter und trat in den weißgefliesten Raum, nur um dort außer seinem eigenen Gesicht im Spiegel keine Menschenseele vorzufinden. Nun breitete sich doch langsam aber sicher leichte Panik in ihm aus. Bei dem an Borderline und Depressionen erkrankten Jungen konnte man nie wissen.
,,Simon!"
Hektisch kontrollierte Taddl nacheinander jedes Zimmer der kleinen WG, die von John und Kim eingeschlossen, aber der blonde Musiker blieb verschollen. Da ihm nichts einfiel, was er sonst tun konnte, eilte Taddl noch einmal in Simons Zimmer. Vielleicht hoffte ein kleiner Teil von ihm irrationalerweise, er könnte den blonden Jungen einfach nur übersehen haben und er würde seelenruhig schlafend unter der Bettdecke liegen. Oder sich hinter dem Vorhang verborgen halten, hinter dem er sogleich hervorspringen würde, um seinem Freund einen Schrecken einzujagen.
Selbstverständlich passierte jedoch nichts dergleichen. Bis auf die Katzen war das Zimmer leer; Taddls schweifende Blicke trafen lediglich die wie gewohnt kreuz und quer verteilten Besitztümer des jungen Künstlers, zu dessen markantesten Eigenschaften nicht die Ordnungsliebe zählte, als ihn plötzlich eine Erkenntnis durchzuckte: Simons E-Gitarre fehlte! Um sicher zu gehen, dass er sie nicht im Durcheinander übersehen hatte, schaute sich der junge Mann noch einmal genauer um. Nein, es war schon richtig, sie war nicht da. Vorsichtige Erleichterung überkam den Mann mit den blaugefärbten Haaren. Wenn Simon seine Gitarre mitgenommen hatte, war zumindest das Schlimmste nicht eingetreten. Oder wenigstens war es unwahrscheinlicher. Ganz auszuschließen war nicht, dass er der Symbolik wegen -
Taddl wischte die Vorstellung zur Seite. Daran wollte er gar nicht denken. Wahrscheinlich war Simon einfach nur ins Studio gefahren und hatte sich aus irgendeinem Grund nicht verabschiedet. Oder Taddl hatte es überhört. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief die Nummer an, die er unter dem Namen des blonden Künstlers eingespeichert hatte. Es konnte keine Verbindung hergestellt werden, vermutlich hatte Simon sein Smartphone ausgeschaltet.
Bei Mokuba hatte er mehr Glück, er hob fast sofort ab und war tatsächlich auch gerade im Studio, den Vermissten hatte er an diesem Tag allerdings noch nicht gesehen.
,,Ich ruf dich sofort an, wenn er hier auftaucht", versprach er.
Taddl bedankte sich und legte auf. Innere Unruhe und Besorgnis erfüllten ihn. Von der Wohngemeinschaft bis zum Studio dauerte es eine Weile; je nachdem, wann Simon losgegangen war, konnte es also durchaus sein, dass er noch nicht angekommen war, aber Taddls Bauchgefühl sagte ihm, dass sein Freund ein anderes Ziel im Sinn gehabt hatte, als er die WG verlassen hatte.
Um zu sehen, ob Simon ihm vielleicht geschrieben hatte, öffnete Taddl Whats App. Sofort fiel ihm die Nachricht einer nicht eingespeicherten Nummer ins Auge. Taddl tippte darauf, um sie zu lesen. Blockieren konnte er die Person später immer noch, sofern dies nötig sein sollte. Leider stammte die Botschaft nicht von seinem Freund, sondern von jemandem, mit dem er gar nicht mehr gerechnet hatte.
Hi Taddl, ich bin's, der Polizist von neulich!, stand da geschrieben.
Ich wollt euch nur sagen: Ihr müsst euch vorläufig keine Sorgen um Wavvy machen. Er ist zwar aktuell unser Hauptverdächtiger, aber die Chefin denkt, dass er es nicht war und dass sowieso keine Fluchtgefahr besteht, weil er bisher so kooperativ war und einen festen Freundeskreis, also ein stabiles soziales Umfeld hat. Er muss also erst mal nicht in U-Haft, keine Sorge!
LG Jakob :)
Taddl seufzte. ,,Ach, Simi", murmelte er, ,,was machst du nur immer für Sachen?"
Der, an den diese Worte gerichtet waren, hatte natürlich keine Chance, sie zu hören, stand er doch einige Kilometer von seinem blauhaarigen Freund entfernt an einem Fahrkartenautomaten und versuchte, das billigste Ticket zu identifizieren. Er wollte zunächst nach Basel fahren, von da aus nach Zürich und dann nach Sargans. Von dort war es dann nicht mehr weit bis nach Balzers, der kleinen Gemeinde im Fürstentum Liechtenstein, in der Simon zusammen mit seinen zwei Brüdern die Kindheit verbracht hatte. Die paar Kilometer konnte er dann notfalls auch noch zu Fuß zurücklegen, dachte der junge Mann, der mit seiner Gitarre in der Hand inmitten von Menschen am Kölner Hauptbahnhof stand. Für gewöhnlich mied er derart belebte Plätze, sie boten einfach zu viele Reize, die ungehindert auf sein empfindliches Gemüt einprasselten, aber momentan funktionierte er wie auf Autopilot und per Zug zu seinen Eltern zu fahren und dort Schutz zu suchen, war das erste, was ihm in den Sinn gekommen war.
Jeder Mensch musste irgendwohin gehen können, musste im Notfall irgendeinen Ort haben, den er aufsuchen konnte, an dem er willkommen war oder zumindest nicht abgewiesen wurde. Für Simon war dieser Zufluchtsort im Moment jenes kleine Haus seiner Eltern, das weniger als einen Kilometer entfernt vom Rhein und damit der Grenze zur Schweiz direkt neben dem Fahrradladen seines Vaters stand.
Als er der weiß-rote ICE bremsend in den Bahnhof einfuhr, hatte der junge Mann plötzlich das Bild im Kopf, wie er vor dem Fahrzeug auf die Gleise sprang, aber er schob die kurz und unerwartet aufgeploppte Vorstellung schnell zur Seite. Morgen sterbe ich, nicht heute, vertröstete er sich in Gedanken. Am nächsten Tag würde er sich das selbe sagen. Und am Tag darauf wieder. Die Strategie funktionierte eigentlich ganz gut.
Während Simon im Zug saß und aus dem Fenster starrend die vorbeiziehende Landschaft betrachtete, von der er wegen der hohen Geschwindigkeit nur in weiter Ferne etwas erkennen konnte, stand in der kleinen Kölner Wohngemeinschaft das hübsch auf zwei Teller verteilte, angebratene Gemüse auf dem Küchentisch und wurde langsam aber sicher kalt. Taddl hatte keine Zeit zu essen, besorgt im Kreis laufend telefonierte er wild in der Gegend herum und versuchte jemanden zu erreichen, der den blonden Musiker gesehen hatte, doch leider ohne Erfolg. Der Mann mit den Gesichtstattoos machte sich Sorgen, dass seinem Freund vielleicht doch etwas zugestoßen sein könnte oder er sich etwas angetan hatte, aber weder Nachrichten noch Anrufe erreichten ihn.
Simon war nun schon beinahe eine Stunde verschwunden und Taddl spielte mit dem Gedanken, ihn offiziell als vermisst zu melden. Andererseits konnte es aber auch sein, dass es dem blonden Jungen an gar nichts fehlte, der irgendwo da draußen mit seiner E-Gitarre herumlaufen musste. Und wenn er jetzt die Polizei benachrichtigte, dann standen die Chancen hoch, dass Simon in Untersuchungshaft gesteckt wurde. Hatte doch dieser Jakob gerade noch geschrieben, dass er seine Freiheit hauptsächlich der Tatsache verdankte, dass bei ihm keine Fluchtgefahr vermutet wurde. Würde nun bekannt werden, dass er Reißaus genommen hatte, wäre er doch schneller hinter Gittern als er blinzeln konnte. Aber andererseits wäre er dort wenigstens in Sicherheit. Zumindest vermutete Taddl, dass es in einer Justizvollzugsanstalt nicht ganz so leicht war, sich etwas anzutun, wie wenn man frei durch Köln lief und alle Möglichkeiten der Welt zur Verfügung hatte, angefangen bei einer Überdosis Tabletten bis hin zum klassischen Sprung in den Rhein.
