31. Dezember 2016
St. Petersburg
Arina Fjodorowna Droochkaja stand im Flur im ersten Stockwerk eines Einfamilienhauses am Rand von St. Petersburg. Sie war, wie alle Frauen ihrer Familie, nicht besonders groß, dafür aber stämmig gebaut und sie hatte dicke, dunkle Locken. In ihren bernsteinfarbenen Augen lag Entschlossenheit, als sie an die Tür klopfte, vor der sie die letzten paar Minuten gestanden hatte.
Im Zimmer waren dumpfe Geräusche zu hören, als sich ihre darin befindliche 15-jährige Schwester aus dem Bett schälte und dann zur Tür kam.
"Ja?", fragte sie und blickte durch den Türspalt. Arina senkte die Hand, die sie noch immer zum Klopfen erhoben hatte.
"Kann ich reinkommen?", fragte sie, leise, aber fordernd. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie dieses Gespräch führen wollte und jetzt, da sie sich einmal dazu entschlossen hatte, würde sie den Teufel tun und wieder umdrehen. "Ich würde gerne mit dir reden."
Ihre Schwester seufzte.
"Muss es jetzt sein? Ich bin müde.", murmelte sie leise.
"Du bist die ganze Zeit müde.", erklärte Arina und schob sich jetzt beinahe gewaltsam in den Raum hinein. Darin war es dunkel und stickig. Eilig schritt sie zum Fenster, zog die Vorhänge auf und öffnete es, sodass eisige Winterluft in den Raum strömte. Ihre Schwester hatte sich bereits wieder unter ihre Bettdecke verzogen und die Decke eng um ihre Schultern gezogen. Arina setzte sich auf die Bettkante. Leise sagte sie:
"Natasha. So geht das nicht weiter." Sanft strich sie über die verfilzten Haare ihrer Schwester. "Komm mit runter."
Natasha nickte ergeben. Arina war erleichtert. Sie wusste nicht, ob Natasha tatsächlich bereit war, zu reden oder ob sie einfach aus dem eisig kalten Zimmer fliehen wollte, aber in jedem Fall war es ein Fortschritt. Bestimmt dirigierte sie ihre Schwester ins Wohnzimmer, wo sie ihr einen Tee und einige Schokoladenkekse vorsetzte.
"Iss. Du brauchst Zucker.", meinte sie und setzte sich ihr gegenüber. Natasha trug einen dicken Pullover. Er war hellblau, sah selbstgestrickt aus und hatte ein orangenes R auf der Brust. Arina hatte ihn noch nie gesehen, aber sie sah Natasha so selten, dass sie um ehrlich zu sein auch keinen wirklichen Überblick über ihren Kleiderschrank hatte.
Natasha nahm sich einen Keks und begann, daran herumzuknabbern. Erst jetzt bemerkte Arina, dass Natashas Haare verfilzt waren, von ihren vielen kleinen Zöpfen war nichts mehr zu sehen. Offenbar hatte ihre Schwester sie aufgedröselt.
"Was hast du mit deinen Haaren gemacht?", fragte sie, um ihre Neugier zu befriedigen, aber auch um ein Gespräch anzufangen.
"Wo sind die anderen?", gab Natasha eine Gegenfrage zurück.
"Schon bei den Pasklovs für Grischas Geburtstag und Silvester.", beantwortete Arina ihre zuerst, in der Hoffnung, Natasha würde es ihr gleichtun. Leider war es anders.
"Warum bist du nicht auch da?", wollte Natasha wissen.
"Ich wollte nicht, dass du das Jahr allein beginnst. Und deinen Geburtstag. Außerdem dachte ich, das wir mal wieder Zeit als Schwestern verbringen könnten.", erklärte Arina also heiterer als ihr eigentlich zumute war. Kurz war es still, dann meinte Natasha:
"Mein Therapeut hat gesagt, dass ich sie rausmachen soll, um weiblicher zu werden."
Arina verschluckte sich an ihrem Tee.
"Und wenn dein Therapeut sagt, dass du von einer Brücke springen sollst, machst du das dann auch?", fragte sie anklagend, sobald sie wieder reden konnte. Natasha zuckte unsicher mit den Schultern. Arina richtete sich auf und blickte ihr direkt in die Augen.
"Natalija.", sagte sie ernst. "Es ist wichtig, dass du mir jetzt ganz genau zuhörst." Natasha starrte sie an. "Es ist nichts falsch an dir, hörst du? Du bist gut so, wie du bist. Mit deinen Locken und Iljitsch und deiner Schreiberei und deinem Charakter und auch mit deiner Sexualität. Ich weiß nicht, warum du denkst, dass es etwas Schlimmes ist. Aber was auch immer der Grund ist, es stimmt nicht. Okay? Du bist gut, so wie du bist. Und ich bin sicher, Reagan sieht das auch so."
