~ 19 ~
Eine Woche später versuchte Ben zum wiederholten Male Ella zu erreichen und fragte sich, was los war, als plötzlich erklang: „Ja."
Er erstarrte, denn Ellas Stimme hatte sogar bei diesem einen Wort tränenerstickt geklungen und er hörte ganz deutlich, dass sie ihr Schluchzen zu unterdrücken versuchte. Was war da los? Er lag schon im Bett und hatte nur noch schnell ihre Stimme hören wollen, aber jetzt setzte er sich alarmiert auf.
„Was ist los?"
„Ich ... ich möchte ... nicht reden, Ben."
„Ella, du weinst und das nicht nur ein bisschen, ok? Also: Was ist los?"
„Tut mir leid, morgen ... geht es wieder ... Bestimmt. Ich will ... nicht reden. Entschuldigung. Es geht schon. Bitte sei ... nicht böse."
Er konnte sie fast nicht verstehen, so heftig weinte sie und das machte ihn echt betroffen. Aber er realisierte auch, dass Ella ihm nicht verraten würde, was los war. Doch er hatte die vage Ahnung, dass es etwas Gravierendes sein musste, dass sie so derartig aus der Fassung geriet. Obwohl alles in ihm schrie, er solle es lassen, stimmte er kleinlaut zu, als sie ihn fragte, ob sie am morgigen Tag telefonieren konnten.
Nachdem Ella sich bei ihm bedankt und aufgelegt hatte, starrte er weiterhin betreten auf sein Telefon. Es widerstrebte ihm zutiefst, sie alleine zu lassen, wenn es ihr so schlecht ging. Er wusste, dass die Kinder am gestrigen Abend abgeholt worden waren, also saß sie da jetzt einsam in ihrer Wohnung. Im Grunde hatten sie für die nächsten Tage ein Treffen vereinbaren wollen, weil die Kids nun die komplette Woche bei Tobi waren.
Der hatte Urlaub und Max und Lara hatten Ferien. Es gehörte wohl zur Umgangsregelung, dass Ella sich in diesen Zeiten voll und ganz ihrer Weiterbildung widmen konnte und die Kinder ihre Freizeit mit ihrem Vater genießen konnten. Aber Ella widmete sich gerade gar nichts. Sie saß in ihrer Wohnung und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Das war nicht richtig.
Bevor er es sich anders überlegen konnte, schälte er sich unter seiner Decke hervor und zog sich ein Shirt an. Er verzichtete darauf, in eine Jeans zu schlüpfen, sondern nahm sich die Jogginghose vom Stuhl, auf den er abends immer seine Klamotten legte. Wenn er nicht großartig unter Leute ging, bevorzugte er legere Kleidung. Und er würde nur zu Ella fahren, oder? Er würde sie trösten und dann eben später ins Bett kommen.
Hastig griff er noch zu seinem Handy, ehe er seinen Schlafraum verließ und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss seines Eigenheims lief. Hier hatte er mit seiner Ex einziehen wollen, doch sie hatten sich davor getrennt. Jetzt lebte er allein in einem Haus, das im Grunde viel zu groß für ihn war. Aber so war es eben, dachte er, als er in die Schale in seiner Diele grabschte, um sich seine Motorrad- und die Hausschlüssel zu holen. Er wollte jetzt nicht mit dem Auto los, mit dem Bike hatte er freiere Fahrt und er hatte es eilig.
Denn der Gedanke, dass Ella so weinte, setzte ihm wirklich zu. Also beeilte er sich, sich seinen Helm aufzusetzen, und wartete ungeduldig, bis das Garagentor der Doppelgarage hochgefahren war und er aus der Einfahrt preschen konnte. Er brauchte etwa zwanzig Minuten zu Ella. Wenn er nicht viel überholen musste vielleicht sogar nur fünfzehn, sagte er sich und fuhr gen Bundesstraße.
*
„Mach auf, Ella, jetzt komm schon", murmelte er und drückte aufs Neue auf den Klingelknopf.
Der Hund ihrer Nachbarin bellte bereits wie blöde, aber Ella stellte sich taub. Oder hörte sie es tatsächlich nicht. Er zog sein Telefon aus der Tasche und wollte gerade erneut ihre Nummer wählen, als die Haustür aufging. Hastig erklomm er die Treppe in die erste Etage des hübschen Zweifamilienhauses und kurz später stand ihm Ella völlig derangiert gegenüber. Sie wirkte, als hätte sie sich noch notdürftig hergerichtet, doch die Aufregung war ihr deutlich anzusehen.
Als sie ihn erkannte, traten wieder Tränen in ihre Augen und er zog sie nur wortlos zu sich. Sein Herz pochte wie wild in seiner Brust, als Ella gegen ihn sackte und erneut heftig zu weinen begann. Wie froh er war, zu ihr gefahren zu sein. Ihr Schluchzen klang wie das schlimmste Geräusch, das er je wahrgenommen hatte. Ihr Körper wurde erschüttert von der Brachialität, mit der diese Töne ihren Weg aus ihr fanden. Damit ihre Nachbarn nichts von dem Spektakel wahrnahmen, schob er sie sanft rückwärts in ihre Wohnung und schloss die Tür.
Ella hauchte immer wieder abgehakt, dass sie nicht reden wollte und er schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Er würde ihr die Zeit geben, die sie brauchte. Wichtiger schien es ohnehin zu sein, dass er schlicht da war. Er streichelte ihr durch ihr struppiges Haar und dachte, sie würde nie aufhören zu weinen, so viel hatte sich wohl in ihr angesammelt.
„Ich wollte nicht, dass du mich so siehst."
„Es ist ok, wenn ich dich so sehe, weißt du?"
„Nein, nicht ok. Ändert immer alles..."
Er wusste, was sie meinte. Sie hatte Angst, dass wieder das gleiche passierte, wie damals, als sie Wochenbettdepressionen gehabt hatte und Tobi zum Kontrollfreak mutiert war. Er konnte verstehen, dass sie so empfand, aber er hatte nicht im Geringsten den Impuls, Ella ihre Eigenständigkeit abzusprechen. Sie lebte gut mit ihrer mentalen Konstitution und er sah überhaupt keinen Grund dazu.
„Es ändert gar nichts, Ella", widersprach er deswegen sanft und sie sah ihn zweifelnd an.
„Das hab ich schon mal gedacht..."
„Das hast du mir erzählt. Aber ich bin nicht dein Ex, Ella."
„Das weiß ich. Ich wollte trotzdem nicht, dass du mich so siehst."
Er bemerkte, dass sie nun nicht mehr so heftig weinte, und das beruhigte ihn. Mochte sie sich noch so sehr gegen die Tatsache gewehrt haben, dass er vor ihrer Tür gestanden hatte, so hatte es sich wenigstens ausgezahlt. Ella seufzte tief und er beugte sich zurück, um sie ansehen zu können. Erschöpfung war in ihr Gesicht gefräst und er wischte ihr sanft die Tränen von den Wangen, die weiterhin stetig, aber zumindest langsam aus ihren Augen hervorbrachen.
„Willst du mir nicht sagen, was dich so aus der Fassung bringt?"
Ella schüttelte sofort den Kopf und er bemerkte, wie sie sich auf die Lippen biss, als wollten die Worte aus ihrer Kehle hervorbrechen. Er beschloss, ihr noch Zeit zu geben, und zog sie wieder zu sich, ohne Stellung dazu zu nehmen. Dass sie den Kopf an seiner Brust barg und sich in seine Arme kuschelte, beschleunigte seinen Herzschlag rasant. Er hatte sich echt in sie verguckt. Das wurde ihm immer klarer, aber er hegte die Befürchtung, dass er Ella mit einem Geständnis diesbezüglich in die Flucht schlagen würde.
„Willst du was trinken, wenn du jetzt schon da bist?"
„Ja, gerne. Ich geh nämlich nicht mehr weg, bis es dir wirklich besser geht."
Er merkte, wie ihre Pupillen zu Fragezeichen wurden, ehe sie sich fing und nickte. Sie hatte sich jetzt endgültig wieder gefasst und er ließ sie sofort los, als er den leichten Widerstand spürte, mit dem sie sich von ihm lösen wollte. Nach einem verwirrten Blick auf ihn, betrat sie die Küche, die schräg gegenüber der Haustür war und er folgte ihr. Sie erkundigte sich, ob ein Kaffee ok war und er nickte. Normalerweise trank er um die Zeit keinen mehr, doch Ella wirkte ohnehin durcheinander.
Während der Kaffee lief und er sich entspannt an die Arbeitsfläche der Küchenzeile lehnte, sagte sie plötzlich: „Tobi will mir die Kinder wegnehmen lassen."
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