Der erste Tag hinter Gittern
Penelope de Midici war daran gewöhnt, dass der große, tätowierte Mann, welcher da gerade bei offener Tür in dem kleinen, ordentlich eingerichteten Arbeitszimmer an seinem PC saß, zu sehr unregelmäßigen Zeiten ins Bett ging. Dass er jetzt um neun Uhr morgens nicht schon, sondern immer noch wach war, verwunderte sie deshalb nicht im Geringsten, aber sie spürte dennoch, dass etwas anders war als sonst. Eine kaum merkliche Unruhe lag in der Luft, unterschwellige Besorgnis erfüllte die kleine, nur aus zwei Räumen bestehende Wohnung, was Penelopes angeborenem Instinkt und ihren feinen Sinnen selbstverständlich nicht verborgen blieb. Aus diesem Grund hatte sie fünf der leckersten Stückchen ihres Trockenfutters aus dem Napf gesucht, sie in ihrem kleinen Mäulchen die Treppe hinuntergetragen und zwischen ihren Pfoten abgelegt. Während sie nun auf einem bequemen Kissen im Eingangsbereich lag und die Futterbrocken der Reihe nach einzeln aufnahm und zerkaute, konnte sie ihren menschlichen Freund durch die offene Tür gut im Auge behalten und darauf Acht geben, dass ihm nichts geschah. Penelope oder, wie sie zumeist gerufen wurde, Pipi fühlte sich in diesem Moment als treuer Wachhund, der gewissenhaft für den Schutz seines Herrchens sorgte, und nahm ihre selbstauferlegte und äußerst wichtige Aufgabe überaus ernst.
Leider waren die ehrenwerten Anstrengungen der kleinen, schwarzen Chihuahuadame jedoch nicht geeignet, wirklich die Last von Taddls Schultern zu nehmen und Simon aus dem Gefängnis zu holen, auch wenn es den blauhaarigen Musiker schon ein wenig gefreut hatte, wie anhänglich und verschmust die Hündin gerade gewesen war, als er ihren Napf aufgefüllt hatte. Manchmal schien es, als würde sie genau wissen, wann es ihm nicht gut ging und er ein wenig emotionale Unterstützung in Form eines kleinen, außerordentlich niedlichen Hündchens benötigte, das man hochnehmen und kuscheln konnte und das einem dann mit seiner rauen und nicht gerade wohlriechenden Zunge über Mund und Nase schlabberte.
Taddl fühlte sich ausgelaugt. Er war die ganze Nacht wach gewesen, denn die gestrigen Ereignisse und vor allem die Sorge um seinen Freund hatten ihn emotional derart mitgenommen, dass an Schlaf nicht zu denken gewesen war. Babybrain hatte die belastenden Empfindungen in den Beat für einen neuen Song fließen lassen, der nach acht Stunden Arbeit inzwischen eine ziemlich greifbare Form angenommen hatte. Das Grundthema war im Prinzip Hilf- und Machtlosigkeit und der Klangteppich, den babybrain erschaffen hatte, vermittelte in Taddls Augen bereits sehr deutlich, was er in der vergangenen Nacht empfunden hatte: das Gefühl von schmerzlichem Mitleid und den dringenden, aber traurigerweise unerfüllbaren Wunsch zu helfen. Auch textlich waren schon ein paar vielversprechende Ideen und sogar ein wirklich guter, fertig ausgearbeiteter Vierer notiert.
Nicht nur einmal hatte sich Taddl in diesen nächtlichen Stunden bei dem Gedanken ertappt, wie schön es doch wäre, Simon neben sich sitzen zu haben und ihn in seiner hohen Stimmlage einige Zeilen einsingen zu lassen, wie er das bei dreifaches_x und black_sheep bereits mit wundervollen Ergebnissen getan hatte. Nicht nur, weil er dann aus dem Gefängnis heraus wäre; Wavvyboi harmonierte einfach von Natur aus perfekt mit babybrain.
