in the dark of the night ☼
Sanft streicheln Harrys Finger meinen Rücken auf und ab, während ich einfach bloß seiner Atmung lausche. Ich versuche, meine seiner anzugleichen, denn sie wirkt auf mich gerade überaus beruhigend.
"Willst du eigentlich gar nicht wissen, wieso?" nuschle ich in sein, von meinen Tränen noch immer feuchtes T-Shirt. "Wenn du es irgendwann erzählen magst, wirst du das tun. Aber jetzt gerade möchtest du das nicht." flüstert er und ich schnaufe leise.
Er hat Recht. Ich wüsste nicht mal selbst die Antwort darauf, wenn ich ehrlich zu mir bin. Aber wie kann er so genau fühlen, was in mir vor geht, obwohl wir uns weniger als 12 Stunden kennen?
Erneut atme ich schwer durch, bevor ich mich dennoch traue, etwas meines Innern mit ihm zu teilen.
"Ich habe, vor heute, 5 Jahre, 3 Monate und... 17 Tage nicht geweint."
"Oh..." höre ich als Reaktion auf meine Beichte, genieße dabei das leichte Vibrieren seiner Brust, auf der mein Kopf noch immer liegt. "Das erklärt, dass du es nun 2 Stunden am Stück getan hast." Ich hebe träge den Kopf und blinzle ihn an. "Oh echt, so lange?" hauche ich.
Nicht nur, dass es mir gar nicht so lang vorkam, es wundert mich auch, dass er eine so genaue Zeitangabe parat hat. Den ganzen Tag über schien so etwas wie Uhrzeiten für ihn komplett irrelevant gewesen zu sein.
Und erneut, als könnte er in meinen Kopf schauen, erklärt er mir genau das im nächsten Atemzug.
"Ja, ich habe im Auge behalten wollen, wie lang es anhält." Wie viele Menschen wohl auf einem Trip gern jemanden wie Harry um sich gehabt hätten, der einen nicht aus den Augen lässt und aufpasst?
"Ein so heftiger... nennen wir es mental breakdown ist zwar nicht selten unter Marihuana-Einfluss, aber trotzdem nicht ungefährlich. Bin froh, dass du dich etwas erholen konntest..." Ich brumme zustimmend. "Danke, dass du einfach... da warst, mich festgehalten hast." Vorsichtig zieht er die Decke etwas mehr über meine Schultern, streicht mir vorsichtig durch die Haare.
Es ist so selbstverständlich für ihn, für mich da zu sein, mir Nähe zu spenden und mich aufzufangen, ohne meine Geschichte zu kennen. Er hat einfach gemerkt, dass ich den Halt brauche und ihn mir unaufgefordert gegeben.
Er fühlt sich an, wie mein ganz persönliches Endorphin.
"Irgendwie fühlt es sich so verwirrend an. Ich bin so müde aber komischerweise fühle ich mich zeitgleich auch so... energiegeladen. Ergibt das irgendwie Sinn?" Leise schmunzelt er, als er eine meiner Haarsträhnen einen Moment zwirbelt.
"Definitiv. Du hast gerade 5 Jahre, 3 Monate und-" Kurz überlegt er, weshalb ich ihn lächelnd von unten beobachte. "...17 Tage an Last losgelassen, das kann überaus beflügelnd wirken." Ich brumme leise.
"Und außerdem bist du high."
Schmunzelnd schließe ich noch einmal die Augen, nehme einen tiefen Atemzug von seinem Eigengeruch in mich auf und folge dann dem Drang in meinem Innern, mich aufzurichten und an die Kofferraumkante zu setzen.
Nach wenigen Minuten folgt er mir und setzt sich mit dem Rücken vor die Seitenwand des Busses, seine Beine in meine Richtung gestreckt. Einen Fuß stellt er zwischen meinen herunterbaumelnden Beinen ab, den anderen drückt er sanft gegen die Seite meines Oberschenkels, um sich abzustützen. Er kramt ein kleines Ringbuch hervor und kritzelt etwas gedankenverloren darauf herum, während ich einfach nach vorn auf das glitzernde Meer blicke.
