49 - SATAN HAS TO WAIT
Eddie lief vor. Seine wirren Locken lugten unter Max' Halloweenmaske hervor, als er die Hand hob und uns somit bedeutete ihm zu folgen. Mit einem gesuchten Mörder und seiner Komplizin an hellichtem Tag durch den Trailerpark zu laufen, war ohne eine angemessene Verkleidung keine gute Idee.
Deswegen hatte ich auch ein dunkelgrünes Bandana von Max um den unteren Teil meines Gesichts gebunden.
Klar, würde Wayne oder mein Vater aus dem Fenster sehen, dann hätten sie mich oder Eddie sofort erkannt. Naja, eigentlich würde fast jeder der Nachbarn uns erkennen.
Vor allem Eddie, weil er noch immer seine übliche Lederjacke trug und die Kette, die bei jedem Schritt an seiner Hose baumelte.
Als wir ungefähr fünf Mal abgebogen waren, erblickte ich ein Wohnmobil.
Mir wurde klar, warum Eddie gesagt hatte, dass es sich nicht wirklich um ein Auto handelte.
Er wollte das Wohnmobil der Millers klauen. Verdammter Idiot— aber irgendwie auch verdammt schlau. Die Millers waren nämlich rassistische Arschlöcher. Wenn man jemanden das Wohnmobil (und Haus) klauen sollte, dann wohl ihnen. Sie waren mit Abstand die unsympathischsten Trailerparkbewohner.
"Los", zischte Eddie und sprintete ein letztes Mal über einen verlassenen Pfad zur Hinterseite des Gefährts. Mit geübten Bewegungen tastete er über das geschlossene Fenster und fand einen kleinen Spalt. Energisch zog er das Fenster auf, zog sich hinauf und verschwand im Inneren. Dann streckte er mir seine Hand entgegen und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich nahm seine Hilfe dankbar an. Ich war so unsportlich, das selbst das hier eine kleine Herausforderung darstellte.
Dank Eddies Hilfe landete ich jedoch weich auf dem Sofa des Wohnmobils. Eddie wandte sich ab und machte sich bereits an den vielen Kabeln zu schaffen. Währenddessen half ich den anderen hinein. Erst Nancy, dann Robin, dann die Kids. Als Steve als Letzer hineinkletterte, war Eddie schon fast fertig.
Entgeisterte starrte Steve über meine Schulter hinunter zu Eddie.
"Wo hat er das denn gelernt?", raunte er mir zu. Allerdings nicht leise genug.
"Naja", antwortete Eddie und knipste ein Kabel durch, "Als alle anderen Väter Footballspielen und Angeln waren, hat mein alter Herr mir Autos kurzschließen beigebracht."
Obwohl er es so leichtfertig sagte, wie andere von ihrem Mittagessen erzählten, wusste ich, dass ihm das auszusprechen mehr Mut kostete, als auch nur einer der Anwesenden ahnen konnte. Früher hatte er sich für seine Eltern geschämt. So sehr, dass er selbst mir erst ganz spät von ihnen erzählt hatte.
Als ob seine Eltern etwas an dem ändern konnten, was ich für ihn empfand, als ob sie ändern konnte, wer Eddie war.
Sie waren nur Feiglinge, die ihren Sohn immer wieder verlassen hatten— und Eddie war der mutigste Mensch, den ich kannte.
Mit flinken Bewegungen verbanden seine Finger die Drähte. Es war beinahe hypnotisch ihm dabei zuzusehen.
"Ich hab' mir immer geschworen, auf gar keinen Fall so zu enden wie er- und jetzt werde ich wegen Mordes gesucht und gleich auch noch wegen Autodiebstahls", sagte er bitter und warf einen Blick über die Schulter. Er sah mir direkt in die Augen. Ich wusste, dass er die Worte mehr an mich richtete, als an die anderen: "Ich mache dem Namen Munson nun doch alle Ehre."
"Äh, ich will ja nicht stören aber du fährst nicht, Eddie, oder?", meldete sich auf einmal Robin flüsternd zu Wort.
Eddie grinste abgelenkt: "Oh, ich starte das Schätzchen nur. Fahren darf jemand anderes."
Dann führte er die letzten Kabel zusammen und es knallte. Stotternd sprang der Motor an. Ich lächelte und irgendwie war ich auch ein bisschen stolz. Eddie konnte seine Vergangenheit nun doch noch für etwas sinnvolles einsetzen— wer hätte gedacht, das Mr Munsons Autoknack'-Lehrstunden letztendlich doch noch für etwas gut waren?
Während Steve sich hektisch auf den nun freien Fahrersitz sinken ließ, donnerten die Fäuste von Mr Miller an die Fensterscheiben.
"Ups", grinste ich Eddie zu, "Ich glaube er ist wütend."
"Nur ein bisschen", grinste er zurück.
"Haltet euch alle an etwas fest!", brüllte Steve und dann gab er Gas.
