~ 30 ~
Sie stellte den Motor auf dem kleinen Parkplatz ab, der zu ihrem Lieblingsplatz führte und warf Ben einen Seitenblick zu. Er schien ganz gelassen zu sein. Anders als sie. In ihr wurlte schon wieder alles durcheinander, obwohl es sie sonst mehr beruhigte hier zu sein. Doch jetzt war da nur Aufregung sich mit dem beschäftigen zu müssen, mit dem sie selbst noch nicht klar kam und das machte sie meistens nur wohldosiert. Nun gab es aber die volle Dröhnung.
In einem Nest aus Grün thronte das Denkmal standhaft und erinnerte die Menschen hier daran, dass es umsetzbar war, sich zu befreien. Damals von Napoleon, heute von allem Möglichen. Zumindest empfand sie das so, jedes Mal, wenn sie ihre Augen zu der Sehenswürdigkeit wandern ließ. Das Monument war wie ein stilles Gelöbnis auf Besserung - auf Freiheit.
Jeden Tag fiel ihr Blick auf das Gebäude und stets klopfte ihr Herz dabei einen Tacken schneller, weil sie dachte, das stille Versprechen halle in ihr wider. Da wusste sie, was sie sonst oft nicht fühlte und darum empfand sie es als passend, den Rest ihrer Vergangenheit genau hier auf Ben loszulassen, vielleicht auch ein Stück für sich. Aber so viel wollte sie nicht erwarten.
Sie öffnete die hintere Fahrerseite, um Shelby aus ihrer Box zu lassen, und bemerkte im Augenwinkel, wie Ben ebenfalls den Wagen verließ. Er spazierte auf sie zu und blieb neben ihr stehen, während sie ihre Hündin anleinte. Kaum war sie losgelaufen, griff Ben nach ihren Fingern und verschränkte seine mit ihren, woraufhin sie ihn ansah. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und beschleunigte sich sprunghaft, als sie Entschlossenheit in seinen grünen Augen wahrnahm.
Noch konnte sie sich nicht überwinden, ihm den Rest zu erzählen. Also schwieg sie, während Shelby begeistert sämtliche Grasbüschel untersuchte und ihren Weg immer wieder unterbrach. Sie wollte es einerseits hinter sich bringen, andererseits war sie dankbar um jeden Aufschub. Auch Ben grinste, weil er die Begeisterung der Hündin wohl genauso genoss. Sie sollte viel öfter mal mit ihr in eine fremde Umgebung fahren, damit sie ausgiebig schnuppern konnte, sagte sie sich und rief nach Shelby, um ihren Weg fortzusetzen.
Bens Finger wärmten unterdessen ihre, während sie wortlos die kleine baumgesäumte Anhöhe hinaufliefen. Als sie an dem Gebäude ankamen, das wegen des Sieges über Napoleon errichtet worden war, stellte sie sich so wie immer an die Brüstung. Sie starrte auf die kleine Stadt hinunter, die ihr bereits so ans Herz gewachsen war.
Er gesellte sich still neben sie und schaute ebenfalls auf den Fluss und den Kanal herunter, die das Städtchen dreiteilten. Eingesäumt von Bergen lagen im Tal Einkaufsmöglichkeiten, Wohnsiedlungen und viele Ausflugsziele. Irgendwann würde sie mit ihren Kindern mal eine Fahrt mit der Fähre unternehmen oder eine kleine Schifffahrt, dachte sie und seufzte. Sie bemerkte, wie Ben sich ihr zuwandte und begegnete seinem Blick, ehe sie wieder auf ihre neue Heimat hinuntersah. Shelby hatte sich nun neben sie gesetzt und drückte sich an sie.
Gedankenverloren streichelte sie ihre Hündin. „Diese Stelle hier beruhigt mich normalerweise. Heute nicht so. Aber das liegt daran, dass in mir gerade der Punk abgeht. Na ja, ich kann es auch gleich loswerden, oder? Aufschieben nutzt ja nichts und ich hab dir eine Antwort versprochen, also..."
„Du musst es mir nicht erklären, Ella", hörte sie Ben sagen und schaute ihn an.
Sie schüttelte nur mit dem Kopf und blickte seufzend wieder über die Stadt, weil es sie ein bisschen besänftigte. „Doch, das muss ich. Ich hab also irgendwann kapiert, dass ich vor Tobi stand und nicht andersherum. Natürlich hab ich alles geregelt, so gut ich konnte. Immerhin hieß es auch, dass ich weiterhin sicher war. Aber das Chaos in mir wurde immer größer statt kleiner. Ich hab das nicht anerkannt, sondern einfach weitergepowert. Nach vier Jahren wurde ich zufällig schwanger."
„Lara", mutmaßte Ben und sie schüttelte den Kopf.