Noch immer merke ich deutlich, wie das THC an die Rezeptoren in meinem Hirn andockt, doch nachdem ich all den Schmerz der letzten Jahre losgelassen habe, fühlt es sich einfach bloß leicht und angenehm an.
Einige Zeit sagt keiner von uns beiden etwas, doch das ist keineswegs unangenehm. Harry ist ein Mensch, mit dem sich Schweigen leicht und wahnsinnig unkompliziert anfühlt, einfach mal die Ruhe zu genießen, die einen umgibt.
Gerade ist sie eine Mischung aus Stille, dem leisen Kratzen, das sein Bleistift auf dem Papier erzeugt, einem Gemisch aus Plätschern und Rauschen des Meeres, dem dezenten Knistern des brennenden Holzes vor uns und einer einzelnen Grille, die irgendwo entfernt nur ganz unregelmäßig ein Zirpen von sich gibt.
Auch meinen eigenen Herzschlag nehme ich durch die Drogen in meiner Blutlaufbahn deutlicher war und finde das anders als sonst, wenn man diesen hören kann - denn normalerweise ist das in der Regel ein Zeichen dafür, dass der Kreislauf sich verabschiedet - total angenehm. Es ist, als würde ich alles, was in meinem Körper passiert, viel bewusster wahrnehmen, sodass ich das Gefühl habe, ihn zum ersten Mal in meinem Leben wirklich zu verstehen.
Und ich habe absolut keine Ahnung, was das bedeutet.
Weil es mich aus irgendeinem, ohne Drogeneinfluss nicht erklärbarem Grund wahnsinnig glücklich macht, die Sekunden der Pausen zu zählen, die zwischen jedem einzelnen Grillenzirpen entstehen, schwebe ich eine Zeit lang mit geschlossenen Augen durch die Gegend. Deswegen murmle ich enttäuscht "Jetzt hab ich mich verzählt..." als Harry plötzlich mit einem geflüsterten "Ich liebe das..." die Stille durchbricht. Schmunzelnd sieht er mich an, als ich ihn geistesabwesend anblinzle.
"Hmn?" brumme ich fragend, woraufhin er sanft lächelt. "Hör doch mal... ich liebe diesen Klang so sehr." Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. "Das Geräusch von Regen."
Erst als er es ausspricht, realisiere ich, wie deutlich das Prasseln der einzelnen Tropfen auf dem Autodach zu hören ist. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass es überhaupt begonnen hat zu regnen. War es nicht gerade noch sternenklarer Himmel?
Weit entfernt vernehme ich das Grummeln eines Donners, als ich einen leichten Druck an meiner Schulter spüre. Harry hat seinen Kopf dagegen gelehnt, sich dicht neben mich gesetzt, die Augen geschlossen und lächelt ganz sanft. Kichernd stupse ich mit der Nase gegen die Locke, die sich direkt vor dieser zwirbelt, sodass sie auf die andere Seite seines Kopfes fällt, bevor ich meine Schläfe einfach dagegen kuschle.
Sein weiches Haar streichelt meine Wange und ich kann nicht mal genau erklären, wonach sie speziell duften, doch es macht mich glücklich. Ich drehe meinen Kopf zu ihm und grabe meine Nase hinein, atme tief ein. "Hast du gerade an mir geschnuppert?" höre ich ihn schmunzeln. "War schwer zu vermeiden..." murmle ich in seine Haare, weshalb er seinen Kopf wie eine Katze sachte gegen meine Wange reibt.
Wieder habe ich nicht die geringste Ahnung, wie lange wir regungslos dort sitzen und einfach bloß dem Regen lauschen, doch irgendwann geistert mir eine Frage durch den Kopf, von der ich nicht mal weiß, wo sie plötzlich herkommt. Und genauso kann ich nicht verhindern, dass sie einfach meine Lippen verlässt.
"Hast du eigentlich schon mal einen Jungen geküsst, Harry?"
-♡-
»Endorphin sorgt als ein körpereigenes Schmerzmittel-Glückshormon dafür, Stresssituationen ertragbarer zu machen und Schmerz zu lindern. Oft versetzen sie den Körper in eine Art Rauschzustand.«
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