Ich klammerte mich an Eddie fest, dann knallten wir mit voller Wucht gegen das, was ich als Klotür identifizierte. Na, toll.
Das Robin sich Sorgen wegen Eddie's Fahrstil gemacht hatte, war vollkommen überflüssig. Steve war das wahre Problem. Er raste in einer Heidengeschwindigkeit um Ecken, schlitterte über die matschigen Trailerpark-Pfade und letztendlich fuhr er fast das Schild um, dass in vergilbten Lettern den Forest Hills Trailerpark ankündigte.
Als wir endlich auf einer asphaltierten Straße landeten, wurde Steves Fahrstil etwas angenehmer.
"Steve", fluchte ich lautstark, "Was war das denn bitte?"
"Wir haben zwei gesuchte Mörder im Gepäck— ich hatte keine andere Wahl als so schnell zu fahren!", verteidigte sich Steve und warf mir ein kurzen Blick über die Schulter zu.
Ich verdrehte die Augen: "Du bist manchmal echt ein Idiot."
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Die Fahrt dauerte nicht so lange, wie ich erwartete hatte.
Aber wahrscheinlich hatte ich nur den Eindruck, weil ich die ganze Zeit meinen Gedanken nachgehangen hatte. Vor dem Fenster waren hellgrün-blühende Frühlingsbäume vorbeigezogen, ab und zu hatte ein warmer Sonnenstrahl auf meiner Haut getanzt. Von Vorne waren Nancy und Steves gedämpfte Stimmen zu uns vorgedrungen, aber ich hatte mich nicht angestrengt die gelegentlichen Wortfetzen zu verstehen.
Ich war einfach zu erschöpft. Unsere Flucht zog die Lebensenergie aus mir hinaus und ich wusste nicht, wie lange ich all' das ohne ein paar Stunden Schlaf in einem anständigen Bett noch aushalten würde.
Die Frage war zudem, ob ich all' das hier überhaupt aushalten wollte.
War Zone sah schon von außen so bescheuert aus, dass ich nicht anders konnte als die Augen zu verdrehen. Nachgeahmte Raketen aus Metall säumten das rostige Schild und die gelben Lettern brannten sich förmlich in meine Augen.
Eddie hatte dort authentische Metallketten gekauft, aus denen er sich Ketten gebastelt hatte. Mit den Resten, hatten wir sein Zimmer etwas verschönert.
Aber Waffen? Waffen gefielen mir nicht mehr, seit Dad einmal betrunken mit dem kleinen Revolver herumgefuchtelt hatte, der immer in seinem Nachttisch gelegen hatte. Als er das nächste Mal betrunken auf dem Sofa eingeschlafen war, hatte ich den Revolver aus dem Nachttisch geklaut und Eddie gegeben.
Als wir auf den Parkplatz fuhren, rutschte ich von meinem Sitz am Fenster auf die Rückbank, wo man die Vorhänge vorziehen konnte. Eddie folgte mir.
Zwei Teenies, die aufgrund mehrerer Morde gesucht wurden, würden in einem Waffenladen voller besorgter Bürger wohl nicht so gut ankommen.
"Soooo", sagte Eddie gedehnt und ließ sich schwungvoll neben mich auf den Sitz fallen.
Beinahe augenblicklich machte sich eine seltsame Anspannung in mir breit. Die anderen waren weg. Und wir waren hier. Zu zweit. Das erste Mal waren wir wieder allein seit unserem Kuss im Wald.
So richtig.
"So?", fragte ich und versuchte ganz locker und entspannt eine Augenbraue hochzuziehen. Ich hoffte, dass es mir gelang.
"Was denkst du, wie lange wird es dauern bis der Rotschopf und Co aus dem Laden geworfen werden?", fragte Eddie und grinste. Der Scherz war mit Abstand der Schlechteste seit Langem.
Und das war ein Beweis dafür, dass ich nicht die Einzige war, die nervös war.
"Wir sind in Amerika. Da dürfen auch Kinder Waffen kaufen", erwiderte ich leichthin und räusperte mich. Mein Blick glitt durch den Wohnwagen, ganz so als ob es tausend interessante Dinge zu sehen gäbe.
Leider war dem nicht wirklich so. Es gab ein bisschen dreckige Wäsche, die auf dem Boden lag, eine vertrocknete Topfpflanze und einen Topf, der von der Küchenzeile gerutscht war, während Steves wilder Fahrt. Wenigstens war der Topf leer gewesen.
Dann fand meinen Blick meine Füße. Meine schwarzen Boots hatten früher immer einen Kontrast zu Eddie's weißen Reebooks geboten- doch jetzt waren seine heiligen Reebooks dreckig, fast schwarz. Ich wusste, wie viel ihm diese Schuhe bedeutet hatten.