Nachdem Taddl eine weitere Stunde erfolglos herumtelefoniert hatte und mit Ardy zusammen einige Orte aufgesucht hatte, von denen er sich hatte vorstellen können, dass Simon sich dort aufhalten könnte, gab er die unstrukturierte Sucherei auf. Luna war die ganze Zeit über schon der Meinung gewesen, dass es besser wäre, vorsichtshalber die Polizei zu Hilfe zu holen. Ausschlaggebend für die endgültige Entscheidung hatten sie gerade auch noch Kim, allgemein anerkannte Expertin in Sachen Simi, in ihrem Pariser Luxushotel angerufen, und auch diese hatte die Ansicht vertreten, man könne gewisse Dinge nicht rückgängig machen und sollte lieber auf Nummer sicher gehen, anstatt es hinterher möglicherweise zu bereuen.
Halbwegs überzeugt wählte Taddl mit zwiegespaltenen Gefühlen die 110.
Genauso widersprüchlich wie im Kopf seines Freundes sah es auch in Simons Gedanken- und Gefühlswelt aus. Langsam dämmerte es ihm, dass es vielleicht keine so gute Idee gewesen war, einfach wegzulaufen. Andererseits hatte er gerade aber auch wirklich nicht die Kraft umzukehren und wieder nach Hause zurückzugehen. Schon gar nicht, wenn er sich vorstellte, dass dort vielleicht schon ein ganzer Trupp Polizisten auf ihn wartete, um ihn direkt zu verhaften, sobald er zur Haustür hereinkam. Eigentlich sollte er auch langsam mal seine Eltern anrufen und sie informieren, dass er unterwegs zu ihnen war. Allerdings konnte er sich im Moment wirklich nicht dazu überwinden, sein iPhone anzuschalten. Erstens hätte er dann bestimmt ein Dutzend verpasste Anrufe von Taddl, der mit Sicherheit sauer auf ihn war, und zweitens fehlte ihm der Mut, seinen Eltern zu erklären, warum er so überstürzt in die Heimat zurückkehrte. Seine Mutter war ohnehin so sensibel, genau wie Simon selbst. Sie würde sich zu Tode ängstigen, wenn er ihr sagen würde, dass er eines Mordes verdächtigt wurde und sich praktisch auf der Flucht vor der Polizei befand. Um den unangenehmen Augenblick noch etwas hinauszuzögern, verdrängte der junge Mann also die Tatsache noch etwas, dass er sein Handy irgendwann wieder anschalten musste.
Je weiter der Zug sich von Köln entfernte, desto größer wurde Simons Unruhe. Zwar brachte er mehr und mehr Abstand zwischen sich und das gefürchtete Polizeipräsidium, gleichzeitig manifestierte sich aber auch die Endgültigkeit seiner Entscheidung und der Zeitpunkt rückte näher, an dem er sich seinen Eltern und auch Freunden erklären musste. Eigentlich musste ihm auch jeder direkt ansehen, dass er etwas ausgefressen hatte, die schwarzhaarige Frau mit dem Aktenkoffer auf dem Fensterplatz in der Sitzreihe neben ihm, die seinen tätowierten Hände hin und wieder einen aufmerksamen Blick zuwarf, der dicke Mann mit der Lederjacke, der auf dem Weg zur Toilette und wieder zurück zweimal an ihm vorbeikam und ihn dabei jedes Mal abschätzig zu mustern schien, die Fahrkartenkontrolleurin, die ihn ungewöhnlich lange anstarrte, während sie sein Ticket prüfte. Sie alle mussten doch sofort bemerken, dass er ein flüchtiger Mordverdächtiger war. Der junge Mann mit den blondgefärbten, langen Haaren und dem großen, schwarzen Mantel rutschte unruhig auf dem Sitzpolster hin und her und spielte nervös mit den Händen an seinem Choker herum, den er in letzter Zeit ständig um den Hals trug, weil er schön aussah.
Als der ICE in Freiburg die Fahrt ungewöhnlich lange unterbrach und zwei Polizisten zu seinem Platz kamen, war Simon schon fast froh darüber, dass die nervenaufreibende Warterei endlich ein Ende fand. Widerstandslos ließ er sich abführen.
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