Es mochte vielleicht auf den ersten Blick ein wenig schizophren wirken, wenn Taddl sagte, dass nicht er, sondern TJ_babybrain den neuen Beat produziert hatte, aber genau wie TJ_beastboy war dies nur ein Name, den der Musiker einer Seite seiner Persönlichkeit gegeben hatte. Babybrain war der emotionale, melancholische Teil seiner selbst, der zum Vorschein trat, wenn er seinen tieferen Gefühlen, Ängsten und Kümmernissen Ausdruck verlieh. Der Beastyboy dagegen war die flexende Verkörperung der selbstüberzeugten, humorvollen und vor Energie überschäumenden Mentalität, in die er automatisch verfiel, wenn er euphorische Raptexte schrieb oder performte.
Diese beiden Facetten seiner Persönlichkeit waren die wichtigsten Orte, an denen Taddls musikalisches Schaffen seinen Ursprung hatte, und indem er die besagte Einteilung unternommen und die beiden Charaktere benannt hatte, hatte er sich selbst einen Rahmen geschaffen, innerhalb dessen seine Kunst stattfinden konnte. Sowohl babybrain als auch Beastboy waren natürlich ein wenig übertrieben dargestellt, jedoch waren sie keineswegs reine Kunstfiguren, für die Taddl sich verstellen und in eine Rolle schlüpfen musste, sondern er konnte sich einfach in die jeweilige Stimmung fallen lassen und aus dieser heraus kreativ werden.
Die wenigsten Menschen analysierten ihren Charakter so genau wie Taddl und gaben ihren unterschiedlichen Denk- und Verhaltensmustern auch noch eigene Namen, aber im Prinzip besaß ein jeder eine Vielfalt an Wesenszügen, die je nach Situation und Umgebung ans Tageslicht kamen oder eben auch nicht, was nichts mit Unaufrichtigkeit oder Schauspielerei zu tun hatte. Automatisch verhielt man sich ja ein wenig anders, wenn man beispielsweise mit seinen besten Freunden auf einer wilden Party war, als wenn man sonntags mit seinen Eltern am Frühstückstisch saß oder einem Vorgesetzten einen Misserfolg zu erklären hatte.
Taddl hatte als selbstständiger Kunstschaffender zwar keinen Chef, vor dem er seine Arbeit rechtfertigen musste, aber er fühlte sich gerade ähnlich unbehaglich, denn er war im Begriff, bei der Kölner Justizvollzugsanstalt anzurufen und einen Besuchstermin zu vereinbaren. Um einen Rechtsbeistand hatte sich der junge Mann heute Morgen schon gekümmert; nach einigem Suchen war seine Wahl auf die Fachanwältin Karla Sullivan gefallen. Ihr Foto auf der Website ihrer Kanzlei hatte äußerst sympathisch gewirkt und sie besaß neben der Spezialisierung auf Strafverteidigung auch Erfahrung im Familienrecht, sodass Taddl davon ausging, sie würde über ein gewisses Maß an Sensibilität verfügen, das im Umgang mit Simon unbedingt erforderlich war. Die freundliche Sekretärin, die den Anruf des blauhaarigen Musikers entgegengenommen hatte, hatte ihm versichert, dass Frau Sullivan noch heute zu ihrem neuen Mandanten fahren würde, was Taddl ein wenig beruhigt hatte, denn er wusste nicht, wie schnell er selbst seinen Freund sehen durfte.
Auf der Internetseite der Strafanstalt hatte Taddl sich grob eingelesen: Erwachsene Untersuchungsgefangene durften pro Woche eine halbe Stunde Besuch empfangen, was dem jungen Mann sehr wenig vorkam, aber natürlich besser war als gar nichts. Der Gedanke an Simon, der alleine in einer vergitterten Zelle saß, womöglich einen dieser orangefarbenen Overalls tragend, wie man sie in Filmen immer sah, machte Taddl ganz fertig. Es bedurfte keiner großartigen Vorstellungskraft um sich auszumalen, dass der sensible Junge nicht besonders glücklich damit sein konnte, wie sich die Situation für ihn entwickelt hatte. Wahrscheinlich drohte er gerade in der Isolation zu zerbrechen, fühlte sich von allen verlassen und verraten und Taddl hatte indirekt auch noch Schuld daran, weil er die Polizei über Simons Verschwinden informiert hatte. Der blauhaarige Musiker hielt es für wichtig, seinen jungen Freund schnellstmöglich zu besuchen und ihm klar zu machen, dass seine Freunde ihn nicht im Stich ließen, dass sie an ihn dachten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihm zu helfen. Es würde Simon gut tun, ihn zu sehen und mit ihm zu sprechen, auch wenn es nur für 30 Minuten war.
Noch einmal tief Luft holend fasste Taddl Mut und tippte auf den Hörer, der am Display seines Smartphones zu sehen war, um eine Verbindung mit der Justizvollzugsanstalt Köln herzustellen, in die Simon laut dem gestrigen Telefonat gebracht worden sein müsste. Die Nummer hatte er einige Minuten zuvor bereits eingegeben.
Es dauerte nicht lange, da wurde auch schon abgehoben.
,,JVA Köln, Terminstelle, guten Morgen!", grüßte geschäftsmäßig eine männliche Stimme.
,,Guten Morgen, ich hätt' gern' einen Besuchstermin", nannte Taddl sein Anliegen, wobei er hoffte, man würde die leichte Nervosität nicht aus seinen Worten heraushören. ,,Für Simon Vogt ."
,,Vogt", murmelte der Mann, ,,Vogt. ... Ah ja, der ist heute Nacht erst eingeliefert worden, richtig?"
Da kein Gericht sich die Erlaubniserteilung vorbehalten hatte, war es zum Glück kein Problem für Taddl, seinen Freund zu besuchen. Der Beamte am anderen Ende der Leitung meinte, wenn er bereit wäre, ganz in der Früh zu kommen, könne er sogar schon am nächsten Tag einen Termin haben. Alles was er mitbringen müsste, wäre ein gültiger Personalausweis sowie der ausgefüllte Laufzettel, den man auf der Internetseite der Strafanstalt herunterladen konnte. Taddl hatte sich das nicht zweimal sagen lassen, sodass er Simon schon morgen um 8 Uhr wiedersehen würde. Er hoffte nur, dass er so lange klarkommen würde.
Während Taddl einzuschlafen versuchte, was ihm trotz der durchwachten Nacht und der zugezogenen Vorhänge nicht leicht fiel, da sein Kopf nicht zur Ruhe kommen wollte, beschäftigte sich auch noch eine Reihe anderer Personen gedanklich mit dem jungen Musiker, der nun wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft saß. Einer davon war der kleine Reporter Joshua Repp, der seinen Vormittag mal wieder damit verbracht hatte, auf dem Polizeirevier herumzulungern. Und wie so häufig hatte sich seine penetrante Hartnäckigkeit tatsächlich auch dieses Mal wieder bezahlt gemacht: Es war ihm gelungen, Jakob Fließbach auf dem Flur abzupassen, der bei weitem die ergiebigste Informationsquelle auf dieser Dienststelle war. Der junge Kriminalbeamte prahlte gerne mit jedem Fünkchen Wissen, über das er verfügte, und begann gefühlt jeden zweiten Satz damit, dass er das Folgende eigentlich gar nicht sagen dürfte, oder dass die Auskünfte, die er gleich mitteilen würde, streng vertraulich wären, was Joshua aber natürlich nicht im Geringsten interessierte, wenn er einen guten Artikel daraus machen konnte. Von diesem redseligen Beamten hatte Joshua gerade erfahren, dass Wavvyboi wohl gestern verhaftet worden war, es allerdings einige Ungereimtheiten gab, weshalb sich die Ermittlungen aktuell auf einen Club namens ,,blaue Auster" konzentrierten, auf den anscheinend ein gewisses Beweisstück hindeutete. Da Jakob Fließbach aus besagtem Beweisstück ein großes Geheimnis gemacht hatte, ging Joshua davon aus, dass der junge Polizist selbst nicht wusste, um was es sich bei dem ominösen Objekt genau handelte.
