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„Danke, dass ich auch schnell unter die Dusche hüpfen durfte", hörte sie und wurde aus ihren Gedanken gerissen.
Automatisch nickte Ella und musterte Ben, als er sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen ließ. Schien, als wäre er ganz aufgeräumt. Anders als sie. In ihr tobte immer noch ein Feuergefecht. Die Dusche hatte nicht sonderlich geholfen.
„Möchtest du auch einen Kaffee? Hast du Hunger? Ich bin jetzt nicht hungrig, aber wenn du was möchtest..."
„Kaffee wäre toll. Mach dir wegen eines Frühstücks keine Umstände."
„Wären es nicht. Also, Umstände."
„Schon ok, Ella. Du siehst gerade aus, als wolltest du lieber davonlaufen. Also stress dich nicht meinetwegen, einverstanden?"
Sie nickte nur, obwohl sie den bitteren Geschmack auf der Zunge hatte, eine abscheuliche Gastgeberin zu sein. Wenn sie ihm nicht gesagt hätte, dass sie nicht hungrig war, hätte er bestimmt auch keine Hemmungen gehabt, etwas zu essen. Doch das hatte sie vergeigt. Also schob sie sich von der Sitzfläche und machte Ben ebenfalls einen Koffeinschub, den sie vor ihm platzierte. Milch und Zucker standen auf dem Tisch und so blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als Rede und Antwort zu stehen. Sie hasste das. Aber Ben hatte es verdient, erinnerte sie sich nochmals und unterdrückte ein Seufzen.
Sie ließ sich auf den Stuhl zurückfallen und bemerkte, dass Ben versuchte, seine Neugier im Zaum zu halten und stattdessen geschäftig Zucker in seine Tasse rührte. Dennoch ging sein Wissensdurst in Wellen von ihm aus und leuchtete in seinen Augen, obwohl er seine Mimik offenbar bewusst neutral hielt. Vielleicht wollte er ihr damit die Sicherheit vermitteln, dass ihn nichts schockieren konnte.
Sie griff nach den Taschentüchern, wenngleich sie nicht schnäuzen musste. Sie brauchte nur irgendwas, um ihre Hände zu beschäftigen. Ihre Brust war ganz eng und das Luftholen fiel ihr schwer. Trotzdem schöpfte sie noch einen möglichst tiefen Atemzug und registrierte, wie sich zusätzliches Interesse in Bens Blick schlich. Sie konnte dem nicht standhalten, also senkte sie ihren Kopf und starrte auf die Tischplatte.
„Liebe bedeutet für mich vor allem Sicherheit und Geborgenheit. Sicherheit ist die Basis, ohne die kann es keine Geborgenheit geben. Aber Geborgenheit macht Liebe noch schöner. Ich hab mich nicht sehr oft sicher gefühlt in meiner Kindheit. Geborgen auch nur manchmal, zumindest so, dass ich den Hauch einer Ahnung hatte, wie es sich anfühlen könnte. Ich ... ich möchte nicht erzählen, wieso."
„Das ist ok, Ella."
Erneut nickte sie und holte ein Taschentuch aus der Packung, um es zu zerfetzen. „Ich hab nicht nur PTBS. Ich bin zudem hypersensibel. Das ist eine angeborene ‚Störung'. Ich hasse dieses Wort. Aber das tut nichts zur Sache. Es heißt, die Welt ist im Grunde zu grell, zu laut und zu voll für mich. Ich nehme alles extrem wahr, dazu gehören auch die Stimmungen der Menschen um mich herum, Gerüche, Farben, Aromen, alles. Als Kind konnte ich damit nicht umgehen, ich war nur ständig überfordert, das zu verarbeiten. So viele Dinge, die ungefiltert auf mich eingewirkt haben. Darum ist Sicherheit wahrscheinlich so wichtig für mich, in jeder Hinsicht. Sie heißt, nicht überfordert zu werden, mit dem klarzukommen, was man empfindet und sicher zu sein, nicht negativ aufzufallen."
Sie seufzte und schob die Taschentuchfetzen auf einen Haufen. „Es ist ok jetzt. Ich habe einen Umgang mit der Hypersensibilität gefunden, mit dem ich klarkomme. Ich wohne lieber auf dem Land, besuche Großstädte nur selten, große Menschenansammlungen oder Volksfeste nur wohldosiert und so Dinge. Wenn ich mich abschotten muss, setze ich meine Noise-Cancelling-Kopfhörer auf und drehe die Musik auf. So wird mein Kopf nur mit Dingen gefüttert, die ich gerade abkann. Alles andere prallt daran ab. Es ist ok."
Sie hob kurz den Blick und suchte nach einer Reaktion in Bens Gesicht, aber es leuchtete ihr weiterhin nur neutrales Interesse entgegen, während er seelenruhig einen Schluck Kaffee trank. Also schaute sie wieder auf die Tischplatte.
„Wie gesagt, in der Kindheit konnte ich das nicht. Wenn ich überfordert war, hab ich mich oft irrational verhalten und das hatte dann negative Folgen für mich. Ich habe gelernt, es ist nicht ok, wie ich empfinde, darum misstraue ich erstmal allen Gefühlen. Es sei denn, es sind positive. Die will jeder. Doch andere führen zu Konflikten. Ich habe angefangen, sie in mir auszutragen. In mir ist selten Waffenruhe, meistens stecke ich in einem heftigen Feuergefecht, aber das ist auch besser geworden."
