7 - Steinschlag
Der dritte trockene Tag in Folge begrüsste die Schafe auf der Wiese hoch über den Bauernhäusern, auf den Weiden am Hohgant. Die Sonne beleuchtete den obersten Kamm des Berges, die Häuser lagen noch im Schatten. Aus einigen Kaminen quoll weisser Rauch, denn die Nächte waren bereits kühl, und die Bewohner wollten die Sommerwärme in ihren Häusern behalten.
Klara und Sepp sassen beim Frühstück. Sie genoss ihre Cerealien mit Waldbeeren, währenddessen er sein Honigbrot bevorzugte. Beide waren guter Dinge.
"Gehst du heute auf deine Klettertour? Das Wetter ist prächtig und die Routen sind bestimmt trocken."
"Ja, heute ist mein Tag. Ich freue mich."
"Wo gehst du los?"
"Ich denke, von der Schwarzenegg aus. Meine Lieblingsroute, du weisst schon."
"Das ist gut! Dann kann ich dir von unten winken, wenn ich bei den Schafen bin. Ich werde ein Fernglas mitnehmen, dann kann ich dir zusehen."
"Unterstehe dich! Du weisst, dass ich es hasse, wenn man mir zuschaut! - Ganz abgesehen davon wolltest du doch das Kinderzimmer planen. Du hast also keine Zeit, kletternde Sportlerinnen zu beobachten." Klara zwinkerte ihrem Mann zu.
"Versprichst du mir, auf den vorgesteckten Routen zu bleiben? Ich wünschte mir, du würdest heute keine Action-Stunts ausprobieren, wenn du allein klettern gehst."
Klara küsste Sepp und umarmte ihn. "Ja, mein Schatz, ich verspreche dir zum hundertsten Mal, vorsichtig zu sein. Du kennst die Routen, wir sind sie tausendfach gemeinsam gegangen. Wir haben sie gesteckt - es sind unsere Routen."
"Ich meine ja nur. Ich bin etwas beunruhigt. Du nimmst da unser Töchterchen mit."
"Wer sagt, dass es ein Töchterchen wird? Ich hoffe, es wird ein Sohn, denn eine Tochter würde aus dir den gleichen Eifersuchtsbock machen, wie der Toni da oben."
Über diesen Witz mussten sie beide lachen. "Wann wirst du zurück sein?"
"Nicht zu spät. Patrizia, die Polizistin, hat sich gestern noch gemeldet. Sie will sich heute mit mir im Kemmeriboden treffen, wir wollen endlich über die alten Zeiten quatschen. Anstossen können wir nur mit Sirup, aber das ist egal. Ich freue mich, dass eine Schulkollegin jetzt unsere Polizei ist. Da fühle ich mich gleich viel sicherer."
"Dann sehen wir uns noch vorher. Das ist gut. Nun muss ich zu den Schafen. Ich wünsche dir einen tollen Klettertag, mein Rockgirl!" Sepp küsste sie noch einmal. Danach kletterte er in seinen Jeep und fuhr weg.
Klara pfiff fröhlich zur Musik aus dem Radio - irgendwas von Pink Floyd; dass dabei die meisten Töne nicht zur Harmonie passten, störte sie nicht. Sie hatte ein gutes Gefühl im Bauch und das war an diesem Morgen alles, was zählte. Sie kontrollierte ihre Ausrüstung.
Sehr konzentriert tastete sie jeden Millimeter Seil ab, prüfte es auf kleinste Risse und spröde Stellen. Danach verfuhr sie gleich mit dem Gurt und den Karabinern sowie den Achtern. Zufrieden stellte sie fest, dass die Ausrüstung in perfektem Zustand war. Klara legte alles sorgsam in den Rucksack, packte das Pulver dazu, die Kletterschuhe, den Helm und ihre Handschoner.
Die Haustüre zog sie nur zu, den Schlüssel hatte sie im Haus gelassen. Die wenigsten Häuser wurden hier abgeschlossen. Wozu auch, alle, die sich hierher verirrten, waren Familie, Nachbarn oder Freunde, und für sie musste man nicht abschliessen.
Klara stieg in ihren kleinen Wagen und fuhr los, talaufwärts, damit sie den Kamm umrunden konnte. Auf der Südseite des Hohgants war der Berg sanft ansteigend, man konnte mit dem Auto bis zu der Alp Steinige Matte fahren, beim Schwarzbach gab es einen Parkplatz für Wanderer und Kletterer.
Klara stellte den Wagen auf den Kiesplatz, schnallte den Rucksack fest und wanderte entschlossenen Schrittes bergan. Die Sonne kam auf dieser Seite noch nicht über den Kamm. Weil sich Klara jedoch bewegte, fröstelte es sie nicht. Auch hier pfiff sie fröhlich falsch vor sich hin, grüsste alle Bauern, die sie traf und wechselte da und dort einige Worte mit ihnen. Man kannte und liebte sie, die engagierte Macherin, welche Projekte für den Tourismus ausdachte und verwirklichte.
Auf halbem Weg erblickte sie einen schwarzen Geländewagen am Waldrand stehen und ärgerte sich über diesen Touristen, der sich nicht an die Parkordnung hielt. Normalerweise gab es das bloss im Sommer, wenn der Parkplatz vollgestellt war. Da sie heute anderes vorhatte, nahm sie sich nicht die Zeit, das Kennzeichen zu fotografieren, was sie an einem normalen Tag getan hätte. Heute zog es sie auf den Berg.
Oben angelangt setzte sich Klara zuerst bloss hin. Sie blickte in die Tiefe, schaute in die Weite, genoss die friedliche Ruhe auf dem Kamm des Berges. Heute wollte sie zuerst absteigen, damit sie ihre letzte Tour vor der langen Schwangerschaftspause mit einem Aufstieg abschliessen konnte. Klara zog die frische Morgenluft ein, dann öffnete sie ihren Rucksack und legte ihre Ausrüstung bereit.
***
Jim und Kari hatten heute vier Kajaks mitgenommen, ohne Anhänger, drei davon lagen im Gras. "Schaffst du das? Allein mit den zwei Frauen?" Der bärtige Teamleiter strahlte seinen Guide an.
"Es sind zwei Polizistinnen! So sicher habe ich mich noch nie gefühlt."
"Schon, aber die eine liegt dir sehr am Herzen. Das lenkt ab."
Jim musste lachen, weil er wusste, dass sein Partner damit richtig lag. "Ich werde auf beide aufpassen, versprochen."
"Das will ich auch schwer hoffen. Guck, da kommen sie."
Patrizia hatte mit Rebecca mitfahren dürfen. Die junge Kollegin parkte ihren Wagen auf dem Gras. "Hallo, ihr beiden. Wir sind ziemlich nervös, kann ich euch sagen."
Kari begrüsste zuerst Patrizia, dann Rebecca, weil Jim sich sofort der jungen Polizistin gewidmet hatte. "Das müsst ihr nicht. Jim ist der beste Führer, neben mir. Ihr seid in sicheren Händen. Ihr habt doch Erfahrung, oder?"
"Ja. Ich war schon auf der Reuss und auf der Thur, Patrizia war in den USA auf verschiedenen Flüssen unterwegs."
Jim sah Rebecca ungläubig an. "Beim letzten Mal sprachst du von Anfängerin."
"Man muss nicht gleich zu Beginn alle Karten auf den Tisch legen. Hast du noch nie etwas von Pokern gehört?"
Kari und Patrizia lachten Jim aus. Dann mussten die Frauen ihr Ausrüstung anziehen und Jim erklärte ihnen die kurzen Wildwasserboote.
"Wisst ihr was? Ich komme mit euch. Der Tag ist zu schön. Sandra oder Michaela können uns hinterher wieder hochfahren. Wir lassen den Rover auch hier." Kari löste das letzte Kajak vom Dach und beeilte sich, seine Ausrüstung anzuziehen.
Wenig später paddelte Patrizia auf der Emme dem Räbloch zu. Das Wasser war anfänglich wild, sie musste aufpassen und viele grosse Steine umfahren. 'Das beginnt ja grossartig', dachte sie zu sich selbst. Keine Sekunde konnte sie es sich leisten, die Gegend zu betrachten. Ihre Konzentration galt dem Fluss.
Das Kajak schaukelte auf und ab, Felswände kamen näher und entfernten sich wieder. Die Schlucht war noch breit, aber der Fluss definitiv nicht einfach zu meistern. Als die Schlucht enger wurde, floss das Wasser ruhiger. Von oben tropfte Wasser auf sie herunter, wie von einem kleinen Staubbach. Rebecca kreischte vor Freude - es war unglaublich schön.
"An den engen Stellen ist die Emme bis acht Meter tief, weshalb es dort ruhiger ist. Die engste Stelle ist dann kaum breiter als unsere Boote, ihr werdet sehen." Zuvor gab es jedoch noch viele heikle Stellen von sehr wildem Wasser zu meistern. Grosse Steine und scharfe Felskanten, schäumendes und tosendes Wasser. Rebecca und Patrizia waren an der Grenze ihres Könnens. Im Rückwasser einer Kiesbank konnten sie verschnaufen.
"Das macht ihr wirklich mit Anfängern?", erkundigte sich Rebecca bei Jim.
"Nein, das wäre verantwortungslos. Die Schlucht ist nur für gute Fahrer. Anfänger nennen wir jene, welche noch nie auf einem Gebirgsfluss waren. Alle Touristen müssen uns berichten, was sie schon alles gefahren sind. Entschuldige, ich wollte dich motivieren, das zu wagen."
"Hättest du mit mitgenommen, wenn ich zum ersten Mal im Kajak gesessen hätte?"
"Nein. Dann hätte ich dich auf den nächsten Sommer und die Flusswanderung vertröstet. Sorry."
"Schon gut. Das ist der Wahnsinn hier! So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen!"
Patrizia pflichtete ihr bei und bereute es keine Sekunde, mitgegangen zu sein. "Wie oft seid ihr die Schlucht schon gefahren?"
"Siehst du das Loch dort in der Felswand?" Kari zeigte auf eine Einbuchtung in der Wand, knapp über dem Wasser.
"Ja, warum?"
"Der Stein war letztes Mal noch drin. Es war ein schöner, runder Stein mit weissen Einlagerungen."
"Touché! - Ich habe verstanden. Ihr kennt die Schlucht gut genug! Lasst uns weiterfahren. Ich möchte zur engsten Stelle."
***
Klara hing in der Wand. Sie war glücklich. Sie hatte sich für eine T5 entschieden, nachdem sie unten war. Eigentlich mochte sie es lieber im Vorstieg, aber sie hatte Sepp versprochen, vorsichtig zu sein, weshalb sie eine Art Top-Rope kletterte, wo sie sich von oben gesichert hatte. Sie konnte so zwar keine Mehrseil-Längen klettern, aber den Berg genoss sie dennoch.
Inzwischen beschien die Sonne die Nordwand. Es war angenehm warm für die Jahreszeit. Klara meisterte ihre Route problemlos, befestigte unterwegs einige Haken, die sich etwas gelöst hatten. Bald schon war sie wieder oben und setzte sich erneut hin.
Aus dem Rucksack nahm sie sich ein zweites Seil. Sie kontrollierte die Uhr und beschloss, eine längere Route zu klettern, zwei Seile lang. Das musste einfach noch sein. Sie wusste, dass die nächsten Monate keine solche Touren möglich waren, zudem näherte sich der Winter. Ein Winter ohne Eisklettern! Was man nicht alles tut für die Liebe! Klara lächelte. Sie realisierte, ihr Leben zu lieben. In Gedanken gestaltete auch sie bereits das Kinderzimmer. Sie würde ihrem Mann im Ausbau jedoch den Vorzug lassen. Er war der geschicktere Handwerker. Sie war die Planerin und die Denkerin. Sie wusste genau, wie das Bed & Breakfast einst aussehen musste - er konnte es nach ihren Plänen bauen.
Klara kletterte vorsichtig nach unten. Am Ende des ersten Seils befestigte sie das zweite an der Wand, an einem Ort, wo sie einen sicheren Stand hatte. Erst sicherte sie sich am zweiten Seil, dann löste sie das erste und liess es in der Wand hängen. Sollte zufälligerweise ein zweiter Kletterer in der Wand sein, würde er es hängen lassen.