Natasha sah sie unverändert an. Kein Muskel bewegte sich in ihrem Gesicht, und Arina hatte schon den Verdacht, dass sie ihr gar nicht zugehört hatte, als sie sagte:
"Rain."
"Wie bitte?" Arina blinzelte verwirrt.
"Sie heißt Rain, nicht Reagan.", erklärte Natasha. Arina musste lächeln.
"Rain.", wiederholte sie. "Klingt nach einem wirklich netten Mädchen. Zumindest von dem, was Grischa mir von ihr erzählt hat. Er sagt, dass er verstehen kann, wieso du sie so gern hast."
Natasha schwieg. Arina ebenfalls, um ihr etwas Zeit zum Nachdenken zu geben.
"Es fühlt sich einfach an, als wäre ich die einzige.", brach Natasha dann die Stille. "Warum ich? Warum muss ich so sein? Warum kann sich nicht Grischa in sie verlieben? Mein Therapeut zeigt mir Bilder von Männern und sagt, dass ich nur genau hinschauen muss, mich nur konzentrieren muss, aber ich fühle...nichts, egal wie sehr ich es will."
Eine Welle Mitleid mit ihrer Schwester überrollte Arina. Sie konnte sie gut verstehen. Jetzt ging es ihr leicht über die Lippen, es war einfach jemandem zu sagen, dass er sich selbst akzeptieren sollte. Aber es war so viel schwerer, es zu denken.
"Natasha, ich denke, du solltest diese Therapie abbrechen.", schlug sie sanft vor, nicht wissend, wie Natasha reagieren würde. "Ich denke, sie schadet dir mehr, als sie dir hilft. Du bist jetzt seit vier Wochen hier und arbeitest daran und es hatte keine Wirkung, außer, dass du mit jedem Tag tiefer in deine Depressionen rutschst."
"Ich bin nicht depressiv!", verteidigte sich Natasha sofort. Arina schüttelte den Kopf.
"Nein, bist du nicht. Aber du bist kurz davor, siehst du das nicht?"
Natasha schniefte.
"Du hast recht.", flüsterte sie. "Ich will das nicht mehr." Dann wurde ihre Stimme lauter. "Aber wenn ich jetzt aufhöre, dann habe ich einen ganzen Monat verschwendet."
Arina stand auf und setzte sich neben sie.
"So darfst du nicht denken. Du hast einen Monat gebraucht, um zu erkennen, dass du dich nicht einfach davon heilen kannst. Das hast du doch erkannt, oder?"
Natasha nickte ergeben. Arina sah, dass sie nicht ganz so überzeugt war, wie sie vorgab zu sein, aber es reichte ihr.
"Dann kannst du jetzt anfangen zu lernen, dich selbst so zu nehmen, wie du bist.", erklärte sie. Natasha schnaubte zynisch.
"Wie lange dauert sowas denn?", fragte sie dann. Jetzt musste Arina lachen.
"Na das nenne ich mal einen Stimmungsumschwung.", witzelte sie, aber innerlich gab sie sich selbst hundert High-Fives. Und noch mal hundert, als sie das kleine Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester sah. "Es wird dauern. Aber du schaffst das. Okay?"
Natasha nickte.
"Okay.", meinte sie und es war zwar unsicher, aber Arina hörte, dass es ernst gemeint war. Natasha rappelte sich auf und sah dann etwas zögerlich zu ihrer älteren Schwester.
"Meinst du, es ist zu spät, noch zu den anderen zu fahren?", fragte sie schüchtern. Auf Arinas Gesicht breitete sich ein großes Lächeln aus.
"Auf keinen Fall. Aber du musst duschen, du riechst, als hättest du dich seit Weihnachten nicht gewaschen."
Natasha streckte ihr die Zunge heraus und sprang auf, um ins Bad zu gehen. Gerade war sie an der Tür, da hielt ihre Schwester sie auf:
"Achso. Wenn du dich das nächste Mal allein fühlst, dann solltest du in Hogwarts mal im Westflügel im vierten Stock das eine Gemälde suchen. Mit dem Schiff darauf. Am Bug steht ein Mann, er streckt die Hand aus. Das ist so ein Muggelgemälde, er bewegt sich also nicht. Aber du kannst ja mal deine Hand auf seine legen. Am besten dienstags, so gegen sechs Uhr abends."
Natasha wunderte sich über die spezifische Beschreibung.
"Und was ist da?", fragte sie, obwohl sie ganz genau wusste, dass Arina ihr es nicht verraten würde. Sie hatte recht, ihre Schwester lächelte nur geheimnisvoll.
So, das war ja jetzt mal eine ganz neue Sicht. Gefällt sie euch?
Jetzt haben wir ganz schön lange um den heißen Brei herumgeredet - wird Zeit, dass Rain und Natasha mal wieder aufeinander treffen, nicht?
Und was könnte es mit diesem Gemälde auf sich haben? Ich freue mich auf eure Spekulationen!
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