27. November 2016
In den nächsten Wochen bemerkte Rain, dass Natasha zunehmend abwesender wurde. Momente, in denen sie tatsächlich wirklich unbeschwert Zeit miteinander verbrachten wurden immer seltener. Zunächst schob sie es auf den zunehmenden Prüfungsstress, schließlich rückte Weihnachten immer näher und Natasha war nun mal im ZAG-Jahr. Rain erinnerte sich gut an den Stress, der ihr letztes Jahr zuteil geworden war.
Aber je mehr Zeit verstrich, desto mehr beschlich sie das Gefühl, dass Natasha ihr etwas verheimlichte. Etwas beschäftigte sie. Und die Tatsache, dass sie offenbar noch nicht auf einer Freundschaftsebene angekommen waren, wo man über so etwas reden konnte, traf sie mehr, als es sollte.
Ja, sie kannten sich erst seit einigen Monaten, aber dennoch empfand Rain ihre Freundschaft als anders, als die, die sie mit ihren Mitbewohnerinnen oder Cousins hatte. Während sie die anderen oftmals auch mal auf Abstand brauchte, zum Beispiel, wenn Asha wieder ins Lästern geriet, Vicky in einer sehr Teddy-lastigen Stimmung war und Sophia wieder einen ihrer philosophischen Tage hatte – da hatte sie bei Natasha nur den Wunsch, so viel Zeit wie möglich gemeinsam zu verbringen. Sie wollte dieses Mädchen besser kennen lernen, alle ihre Kanten, von denen sie mittlerweile wusste, dass es wirklich einige waren.
Und gerade deshalb störte es sie noch mehr, dass sie jetzt das Gefühl hatte, dass Natasha ihr absichtlich auszuweichen schien.
Heute jedoch war von alledem ausnahmsweise nichts zu merken. Es war ein kalter Novembertag und man konnte in der Luft schon spüren, dass es bald schneien würde – denn das tat es hier in den schottischen Bergen nach wie vor zuverlässig jeden Winter. Wieder einmal verfluchte Rain die Tatsache, dass es so etwas wie einen gemeinsamen Gemeinschaftsraum für alle Häuser nicht gab, denn obwohl mittlerweile alle dem Beispiel der Hufflepuffs gefolgt waren und ihre Gemeinschaftsräume auch den anderen Schülern geöffnet hatten, fühlte sich kaum jemand dort wohl. Die alten Klischees steckten zu tief in den Knochen, um sie wirklich so schnell abzulegen.
Glücklicherweise waren Rain und Natasha keineswegs die einzige häuserübergreifende Freundschaft und so hatte Madam Pince, die es leid war, dass sich die Schüler ständig in der Bibliothek trafen und somit „die anderen Schüler vom Lernen abhielten" in Abstimmung mit der Schulleitung einen Teil der Bibliothek (die Roman-/Poesie- und Dramaabteilung) durch eine schnell errichtete magische Barriere in einen gemütlichen Gemeinschaftsraum verwandelt, in dem man, unter Aufsicht, nachmittags zwischen fünf und sechs sogar Tee trinken durfte.
Genau dort hatten Rain und Natasha heute einen Sessel ergattert. Tatsächlich nur einen, aber sie hatten beschlossen, er war ausreichend und so hatten sie sich gemeinsam hineingequetscht.
„Gut, dass wir beide dünn sind.", meinte Rain scherzhaft. Sie saß trotzdem praktisch auf Natashas Schoß. Die versuchte noch, ihre Zöpfe aus Rains Gesicht, Haaren und Kleidung zu ziehen und irgendwie zu ordnen. „Haargummi?", bot Rain an. Natasha nahm es dankend, scheiterte dann jedoch daran, ihren Arm unter Rain hervor zu bekommen.
„Soll ich?", fragte Rain grinsend, die von ihrer Position einen sehr viel besseren Zugang zu Natashas Frisur hatte.
„Du kannst auch einfach kurz aufstehen und ich mache es selbst.", erwiderte Natasha.
„Ach was, ich sitze gerade so bequem.", meinte Rain und sammelte nun vorsichtig die einzelnen Zöpfe zusammen, bevor sie sie mit dem Gummi zusammenband. Natasha ließ das alles schweigend über sich ergehen.
„Oh!", meinte Rain, als sie fertig war. „Ich habe übrigens etwas gefunden."
Natasha runzelte die Stirn, als Rain herumrutschte und ihr, beim Versuch, an ihre Hosentasche zu kommen, zweimal den Ellbogen in die Seite stieß.