"Wenn wir das hier überleben kriegst du neue Reebooks von mir", behauptete ich großspurig, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt jemals wieder ein Geschäft betreten konnte, ohne mit Mistgabeln und Fackeln wieder hinausgejagt zu werden. Zumindest in Hawkins. Und ob mein Erspartes überhaupt für nigelnagelneue Reebooks ausreichen würde... Nun ja, das war eine Frage für später. Wenn wir das hier überlebt hatten.
Eddie schmunzelte: "Ich bezweifle, dass wir beide überleben werden. Also entweder brauche ich keine neuen Schuhe mehr oder du bist nicht mehr da, um mir welche zu kaufen."
Abrupt riss ich meinen Blick von unseren Schuhen los und starrte ihn entgeistert an. "Sag' sowas nicht!"
Eddies Blick verhakte sich mit meinen. Seine Augen waren dunkel vor Trauer.
"Du kannst doch nicht wirklich glauben, das dieser Plan- wenn man es denn einen Plan nennen kann- wirklich funktionieren wird. Das nicht irgendwer dabei draufgehen wird."
Einen Moment lang sah ich ihn nur an. Die braunen Locken, die ihm zerzaust über die Schultern hingen und seine braunen Augen, dunkel vor Kummer und Ernsthaftigkeit. Ich hasste es Eddie so zu sehen. Es zerriss mir förmlich das Herz.
Und gleichzeitig machte es mir riesige Angst. Eddie war selten ernst. Und wenn, dann weil es richtig übel war. Natürlich war mir auch so klar, dass unsere Situation nicht unbedingt die Beste war... Doch das änderte nichts daran, dass seine Stimmung mir all' das umso deutlicher vor Augen führte.
Würden wir wirklich nicht heil da rauskommen?
Waren wir so verloren und ich wollte es nicht wahrhaben?
"Denkst du das wirklich?", meine Stimme war ganz leise. Vielleicht weil ich hoffte, dass er meine Frage überhören würde. Ich wusste nicht, ob ich seine Antwort tatsächlich hören wollte.
"Ich hab' da so ein Gefühl... dass es nicht gut ausgehen wird", während er sprach, wandte er seinen Blick von mir ab.
Ganz automatisch griff ich nach seinen Händen und drückte sie sanft. Er sah mich nicht an.
"Eddie", sagte ich etwas nachdrücklicher. Er hob den Kopf, langsam, so als ob es das Schwerste der Welt wäre.
Als sich unsere Blicke trafen, fühlte ich mich als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren.
"Ich... ich hab' so Angst", murmelte er leise, "Ich will dich nicht verlieren."
Seine Worte jagten mir einen Schauer über den ganzen Körper. Sie waren so voller Liebe, verzweifelt und echt und so wahr. Denn ich wollte ihn auch nicht verlieren.
Nicht an Vecna, nicht an sonst irgendetwas oder jemanden.
Wir gehörten zusammen.
Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so klar gesehen, wie jetzt.
Wir. Gehörten. Zusammen.
Und vielleicht waren wir bald tot.
War dann nicht sowieso alles egal?
Konnte ich dann nicht diesem Drang in mir nachkommen? Diesem verzweifelten Ziehen in meiner Brust, dass mich immer zu ihm zu bringen schien...
Wie von allein legten sich meine Hände an seine Wangen. Etwas in seinem Blick flackerte unter meiner Berührung auf.
"Du wirst mich nicht verlieren", wisperte ich, "Verstanden? Und ich werde dich auch nicht verlieren— das lasse ich nicht zu."
Ich meinte diese Worte ernst. So ernst, wie man sie nur meinen konnte.
"Und wenn doch", fuhr ich leise fort, "Dann laufe ich höchstpersönlich in die Hölle und nehm' dich wieder mit. Satan muss noch so um die 70 Jahre warten bis er dich in die Finger kriegen wird."
Ein schiefes Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit: "Ich habe keinerlei Zweifel, dass du auch genau das tun wirst, falls es dazu kommen sollte."
"Oh, und Vecna wird auch was zu hören kriegen, falls er es wagen sollte, dich auch nur anzurühren", fuhr ich fort und konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken.
"Aber natürlich", schmunzelte Eddie belustigt, "Dem sollten sowieso mal dringend die Leviten gelesen werden."
Jetzt, wo Eddie's sorgenvoller Gesichtsausdruck verschwunden war, bemerkte ich, dass meine Hände noch immer an seinen Wangen lagen. Ich bemerkte, dass anstatt der beinahe ängstlichen Stimmung sich eine seltsame Spannung zwischen uns breitgemacht hatte.
Wir waren uns so nah, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. So nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. So nah, dass ich mich nur vorbeugen musste um dem Ziehen in meiner Brust endlich nachzugeben...
Äh... Ja. Sorry, für den Cliffhänger xD aber das Kapitel ist bei knapp 2000 Wörter, ich musste es aufteilen!
Aber ihr müsst ja nur bis Montag warten— und ganz ehrlich, es lohnt sich ;)
Bis dann!
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