Da sie das Taschentuch schon zerbröselt hatte, entnahm sie der Packung ein weiteres und riss wieder kleine Ecken davon ab. „Das erste Mal ok hab ich mich gefühlt, als ich meinen ersten Freund hatte. Da habe ich so etwas wie Waffenstillstand kennengelernt, obwohl ich damals außer Rand und Band war. Ich war echt die Pest. Aber er hat mir nie das Gefühl gegeben, als wäre ich eine Zumutung oder so. Er hat mich instinktiv immer zur Ruhe bringen können. Er gab mir Sicherheit. Und ich hab mich bei ihm geborgen gefühlt. Ich konnte nichts falsch machen und wenn, war es nicht schlimm. Heute weiß ich, dass ich damals schon PTBS hatte. Vieles liegt unter einem Schleier, ich kann mich an manches nicht genau erinnern, was zu der Zeit alles war. Nur, dass ich oft unmöglich war und ich das Gefühl hatte, ich würde neben mir stehen und den Kopf über mich schütteln."
Ihr Blick fiel auf ihre Hände und sie registrierte von Weitem, wie sie zitterten, dann zuckte sie mit den Schultern. „Manchmal konnte ich zwar alles spüren, was in meiner Umwelt war, aber mich selbst nicht mehr. Da wurde Sex zu einem Bewältigungsmechanismus, denke ich. Danach hab ich mich wieder gefühlt. Ich war sicher, geborgen und es herrschte Frieden in mir. Für den Moment war alles im Lot, die Welt war nicht grau für mich und die Farben brannten nicht in meinen Augen. Dann ging das auseinander."
Sie räusperte sich, weil ihre Stimme wackelig geworden war und merkte, wie Ben seine Hand still auf ihre legte. Automatisch flog ihr Blick zu ihm und er schaute ruhig zurück. „Zu meiner Überraschung lag es nicht an mir. Auch nicht an ihm. Es war ein beschissener Umzug. Die Distanz war zu viel."
Ben nickte und sie entdeckte Mitgefühl in seinem Grün, deswegen sah sie hastig weg. „Danach bin ich in ein Loch gefallen. Man gewöhnt sich schnell an das Gute im Leben, wird es einem entzogen... Ich hab versucht, nicht unterzugehen. Darum die Typen. Sie waren der Versuch, mir die Sicherheit und die Geborgenheit zurückzuholen, Frieden zu finden. Es hat nicht geklappt, wie du dir vorstellen kannst. Irgendwann hatte ich wieder einen Freund. Er gab mir so was Ähnliches wie Sicherheit. Am Anfang zumindest. Geborgenheit spürte ich nie, doch auf die konnte ich besser verzichten. Sie ist nur das Plus. Später wurde er aber ein Sicherheitsrisiko..."
„Was heißt das?"
Sie schaute Ben wieder in die Augen und flüsterte: „Er wurde gewalttätig. Er war nicht mehr sicher."
Ihre Stimme brach nun endgültig und obwohl Ben völlig fassungslos wirkte, stand er auf und zog sie auf die Beine, um sie in seine Arme zu ziehen. Sie schloss die Augen und versuchte, im Jetzt zu bleiben. Konzentrierte sich auf die Wärme, die er ausstrahlte, seinen Geruch, den er verströmte, und seinen Herzschlag, der unter ihrer Wange pochte.
„Was hat er getan?"
„Ist nicht wichtig. Relevanter ist, dass ich an der Sicherheit festhalten wollte, ich konnte das nicht beenden. Ich wollte es zurück. Er hat es beendet, weil er gemerkt hat, dass in mir zu viel Zähigkeit war, als dass ich mich trotz meiner Labilität brechen lassen würde. Ich bin nämlich stark, weißt du? Mehr, als mir damals bewusst war. Trotzdem war ich danach im freien Fall. Ich glaube, da wurde ich erstmals depressiv. Das davor, empfinde ich nur als Vorstufe. Aber nach dieser Beziehung... Ich hab versucht, mich zu kurieren. Auf die Art, die ich kannte. Da hatte ich meinen ersten und einzigen One-Night-Stand."
Obwohl es nicht witzig war, stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht, während Ben sie stumm musterte. Er hatte seine Stirn gerunzelt. „Auf dem gesamten Weg zu ihm herrschte Krieg. Gedanken daran, dass ich mit einem Fremden ging, um Frieden zu finden, was er alles tun könnte, ohne, dass jemand davon wüsste. Das Traurige ist, es wär den Menschen in meinem Leben damals egal gewesen, wenn ich verschwunden wäre. Mir auch, irgendwo. Ich stand ohnehin ungeschützt im Kugelhagel, mitten auf dem Schlachtfeld, ohne Verstärkung. Vielleicht hab ich gehofft, dass mich eine Kugel trifft, das weiß ich aber nicht. Doch ich wusste, dass ich kaum mehr Sinn im Kampf fand."
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