„Du weißt ja, dass ich hin und wieder von meinem Dad Muggelzeitungen geschickt bekomme.", erzählte sie.
„Ja.", antwortete Natasha. „Weil du wissen willst, was in der Muggelwelt so vorgeht. Der orangene Mann und die Klimaabkühlung."
„Klimaerwärmung.", korrigierte Rain. „Und ganz genau."
„Wie auch immer.", murmelte Natasha, der die Geschehnisse in der Zaubererwelt schon ziemlich egal waren.
„Auf jeden Fall war da eine Anzeige.", berichtete Rain strahlend und hielt Natasha einen zusammengeknüllten Zeitungsausschnitt vor die Nase. Die entfaltete ihn, so gut es mit einer Hand eben ging.
„Sommerschule für begabte junge Autoren", las sie vor. „Tipps fürs Veröffentlichen, Treffen mit Verlagsvertretern und Herausgebern von Gedichtbänden, Schreibwerkstätten und Autorengruppen, Vorträge von veröffentlichten Autoren und persönliches Coaching."
Mit jedem Wort, das sie las, wurden ihre Augen größer. Rain musste unwillkürlich lächeln. Sie hatte beim Lesen der Anzeige sofort an ihre Freundin denken müssen. Wann immer Natasha nicht gerade mit jemandem redete, quollen ununterbrochen Worte aus ihrer Feder. Rain hatte sie Seitenlange Gedichte in wenigen Stunden schreiben sehen. Es waren hauptsächlich Gedichte auf Englisch und Russisch und Rain hatte nie eines vollständig gelesen, aber die Ausschnitte, auf die sie während ihrer gemeinsamen Arbeitszeit einen Blick erhaschen konnte, hatten sie zum Nachdenken gebracht, ihr die Tränen in die Augen getrieben und sie teilweise tief erschüttert.
Grischa hatte außerdem einmal fallen gelassen, dass es Natashas Traum war, eigene Gedichtbände zu veröffentlichen.
„Aber ist das nicht nur für Muggel?", riss Natasha Rain aus ihren Gedanken.
„Du musst da ja niemandem auf die Nase binden, dass du eine Hexe bist. Außerdem macht das in einer Schreibwerkstatt nun wirklich keinen Unterschied.", argumentierte Rain.
„Aber ich wohne in St. Petersburg.", meinte Natasha. „Wie soll ich denn eine Woche lang jeden Tag nach London kommen? Apparieren kann ich nicht und flohen ist zu weit!"
„Es gibt Portschlüssel.", warf Rain ein. „Oder aber du kennst zufällig jemanden, der in London wohnt und bei dem du übernachten könntest."
„Meine Eltern bezahlen mir das niemals, die halten nicht viel von meiner Schreiberei." Natasha seufzte. „Es ist wirklich verlockend und ich könnte mir nichts besseres vorstellen. Aber es ist total unrealistisch."
„Und es ist kostenlos." Rain deutete auf das Kleingedruckte. „Für die, die angenommen werden."
Natasha schwieg. Rain konnte sehen, wie sie innerlich einen Kampf ausfocht.
„Nein, das geht nicht.", sagte sie schließlich.
„Ich meine, es ist eh mit Bewerbung.", lockte Rain. „Man kann es ja mal versuchen. Vielleicht nehmen sie dich ja gar nicht?"
„Dann lohnt es sich doch gar nicht."
Kurz war es still.
„Ich finde, du solltest es versuchen.", sagte Rain schließlich. Natasha sagte nichts. Sie sah Rain unvermindert an, in ihren Augen lag etwas Undefinierbares. Es war...Sehnsucht, aber auch Trauer. Und Verbitterung, aber gleichzeitig auch etwas unglaublich Schönes. Rain wusste nicht, warum, aber der Blick machte sie unglaublich traurig. Er gehörte zu der Sache, über die Natasha nicht sprach.
„Ist alles ok?", fragte sie leise. Natasha erwachte wie aus einer Trance und wischte sich schnell über die Augen. Dann nickte sie.
„Ich muss jetzt los. Ich habe noch einen ellenlangen Aufsatz bis morgen.", sagte sie dann und rappelte sich hoch.
Rain stand auf, um sie rauszulassen und sah ihre dann hinterher, als sie eilig verschwand. Irgendetwas war nicht in Ordnung, wenn sie nur wüsste, was! Dieses Etwas bereitete Rain offensichtlich eine Heidenangst. Und das bereitete Rain eine Heidenangst, denn was konnte so schlimm sein, dass es Natasha Drjoochkaja Angst machte?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro