
24. Januar 2017
Am Dienstagnachmittag folgte Rain Natasha eilig durch das Schloss. Es war fast sechs Uhr abends und sie hatte keine Ahnung, wo Natasha hin wollte, aber sie hetzte durch die Korridore des Westflügels im vierten Stock.
"Wonach genau suchen wir?", fragte Rain seufzend, als ihre Freundin um die nächste Ecke stob.
"Ein Gemälde, ein Muggelgemälde." Natashas Augen scannten die Portraits an den Wänden des Ganges. "Da ist ein Schiff drauf, am Bug steht ein Mann, der seine Hand ausstreckt."
"Da sind wir vor zehn Minuten dran vorbeigelaufen.", klagte Rain. Das wusste sie so genau, weil es ihr aufgefallen war, mit dem Meer, dass so realistisch stürmisch war, obwohl es sich im Gegensatz zu den anderen nicht mal tatsächlich bewegte.
"Was, echt?" Natasha hielt in ihrer Suche inne. "Na dann, auf zurück!"
Sie stürmte in die entgegengesetzte Richtung los und Rain beeilte sich, ihr zu folgen. Sie fühlte sich ein bisschen, wie ein Herrchen, das seinem verrückt gewordenen Hund hinterher lief.
"Natasha, warum ist dieses Gemälde so wichtig?", fragte sie erneut, auch wenn sie keine ernsthafte Antwort erwartete - warum sollte sich daran in der letzten Viertelstunde was verändert haben.
"Weiß ich nicht.", gab Natasha jetzt fröhlich zurück und Rain verdrehte die Augen.
"Da vorne ist es." Sie deutete auf das Bild, welches ihr auch beim zweiten Mal hinsehen wieder ins Auge stach und gefiel.
Natasha blieb davor stehen und musterte es, bevor sie nickte. Rain erreichte sie einige Sekunden später, etwas außer Atem.
"Verrätst du mir jetzt, was wir hier wollen?", fragte sie anklagend.
"Also, meine Schwester hat mir den Tipp gegeben, hier mal vorbeizuschauen. Eigentlich hat sie gesagt, wenn ich mich wieder alleine fühle, aber ich wollte nicht allein gehen.", berichtete Natasha leise.
"Ok." Rain blinzelte. Das war...nett? "Hat sie sonst noch irgendwas gesagt?"
Natasha schüttelte den Kopf und hob ihre Hand, bevor sie sie vorsichtig auf die Hand des Matrosen legte. Wie zu einem High Five, schoss es Rain durch den Kopf und sie musste lächeln.
Gespannt warteten die Mädchen einige Sekunden. Nichts geschah. Dann schwang das Portrait auf einmal nach vorn und gab den Blick auf einen schmalen Gang frei. Rain und Natasha tauschten einen kurzen Blick, dann kletterten sie hinein, erst Natasha, dann Rain.
Der Gang war wenige Meter lang, dann knickte er ab und endete in einem Raum. Natasha konnte ihn zuerst sehen und blieb überrascht stehen.
"Was ist?", drängelte Rain hinter ihr. Das riss Natasha aus ihrer Schockstarre und sie stieg aus dem Gang, den Weg für Rain freimachend, der jetzt ihrerseits ein klein wenig die Kinnlade herunterklappte.
Der Raum war nicht besonders groß, vielleicht halb so groß, wie ein Gemeinschaftsraum. Er war hell erleuchtet und kaum dass sie aus dem Gang heraustraten, konnten Rain und Natasha auch das Geschnatter der Gespräche hören, Musik im Hintergrund. Die Dekoration war...bunt. Von Hausfarben war keine Spur zu sehen und Rain war erleichtert darüber, dass sie keine Schuluniform mehr trug.
Halb im Scherz streckte Natasha ihre Hand aus, um Rain galant die zwei Stufen aus dem Gang in den Raum hinein zu helfen. Diese ergriff sie und musste ein wenig grinsen.
"Was ist das hier?", fragte Rain leise, aber Natasha zuckte nur mit den Schultern. Das hatte Arina ihr auch nicht verraten. Etwas hilflos standen die beiden einige Augenblicke im Eingang, bis sich jemand zwischen den Schülern hindurch auf sie zubewegte. Er war vermutlich etwas jünger als sie, vielleicht vierzehn, aber er bewegte sich hier sicher und selbstbewusst.
"Hey, seid ihr neu?", fragte er, obwohl es vermutlich eindeutig war. Rain und Natasha nickten. "Ich bin Ian, herzlich Willkommen im Safe Space."
"Safe Space?", fragte Rain, wurde sich aber schlagartig bewusst, wie dumm diese Frage gewesen war. "Ähm, tut mir leid, wir sind mehr durch Zufall hier reingeraten und..."
Ian grinste.
"Ja, das geht den meisten so. Wollt ihr was trinken?", fragte er und deutete auf eine Art Bar, die Rain bisher noch nicht aufgefallen war. Natasha nickte für sie beide und sie folgten dem Jungen durch den Raum. Rain überlegte, in welchem Jahrgang er wohl war, aber sie traute sich nicht, zu fragen.
"Also, wer seid ihr?", wollte Ian neugierig wissen, als sie die Bar erreicht hatten und auf einigen Hockern Platz nahmen. "Und denkt dran, aus diesem Raum kommt nichts nach draußen, wenn ihr also andere Namen oder Pronomen benutzen wollt, ist hier der richtige Ort." Er wirkte fröhlich, während er hinter der Bar verschwand und begann, ihnen eine Art Cocktail zusammenzumischen.
"Andere Pronomen?", stellte diesmal Natasha die Frage, die ihnen beiden auf der Zunge lag. Ian sah auf und lächelte noch breiter.
"Ihr seid hier im Safe Space. Das hier ist ein sicherer Rückzugsort für alle Schüler der LGBTQ-Gemeinschaft.", erklärte er. "Wer Hilfe braucht, oder reden will oder einfach das Gefühl hat, allein zu sein, für den ist das hier ein Ort, wo wir uns treffen und austauschen. Klassischerweise dienstags, aber im Grunde ist die Tür immer offen." Er wandte sich wieder ihren Gläsern zu. "Ich weiß immer noch nicht eure Namen.", erinnerte er sie dann, jedoch mit einem scherzhaften Unterton.
"Rain Granger.", sagte Rain, da Natasha immer noch zu überfordert schien, um überhaupt irgendwas zu sagen.
"Das hier ist eine strikt nachnamenfreie Zone.", merkte Ian an. "Genau wie Häuser. Das hier soll ein Raum für alle sein, deshalb haben wir uns so geeinigt. Ok?"
Rain nickte und ärgerte sich, dass sie schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten war. Jetzt stellte sich Natasha auch noch vor.
"Na dann, Willkommen Rain und Natasha." Ian stellte, noch immer mit einem breiten Lächeln ihre Getränke vor sie hin. "Unser Rainbow Special. Natürlich alkoholfrei, diesen Fehler haben wir nur einmal gemacht." Er zwinkerte.
Rain nahm den Cocktail dankend entgegen, war aber ebenso wie Natasha noch immer ein bisschen misstrauisch. Sie hatte noch nie etwas so buntes getrunken. Vorsichtig nahm sie einen Schluck. Es schmeckte überraschend gut. Und sehr bunt. Konnte etwas bunt schmecken? Dieses tat es auf jeden Fall.
"Müssen wir sonst noch irgendwas beachten?", fragte Rain dann, einfach um sicher zu gehen, dass sie nicht noch eine Regel unwissentlich brach. Ian zuckte mit den Schultern.
"Unser Motto lautet Respektieren und respektiert werden.", erklärte er. "Und wie ich schon sagte, was hier drin passiert wird nicht nach draußen getragen. Die meisten Schüler hatten noch kein Coming Out, also nehmt ihnen das nicht ab, ok?"
Rain und Natasha nickten eilig und Natasha sah sich verstohlen um.
"Also sind alle hier...?" Sie ließ das Ende ihrer Frage offen, aber Ian verstand und nickte.
"Schwul, oder lesbisch. Viele auch bi oder pan. Es gibt auch ein paar Aces und Demis. Und eine ganze Reihe von trans oder non-binary Personen.", erzählte er. "Ihr könnt euch ja einfach mal mit ein paar Leuten unterhalten, die meisten kommen ja extra zum Reden her. Ihr wirkt noch recht neu in der Szene. Seid ihr erst seit kurzem zusammen?"
Rain und Natasha tauschten einen unsicheren Blick. Er dachte sie waren zusammen?
"Wir...wir sind nicht zusammen.", beeilte sich Rain zu sagen und Natasha schüttelte zustimmend den Kopf. Ians Grinsen wurde wieder breiter und er nickte wissend.
"Tut mir leid.", entschuldigte er sich, aber in seinen Augen blitzte der Schalk, den Rain nicht ganz verstand. "Na gut, ich gehe mal zu meinen Leuten zurück, bedient euch einfach an Getränken, die Hauselfen sind sehr großzügig was das Auffüllen angeht." Er zwinkerte ihnen noch einmal zu und verschwand dann zu der Gruppe, aus der er sich ursprünglich mal gelöst hatte. Im Gehen warf ihnen noch einen bedeutenden Blick zu, von dem Rain nicht sicher war, ob sie die Aussage dahinter verstand.
Rain und Natasha blieben allein und etwas hilflos an der Bar zurück.
Was denkt ihr? Coole Idee oder viel zu weit hergeholt? Und wie geht es bei Rain und Natasha gedanklich weiter, wenn sie jetzt die Gelegenheit bekommen, über diese ganze Sache mit Gleichgesinnten zu reden? (Gleichgesinnte? Wer sagt denn was von Gleichgesinnten - Rain hält sich ja immer noch für straight...)
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