Rain beugte sich über das Wörterbuch, das vor ihr lag und dann wieder zurück zu ihrer zerfledderten und über und über mit Bleistiftnotizen bekrizelte Ausgabe der Brüder Karamasow. Sie verstand diesen Satz einfach nicht, die Wörter waren unzusammenhängend und ergaben keinen Sinn. Seufzend lehnte sie sich zurück.
"Wieder stecken geblieben?" Vicky sah sie mitfühlend an. Rain nickte und fuhr mit der linken Hand gedankenverloren ihren langen Zopf nach unten.
"Jetzt muss ich wieder an Mum schreiben, dass sie mir hilft und das dauert wieder zwei Tage.", meinte sie genervt. "Es ist einfach extrem anstrengend, ein Buch so zu lesen."
"Niemand zwingt dich, ein Buch auf Russisch zu lesen.", wandte Vicky ein.
"Aber es ist ein großartiges Buch und wert, es im Original zu lesen.", erklärte Rain. "Außerdem sprechen meine Eltern beide Russisch und du kannst dir nicht vorstellen, wie nervig es ist, dass sie sich unterhalten können ohne dass ich weiß, worum es geht."
"Ich kann es mir vorstellen." Sophia sah jetzt von ihrem Verwandlungsaufsatz auf. "Meine Eltern sprechen auch beide arabisch, aber ich habe es nie gelernt. Wäre ich ein bisschen motivierter, diese komischen Buchstaben zu lernen, würde ich deinem Beispiel folgen."
"Du bist eine Ravenclaw, sollte es nicht in deiner Natur liegen, Dinge lernen zu wollen?", fragte Cathy, eine Gryffindor aus ihrem Verwandlungskurs.
"Schon, aber hast du dir mal das arabische Alphabet angeschaut?" Sophia stellte ihre Feder ins Tintenglas. "Da gibt es fünf unterschiedliche Zeichen, die alle wie das englische th ausgesprochen werden, aber eben doch irgendwie unterschiedlich. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, da durch zu sehen."
Cathy zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Rain zu.
"Also, wenn du Probleme mit Russisch hast, frag doch mal Natasha.", schlug sie vor. Rain runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, eine Natasha zu kennen und sie kannte die Leute in ihrem Jahrgang, ebenso, wie die meisten Ravenclaws.
"Wen?", stellte jetzt Vicky die Frage, die Rain hatte vermeiden wollen.
"Natasha.", wiederholte Cathy. "Sie ist im Jahrgang unter uns, in Gryffindor. Sie ist Russin, deshalb habe ich auch keine Ahnung, wie man ihren Nachnamen ausspricht."
"Ich wusste gar nicht, dass wir ausländische Schüler an der Schule haben." Vicky seufzte.
"Halloho?" Sophia wedelte mit der Hand und deutete an sich herunter. Vicky verdrehte die Augen.
"Du zählst nicht. Du warst nie in Tunesien.", meinte sie.
"Libyen.", korrigierte Sophia.
"Afrika.", fasste Vicky es zusammen. "Wie auch immer."
"Leute, könnten wir bitte auf Natasha zurückkommen?", rief Rain ihre Freundinnen zur Ordnung.
"Ja, also...", druckste Cathy herum. "Natasha. Sie ist seltsam. Hängt viel alleine rum."
"Ist sie so schüchtern oder was?", fragte Sophia und legte ihre Feder weg.
"Nein, im Gegenteil. Sie ist extrem selbstbewusst. Sie redet nicht viel, aber wenn, dann in einem gigantischen Tempo, und sie macht sich ständig irgendwelche Notizen, dauernd, überall hin und immer in russischen Buchstaben. Sie ist einfach anders und deshalb macht sie den meisten Leuten ein bisschen Angst.", erzählte Cathy. In diesem Moment tauchte Asha schlitternd hinter dem nächsten Regal auf, schmiss ihre Tasche auf einen freien Stuhl und ließ sich alles andere als elegant neben Rain nieder.
"Angst machen? Um wen geht's?", fragte sie, leicht außer Atem.
"Natasha, kennst du wahrscheinlich nicht.", erklärte Cathy.
"Aber hallo, du sprichst doch nicht etwa von Natasha der Unausprechlichen?" Asha grinste. "Sie hat einen Namen für ihr Ohr und wie man sagt auch für andere Körperteile..." Ihre Augenbrauen wackelten anzüglich. "Und sie schaut dir nie direkt in die Augen!"
"Ganz genau." Cathy zeigte mit dem Finger auf Asha. "Das ist so gruselig. Außerdem hat sie ihren Zauberstab bemalt! Bemalt!"
Vicky prustete los.
"Ihren Zauberstab?", kicherte sie. Rain runzelte die Stirn. Dann stand sie ruckartig auf. Asha und Cathy verstummten in ihren haarsträubenden Geschichten über das Mädchen.
"Ich frag sie einfach.", erklärte Rain. "Und mache mir selbst ein Bild, wie gruselig sie ist."
Sophia nickte zufrieden mit dem Kopf und schob eine Stecknadel zurück, die aus ihrem Hijab gerutscht war. Nichts anderes hatte sie von ihrer Freundin erwartet. Es erleichterte sie, dass es wenigstens ein Mädchen in ihrem Schlafsaal gab, welche nicht auf ungefilterten Klatsch hörte.
"Irgendwelche Ideen, wo ich sie finden könnte?", fragte Rain in die Runde.
"Der Verbotene Wald.", schlug Asha vor.
"Oder sie baut sich ein Baumhaus in der peitschenden Weide.", ergänzte Cathy und die beiden lachten.
"Dann also nicht.", meinte Rain leise zu sich selbst. Sie mochte Asha wirklich gern, aber ihr Mangel an Ernsthaftigkeit raubte ihr oft einfach den letzten Nerv. Seufzend griff sie nach ihrem Roman, ihrem Wörterbuch und ihrem Bleistift, bevor sie die arme Sophia bei den kichernden Mädchen zurückließ.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro