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Was tat sie eigentlich hier? Es war ihr erstes freies Wochenende, an dem sie keine Umzugskartons mehr auspackte und sie saß allein in einem Café. Seit ziemlich langer Zeit völlig allein. So fühlte sie sich auch: komplett auf sich gestellt. Die Stille in der Wohnung hatte sie bewogen, sich ihre Unterlagen zu schnappen und unter Leute zu gehen. Aber sie hatte dabei vergessen, dass man sich in einer Menschenmenge befinden und sich trotzdem einsam fühlen konnte.
Seufzend ließ sie den Blick über die Menschen schweifen, die ebenfalls an diesem warmen Frühherbsttag in dieses hübsche Café eingekehrt waren. Die meisten saßen nicht alleine am Tisch. Sie waren zu viert oder halt mindestens zu zweit. Sie spürte wieder diesen altbekannten Schmerz, der sie nun schon seit einer Weile begleitete. Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr und sie beobachtete die Personen, die ihr Leben nun zwangsläufig touchierten. Nicht, dass sie mit einer von ihnen ein Gespräch führen würde, aber sie war Teil der Szenerie, oder nicht?
Was sich die Menschen hier wohl dachten, falls sie die pummlige Frau mit dem kinnlangen, braunen Bob und den dunkelbraunen Augen an dem Vierertisch ansahen. Welche Gedanken schossen den anderen hier durch den Kopf, wenn sie beobachteten, wie sie immer wieder an ihrem Cappuccino nippte und über ihren Unterlagen brütete. Bemerkten die, dass sie hin und hergerissen war, zwischen dem Wunsch, sich besser zu verstecken und aktiv am Leben teilzunehmen? Sie hätte eine ihrer Freundinnen fragen sollen, ob sie Zeit hatte, sich mit ihr zu treffen. Aber denen war sie in der letzten Zeit oft genug auf den Geist gegangen.
„Vorsicht!", hörte sie plötzlich, nahm Gebell wahr und wandte sich automatisch in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren.
Sie sah nur, wie eine Flasche vom vollen Tablett des fluchenden Kellners rutschte und Kurs auf ihre Unterlagen nahm. Doch bevor sie reagieren konnte, schoss eine Hand vor und fing das Getränk auf, ehe es Schaden anrichten konnte. Es ging alles so schnell, dass sie gar nicht registrierte, zu wem die Gliedmaße gehörte. Doch dann bemerkte sie den Kerl, der die Finger besaß. Während sie in seine zufriedenleuchtenden grünen Augen sah, wurde erneut Gekläff laut. Aber sie konnte nur in diese Pupillen sehen, die in einem markanten Gesicht saßen, das ein Lächeln zierte. Das umrahmt war von einer blonden Wuschelfrisur.
„Das war knapp", sagte der Kerl vor ihr und unterbrach den Blickkontakt, um dem Kellner die aufgefangene Flasche zu reichen.
„Scheiße, wenn die Leute nicht aufpassen und ihre Hunde sich losreißen wollen. Ist mir genau zwischen die Beine. Danke", erklärte der Café-Angestellte.
„Keine Ursache. Ist ja alles gutgegangen", sagte der Fremde und sie nutzte automatisch die Chance, um festzustellen, dass er bestimmt einen Kopf größer war als sie.
Doch das war nicht schwer, denn sie war ein Zwerg. Sie sagte immer, sie wäre lange gewachsen, aber kurz geblieben. Sie konnte den Gedanken nicht festhalten, da ihr als Nächstes die breiten Schultern und die schlaksige Figur auffielen, die unter einem T-Shirt versteckt waren. Hatten Männer eingebaute Heizungen? Das hatte sie sich schon immer gefragt. Es war nicht kalt, aber Sommertemperaturen herrschten auch nicht mehr. Es war so ... Strickwestenwetter. Als sich diese Augen erneut auf ihr Gesicht hefteten, flogen ihre automatisch wieder zu seinen.
Die Grübchen in seinen Wangen vertieften sich genauso wie sein Lächeln, als er meinte: „Ja, dann will ich mal."
„Ja, äh, ja", stammelte sie und räusperte sich, ehe sie anfügte: „Danke."
„Schon ok. Sieht wichtig aus, was da alles so vor dir liegt", erklärte er und sie nickte automatisch, ohne den Blick von ihm wenden zu können.
Als ihr bewusst wurde, dass er offenbar auf eine Antwort wartete, räusperte sie sich nochmal und wiederholte: „Ja, äh, ist wichtig."
„Dann hab ich meine gute Tat für heute schon erledigt", entschied er und sie sah fasziniert, wie seine Augen belustigt aufblitzten.
„Ja", hauchte sie und fragte sich, warum ihr Mund plötzlich so scheißtrocken war.
„Ben? Kommst du jetzt?", hörte sie und der Mann vor ihr wandte sich um und erwiderte, er wäre sofort da.
„Dann noch viel Spaß, beim Aufarbeiten der wichtigen Unterlagen."
„Ja, äh, noch viel Spaß, bei ... Was-auch-immer. Ciao."
„Ciao", sagte er, stopfte die Hände in seine Jeans und grinste sie nochmal an, ehe er sich umdrehte.
Automatisch verfolgte sie, wie er zu einem Tisch ging, wo noch drei andere Kerle saßen. Dann erstarrte sie. Hatte sie diesen Ben wirklich angestiert, als wäre er ein leckeres Filetsteak, das sie auf den Grill schmeißen wollte? So ein Wagyu- oder Kobe-Rind? Ach du heilige Scheiße! Wie peinlich war sie denn? Er musste echt den Eindruck haben, als wäre sie nicht ganz knusper in der Birne. Sie merkte, wie Hitze in ihre Wangen schoss und dass sie ihn weiterhin anschaute. Schnell zwang sie sich, den Blick von dem Retter ihrer Unterlagen zu lösen.
Sie war echt scheißpeinlich. Sie wollte nicht wissen, was er dachte. Sie schloss kurz die Augen und erinnerte sich daran, dass ja nichts passiert war. Nicht wirklich. Er war nett gewesen, sie hatte sich blamiert und jeder ging wieder seine Wege. Fertig. Wieso sie das aus der Fassung brachte, wusste sie nicht, aber ihr Blick flirrte automatisch in seine Richtung, als sie ein tiefes, wohlklingendes Lachen hörte.
‚Ja, das kam von ihm', stellte sie fest und als sie wieder ins Starren verfallen wollte, riss sie sich gewaltvoll vom Anblick seines lachenden Gesichts los. ‚Du bist echt peinlich, Ella. Konzentrier dich lieber auf deinen Lernstoff. Du hast nochmal eine Chance bekommen und die solltest du nutzen, sonst wirst du nie unabhängig!'
Als sie einen Schluck von ihrem mittlerweile kalten Cappuccino nahm, stellte sie fest, dass ihre Hand zitterte. Wie alt war sie? Fünfzehn? Sie schüttelte automatisch den Kopf und vertiefte sich in die Lektüre ihres Lernstoffes. Zumindest versuchte sie es. Denn wiederholt flirrten ihre Augen zu ihm und manchmal trafen sie auf die grünen von Ben. Woraufhin sie leicht beschämt den Blick wieder abwandte. Sie war echt bescheuert, oder?
*
‚Jetzt bin ich doch schon ein Stückchen weiter', dachte sie gerade zufrieden, als ein Schatten auf sie fiel.
Sie hob den Kopf und schaute in Bens Augen, die wieder genauso lächelten, wie sein Mund. Das war echt attraktiv, dachte sie automatisch, während er fragte: „Darf ich kurz?"
„Was?"
„Den Stift. Darf ich mir den kurz leihen?"
„Äh, ja, äh, klar."
Sie gab ihm den Kuli und für einen Sekundenbruchteil berührten sich ihre Finger. Zu ihrem Entsetzen jagte ein Stromstoß durch sie. Was zum Teufel...? Sie konnte so eine Scheiße gerade wirklich nicht gebrauchen! So komische Hormonausstöße, nur weil ein Kerl ein echt attraktives Lächeln und funkelnde, echt tolle Augen hatte. Sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass sie beobachtete, wie er sich vorbeugte und etwas auf den aufgeschlagenen Collegeblock vor ihr kritzelte. War das...?
„Falls du mal nicht alleine Kaffee trinken willst, kannst du dich ja melden", murmelte er und sie schaute fassungslos auf die Zahlenreihe, die er aufgeschrieben hatte.
„Aha."
„Ja, aha", sagte er und sie hörte die Belustigung in seiner tiefen Stimme und hob den Blick reflexartig wieder zu seinem Gesicht.
„Einen schönen Tag wünsche ich dir noch", fügte er an und sie nickte.
„Ja, äh, ja, dir auch. Und äh, danke nochmal."
„Kein Ding. Hab ich schon gesagt. Also ... vielleicht bis irgendwann."
„Ja, vielleicht bis irgendwann", wiederholte sie automatisch und senkte den Blick wieder auf die Zahlenreihe vor sich, nachdem die Sonne nicht mehr von seinem Körper verdeckt wurde.
Sie musste träumen, oder? Was war das hier? Ein verkackter Scherz des Lebens?
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