„Nein, nicht Lara. Ich hab das Baby verloren, noch im ersten Monat der Schwangerschaft. Aber Tobi stand danach mit glänzenden Augen vor mir und meinte, das Kind hätte ihm gezeigt, dass er bereit wäre, eine Familie zu gründen. Eine kleine Stimme in mir pflichtete ihm bei. Also haben wir beschlossen, ein Baby zu bekommen. Kurz darauf war Lara unterwegs und wir haben uns gefreut, dass unsere Liebe ein Ergebnis haben würde - sozusagen."
Sie räusperte sich, weil sie an den Moment dachte, als sie völlig überfordert das positive Testergebnis auf dem Streifen entdeckte. „Die Schwangerschaft lief gut, keine Komplikationen. Doch nach der Geburt konnte ich plötzlich nichts empfinden. Gar nichts. Da war nur die Angst, die ich mir die Monate und Jahre zuvor ausgeredet hatte."
Schulterzuckend bemerkte sie aus dem Augenwinkel das Interesse auf Bens Gesicht. „Die Therapie hat geholfen, das hab ich dir schon erzählt. Was ich nicht erzählt habe, ist, dass ich Tobi jede Kleinigkeit davon berichtet habe. Jede Erkenntnis, die ich über mich erlangt habe, jeden Trigger, alles was ich mir dabei erarbeitet habe. Und es war Arbeit. Es wird immer dargestellt, als würde man sich auf ein Sofa legen und über seine Probleme reden und dann würde der Therapeut seinen Senf dazu geben und danach wäre alles gut. So ist es nicht."
Sie drehte sich automatisch zur Seite, weil da ein Hund Shelby anbellte, doch ihre Hündin schaute sie nur aus ihren großen Knopfaugen an. Sie streichelte sie nochmal zur Bestätigung, während das andere Frauchen den Kläffer schimpfte. „Ziel ist ja, dich selbst zu verstehen, warum du manche Verhaltensweisen hast, wieso du reagierst, wie du es tust. Das erfordert eine Analyse des Ist-Zustandes, der Vergangenheit und das Erarbeiten von Lösungen, wie du besser mit den Sachen umgehen kannst, die dich so fordern. Das habe ich Tobi alles erzählt. Und er hat es für seine Zwecke genutzt."
Jetzt holte Ben zischend Luft und sie warf ihm kurz einen Blick zu, ehe sie nickte. „Ich weiß nicht, ob ich ihm das jemals verzeihen kann. Erst habe ich es gar nicht begriffen, das muss ich zugeben. Ich hab nur gemerkt, dass sich die Dynamik unserer Beziehung verändert hatte. Plötzlich hatte er alle Macht. Er hatte mich sogar überredet, mein Bankkonto zu kündigen. Ich war komplett von ihm abhängig, was ich nie wirklich hinterfragt habe. Das ist die Krux, verstehst du? Es muss jemanden geben, der ausführt und einen, der ausführen lässt. Aber ich war noch zu sehr mit den Nachwirkungen der Depression beschäftigt, um das zu kapieren. Bis ich es kapierte, steckte ich schon bis zum Hals in einem Machtspielchen, das ich auch erst später verstand."
Sie strich sich mit zittrigen Fingern durchs Haar und suchte nach Worten. Es war so schmerzlich für sie, darüber zu sprechen, was sie zugelassen hatte. „Tobi hatte eine Vorstellung, wie Familie funktionieren sollte. Das betraf vor allem Lara. Ich hatte die Erlaubnis arbeiten zu gehen, solange sie nicht unbeaufsichtigt war. Das ist ja klar. Nur war Lara oft krank, sodass sie selten im Kindergarten war, und so hab ich keine Stelle lange behalten können, denn dafür war ich als Mutter zuständig. Er ist gerne der Spaß-Papa. Das Unangenehme am Elternsein hat er mir übertragen und ich hab es gemacht."
Nochmals zuckte sie mit den Schultern und seufzte. „Das ist nur ein Beispiel. Ich könnte viele mehr aufzählen, aber die tun wenig zur Sache. Ich komme jetzt auf den Punkt, ok? Solange ich so funktionierte, wie er das wollte, hat er mir den Arsch gepudert. Nur war ich nicht glücklich, so wie es lief. Ich hatte immer öfter Angst vor der Zukunft, weil mir bewusst war, dass ich beruflich nichts auf die Beine stellte. Außerdem war ich und mein Beitrag zu unserer Familie nicht nur selbstverständlich geworden, sondern er würdigte ihn auch noch herab. Wenn ich mit ihm darüber gesprochen hab, drehte sich der Wind."
„Inwiefern, Ella?"
„Dann hat er mich mit Absicht getriggert."
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