Nachdenklich saß der Reporter mit der abgetragenen, blauen Kappe auf dem Kopf auf einem der roten Plastikstühle im Flur des Polizeipräsidiums und dachte nach. Den Weißblonden von der Beerdigung hatte er immer noch nicht finden können. Auch die Idee, die Frau des Doktors könnte vielleicht eine außereheliche Beziehung mit ihm am Laufen haben, hatte keinen Sinn ergeben, denn es hatte sich herausgestellt, dass Melanie Sunil ein eigenes Auto besaß, sodass Joshua es für sehr unwahrscheinlich hielt, dass sie ihrem Liebhaber das Fahrzeug ihres Ehemannes leihen würde. Langsam fragte der Journalist sich, ob er die Suche nicht vielleicht doch aufgeben sollte, denn er wusste wirklich nicht, wo er sonst noch ansetzen sollte. Es wäre wirklich schade, denn je länger er über den seltsamen Vorfall nachdachte, desto sicherer war er sich, dass der komische Typ mit den hellen Haaren auf irgendeine Weise in den Mord an Gino Clebsch verwickelt war. Aber wahrscheinlich hatte er einfach ein falsches Nummernschild verwendet und der Wagen, den er gefahren hatte, hatte durch Zufall genau die richtige Marke und Farbe gehabt. In diesem Fall war es tatsächlich sehr unwahrscheinlich, dass Joshua den verdächtigen Mann ohne weitere Hinweise ausfindig machen würde. Vielleicht musste er sich damit abfinden, dass er auch bei dieser Geschichte wieder nur Zuschauer sein würde, und sich mit den Informationen begnügen, die er aus zweiter Hand von Leuten wie Jakob Fließbach bekam.
Die düsteren Grübeleien vertreibend, richtete der Reporter seine Gedanken wieder auf die alltägliche Arbeit. Er musste aufhören, dieser Geschichte nachzutrauern, und sich auf das konzentrieren, was er gerade in Erfahrung gebracht hatte. Während er sich stichpunktartig notierte, was er aus der Unterhaltung mit dem redseligen Beamten mitgenommen hatte, überlegte er bereits, wie er den Artikel für die morgige Ausgabe aufziehen sollte. Sollte er bei seinem Narrativ bleiben, Wavvyboi hätte den Kommunalpolitiker auf dem Gewissen, oder sollte er doch lieber die Schiene fahren, dass die Polizei den Falschen geschnappt hatte? Die Entscheidung für die zweite Variante war schnell gefällt, denn Angst verkaufte sich bedeutend besser als eine simple Meldung, dass ein Verdächtiger nun verhaftet worden war.
Besagter Verdächtige saß am frühen Nachmittag an die Wand gelehnt in der hintersten Ecke seines Bettes, hatte die Beine an den Leib gezogen und schrieb etwas auf den Zeichenblock, den er auf seine Knie gelegt hatte. Sein Zellengenosse hatte den schon etwas in die Jahre gekommenen Fernseher auf eine geringe Lautstärke gestellt und verfolgte eine auf Kinder ausgelegte Wissenssendung über Recycling und Abfallwirtschaft. Auch wenn Peter Schuster sich durchaus für das duale System interessierte, konnte er nicht umhin, dann und wann neugierige Blicke auf den jungen Mann zu werfen, der den ganzen bisherigen Tag kaum auf seine Versuche eingegangen war, ein längeres Gespräch anzufangen.
Peter hatte den blonden Jungen nun schon einige Stunden beobachtet, aber er war nicht richtig schlau aus ihm geworden. Simon war nicht unfreundlich, aber auch nicht besonders zugänglich und wirkte ein wenig wie ein trotziges, kleines Kind, das man zu Unrecht ausgeschimpft hatte. Er konnte unmöglich mehr als drei Stunden Schlaf bekommen haben, denn in der Kölner Justizvollzugsanstalt wurden die Häftlinge bereits um sechs Uhr morgens geweckt und bekamen ihr Frühstück, das in der Zelle eingenommen wurde. Simon hatte zusätzlich noch eine ganze Menge an Medikamenten erhalten, wovon er einige Tabletten sogleich geschluckt hatte. Peters deutliche Winke mit dem Zaunpfahl hatte er jedoch konsequent ignoriert und nicht mit der Sprache herausgerückt, woran es ihm gesundheitlich fehlte. Nachdem er aufgegessen hatte, war er auf seinen langen Beinen, die durch ihre Magerkeit sogar noch länger wirkten, durchs Zimmer getigert, das nur wenige Schritte in beide Richtungen maß. Das ständige Hin und Her hatte Peter ganz nervös gemacht, sodass er ihm ein Ende gesetzt hatte, indem er seinem schweigsamen Freund Stift und Papier angeboten hatte. Die Strategie war aufgegangen und Simon war bis zum Mittagessen beschäftigt gewesen, hatte aber leider wieder nicht viel mehr gesagt als ,,Danke". Hin und wieder waren stille Tränen über sein Gesicht gelaufen, was Peter schrecklich leid getan hatte. Seine Vorschläge, sich durch ein Gespräch oder Fernsehen abzulenken, hätte er jedoch genauso gut dem Schrank unterbreiten können.
Die jetzige Situation in der Gemeinschaftszelle glich wieder sehr derjenigen vom Vormittag, nur dass neben Simon nun drei Bücher auf seinem Bett lagen. Während Peter nämlich seine Freistunde an der frischen Luft verbracht hatte, hatte der blonde Junge sich in die kleine Gefängnisbibliothek führen lassen und dort offensichtlich etwas gefunden, das seinem Geschmack entsprach.
Gegen vier Uhr hatte Peter schließlich genug davon, zu fernsehen und nebenbei seinen neuen Freund zu beobachten, und schaltete den Apparat verdrießlich aus. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit nun voll und ganz auf seinen Zellenkameraden, der mittlerweile eins der ausgeliehenen Bücher aufgeschlagen hatte. Der Fernfahrer war ein wenig enttäuscht von Simon, denn er hatte eigentlich gehofft, dass es lustiger werden würde, wenn sie zu zweit waren. Stattdessen zog sein neuer Mitbewohner die Stimmung sogar noch herunter, indem er jegliches Gespräch verweigerte und dauernd still in sich hineinweinte. Intensiv musterte Peter die feinen Gesichtszüge des jungen Mannes. Warum mochte er wohl hier sein? Er sah absolut nicht wie jemand aus, der einem anderen ein Leid zufügen konnte. Peter Schuster war von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch und es hätte ihn wirklich brennend interessiert, was Simon beruflich machte. Was er für gewöhnlich mit seiner Freizeit anstellte. Welche Filme er gern mochte. Ob er eine Freundin hatte. Und nicht zuletzt auch was er da alles auf seinen Block geschrieben hatte.
Eine Sache konnte der wissbegierige Mann aber auch ohne zu fragen in Erfahrung bringen. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, um von seinem Platz aus die Titel der Bücher erkennen zu können, die Simon sich ausgesucht hatte: Ein billiger Kitsch-Roman von Konsalik, Das Parfum von Patrick Süskind und, Peter stutzte, ein Sammelband von Franz Kafka. In seiner Schulzeit hatte er Die Verwandlung als Pflichtlektüre gelesen, aber er hatte das Werk eher verstörend als unterhaltsam gefunden. Peter kannte niemanden, der sich freiwillig mit solch schwerer Kost abgab.
,,Ich hab noch nie jemanden getroffen, der Kafka gerne liest", bemerkte er deshalb verblüfft.
Tatsächlich mochte Simon den schmucklos und unverblümt schreibenden Autor nicht nur, mit dem er sich im Geiste so verbunden fühlte, er liebte ihn beinahe und konnte es deshalb nicht ertragen, wenn jemand etwas gegen ihn sagte. Auch Peters ohne böse Hintergedanken getroffene Aussage fasste er als Angriff auf, sodass er sich veranlasst fühlte zurückzuschießen.
,,Ich hab auch noch niemanden getroffen, der erwachsen ist und Leuten im Fernsehen zuwinkt", entgegnete er bissig.
Den abgebrühten Fernfahrer konnte man mit derartigen Bemerkungen jedoch nicht aus der Ruhe bringen. ,,Da hast du aber was verpasst!", meinte er nur aufgeräumt lächelnd und lehnte sich zurück.
Eine Weile herrschte wieder Stille in dem kleinen Zimmer, dann klopfte es und Simon wurde hinausgebeten, da seine Anwältin ihn sehen wollte. Vielleicht 15 Minuten konnte Peter sich zurückhalten, dann wurde seine Neugierde derart unerträglich, dass er zum Bett seines Zimmergenossen ging, das aus glattem Papier gefertigte Schutzcover des DIN A4-Blocks anhob und das oberste Blatt betrachtete, das halbwegs strukturiert mit schwarzem Kugelschreiber beschrieben und vollgekritzelt war.
Meine Seele ist zerfleddert und zerrissen, stand da in schwungvoller, ein wenig krakeliger, aber dennoch gut lesbarer Handschrift.
Abgegriffen & angesengt & ausgeleiert & von Messern durchstochen an vielen Stellen.
Was von ihr übrig ist, taugt vielleicht grade noch als Putzlumpen.
Zu ihrem ursprünglichen Zweck ist sie nicht mehr zu gebrauchen, sie ist kaputt & für immer verloren & man kann sie nicht reparieren.
Jeder Versuch die zerschlissenen Fetzen zusammenzuflicken ist vergebens.
Jeder Stich mit der Nadel macht es nur schlimmer.
Sie schmerzt & es wäre besser sie wegzuwerfen, aber ich kann mich nicht trennen & ich habe sie bis jetzt aufgehoben.
Ganz hinten in die unterste Schublade gelegt als Erinnerung.
Vor den Blicken verborgen, damit sie nicht noch weiter Schaden nimmt.
Aber sie zerren sie immer wieder hervor & spucken darauf & trampeln auf ihr herum.
Warum darf ich nicht in Frieden sein?
Kein Wunder, dass Simon Kafka heiß und innig liebte, dachte Peter ein wenig erschrocken. Die beiden hatten ganz offenbar die selbe Krankheit.
Noch einmal umzublättern traute sich der Mann dann aber doch nicht. Er hatte auch jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil er seine Neugier nicht hatte im Zaum halten können und ungefragt in die Privatsphäre des offensichtlich sehr verzweifelten Jungen eingedrungen war.
Auf die Rückkehr des blonden Mannes wartend, der wahrscheinlich gerade eine Vollmacht unterschrieb und seiner Anwältin alles erzählte, was er seinem Zellenkameraden nicht anzuvertrauen bereit gewesen war, lag Peter mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Bett und starrte die Decke an. Im Gefängnis gab es sonst nicht viel zu tun und er überlegte, was es heute wohl zum Abendessen geben würde und ob er die Zeit danach lieber mit dem wortkargen, jungen Mann verbringen, oder wie sonst immer am sogenannten Umschluss teilnehmen wollte. ,,Umschluss" bedeutete, dass man sich für die Zeit zwischen Abendessen und Nachtruhe zu jemand anderem in dessen Haftraum sperren lassen konnte, eine Möglichkeit, die der kontaktfreudige Fernfahrer immer sehr gern angenommen hatte. Aber vielleicht sollte er heute, da er ja nun dauerhafte Gesellschaft bekommen hatte, doch lieber ,,zuhause" bleiben und Simon nicht alleine lassen, vor allem nicht nachdem er wusste, welch schwermütigen Text dieser verfasst hatte. Und eventuell würde er es mit ein wenig Geduld ja doch noch schaffen, ihn zum Reden zu bringen, sodass er in Zukunft nicht nur während der Freistunde und abends jemanden zum Plaudern hatte.
,,Fängst du Fliegen aus Überzeugung oder aus Leidenschaft?", begrüßte Peter einige Zeit später den jungen Beamten, der Simon zurück ins Zimmer brachte und offensichtlich nicht begriff, dass die Bemerkung seinem offenstehenden Mund gegolten hatte, der unter Umständen vielleicht wirklich zur Insektenfalle werden konnte. Simon hatte es dagegen wohl verstanden und lachte unvermittelt kurz auf, was Peter positiv überraschte. Er freute sich immer, wenn er jemanden zum Lachen bringen konnte, und bei seinem kleinen Vampire-Simi, den er bis vor kurzem nur als trauriges Nervenbündel gekannt hatte, war dies natürlich ein noch schönerer Erfolg.
Beim Abendessen erfuhr Peter dann auch den Grund für die etwas gestiegene Laune seines Zimmergenossen, denn dieser ließ sich tatsächlich auf ein kleines Gespräch mit ihm ein und erzählte, dass er morgen Besuch von seinem Freund bekommen würde.
,,Meine Anwältin hat gesagt, dass die Beweislage sehr dünn ist", schilderte der blonde Mann, während er Butter auf seine zweite Scheibe Schwarzbrot strich, ,,und dass Gitarren kein Problem sind im Gefängnis. Ich werd' gleich morgen eine beantragen. Dann halt' ich das alles hier durch."
Mit einem Mal wusste Peter sicher, dass er heute am Umschluss teilnehmen würde, und er wusste auch genau, in welche Zelle er sich für die knappen drei Stunden bis zum Nachtverschluss um neun Uhr sperren lassen würde.
Als Fernfahrer war er daran gewöhnt, ständig mit neuen Leuten für kurze Zeit Kontakt zu haben, und war daher gut darin, sich schnell in neue Umgebungen und Personenkreise hineinzufinden. Dies war ihm auch hier in der Strafanstalt bereits relativ gut gelungen, obwohl erst knapp über eine Woche vergangen war, seit er in betrunkenem Zustand die drei streitlustigen Vollidioten verprügelt und ihre Motorräder mit seinem Sattelschlepper absichtlich zu Schrott gefahren hatte.
Seine im Allgemeinen leutselige und fröhliche Art hatte bei vielen der anderen Häftlinge Anklang gefunden und er war bei ihnen ein gern gesehener Gast, was er heute ausnutzen würde, um Simon einen Gefallen zu tun.
Als Peter kurz vor 21 Uhr wieder in seinen eigenen Haftraum zurückgebracht wurde, zierte ein breites Grinsen sein Gesicht. Simons Augen wurden ganz rund, als er aufsah und registrierte, was sein Zellengenosse da in der Hand hielt.
,,Klöten-Timmi hat sie ganz unbürokratisch ausgeliehen", erzählte Peter glücklich, ,,bis du deine eigene Gitarre bekommst, weil ich weiß echt nicht, wie lang sowas dauert."
Simon fragte gar nicht erst, was es mit dem merkwürdigen Spitznamen auf sich hatte, und nahm die am Hals ein wenig ramponierte Sechssaitige dankbar in Empfang. Seine Chancen, hier lebend wieder herauszukommen, waren gerade drastisch gestiegen.
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Tja, ist mal wieder nicht sonderlich viel passiert; ich hoffe, es war trotzdem nicht zu langweilig. Fürs nächste Kapitel hab ich die Charaktere mal wieder zu einer kleinen Fragerunde überreden können! ;)
Falls ihr also die Haupt- oder vielleicht auch Nebenfiguren etwas fragen wollt, schreibt es in die Kommentare! Ich leite das dann weiter und sehe zu, dass ihr unter dem nächsten Kapitel eine Antwort bekommt. ^^
Und an dieser Stelle noch einmal ein großes Dankeschön an alle, die dieser Geschichte eine Chance gegeben haben und bis hierhin drangeblieben sind! :)
Ein besonderer Dank noch mal an jeden, der so nett war und hin und wieder mal einen Kommentar oder ein Sternchen dagelassen hat, aber natürlich genauso auch an alle stillen Leser! Ich weiß, Zahlen sind an sich unwichtig, aber ich geb mir ja Mühe beim Schreiben und da freut es mich natürlich, wenn ein paar Leute das dann auch sehen und im besten Fall sogar noch Spaß daran haben. (Und mir meine unregelmäßigen Uploads verzeihen. ^^)
Fühlt euch umarmt! <3
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