Klara stieg weiter ab, fast schon konnte sie die Schafe erkennen, welche weit unter ihr grasten, sie erkannte den hellen Punkt des Jeeps und wusste, dass Sepp sie beobachtete. Um ihm zu zeigen, dass sie ihn durchschaut hatte, winkte sie kurz in seine Richtung. Dann stieg sie weiter ab.
Für den Aufstieg wählte sie eine neue Route, auf welcher sie ihr Seil immer wieder umhängen musste. Das war nicht einfach, aber Klara suchte die Herausforderung. In Gedanken schmunzelte sie bereits über die Rüge, welche sie abends von Sepp deswegen erhalten würde. Sie sah, wie der Jeep von der Weide wegfuhr. Sie liebte ihren Mann.
Eine halbe Stunde später war sie wieder oben, erschöpft genug, aber unendlich glücklich. Sie verpackte ihre Seile in den Rucksack und setzte sich nochmals hin. "Werde ich eine gute Mutter sein?", fragte sie sich selbst. Nie hätte sie mit einer Antwort gerechnet, denn sie hatte die Gestalt nicht kommen hören.
"Nein, das wirst du nicht."
Klara drehte sich erschrocken um und blickte in ein Gesicht, das keines war. Eine Art Strumpf bedeckte den Kopf, es war, als habe die Menschengestalt kein Gesicht. Über den Kopf hatte der Mensch eine Kapuze gezogen, die Füsse steckten in schweren Bergstiefeln und die Hände in schwarzen Handschuhen.
"Wer bist du?" Klara wollte gerade aufstehen, als sie von starken Armen gepackt und auf den Boden gedrückt wurde. Aus dem Augenwinkel sah sie die schwarze Hand mit einem weissen Tuch auf sich zukommen, dann wurde ihr das feuchte Tuch auf Nase und Mund gedrückt. Chloroform, dachte sie wissend um das, was in den nächsten Sekunden geschehen würde. Als letztes sah sie ein Kinderzimmer aus Arvenholz mit einer Krippe und einem weinenden Baby darin. Dann wurde alles weiss.
***
Die kleine Kajaktruppe fuhr weiter. Immer wieder wurde der Fluss wild schäumend, um gleich danach wieder friedlich dahinzufliessen. An einer breiten Stelle stand eine gewaltige, verdrehte Pyramide aus Felsen mitten im Fluss, es sah aus wie eine versteinerte Wichtelmütze; links davon lagen grosse Steine im Wasser, rechts sah es nach Durchgang aus. Doch die Durchfahrt war links. Patrizia hätte nie ohne die Guides hier durchfahren wollen. Der Fluss war kaum lesbar, sie musste ihm folgen, wohin er sie führte.
Gleich nach der "Mütze" fuhren sie an der Stelle vorüber, wo man Zwygart gefunden hatte. Dann folgten die engen Stellen. Die Felswände kamen immer näher, Patrizia befürchtete, eingeklemmt zu werden. Da der Fluss gleichzeitig eine Biegung nach links machte, sah es wie eine Sackgasse aus. Wäre nicht Kari im Boot vor ihr schon durchgefahren, sie hätte angehalten. Das grüne Wasser floss ruhig, aber schnell. Die groben und feuchten Felswände wurden teilweise überhängend und engten das Kajak immer mehr ein. Es roch nach Flusswasser, Moos und feuchten Steinen, zudem war es kühl und wurde dunkler.
Über ihr war der Himmel verschwunden, sie befand sich unter der Naturbrücke, dem gewaltigen Felsbrocken, der seit Jahrhunderten dort oben eingeklemmt feststeckte. Patrizia wagte einen schnellen Blick nach oben, denn bisher hatte sie die Brücke nie aus dieser Perspektive gesehen. Irgendwann wird die Emme den Steinbrocken genügend unterspült haben und er wird tosend in die Schlucht stürzen, das Wasser stauen und den Flusslauf verändern. Insgeheim hoffte Patrizia, der Felsen möge noch einen kleinen Moment oben bleiben.
Prompt stiess ihr Kajak an die Felswand und sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wasserweg. Alle vier Paddler waren still. Der Ort vermittelte eine übermächtige Energie, verbunden mit Ehrfurcht und Dankbarkeit für das Leben. Patrizia steuerte ihr Boot so gut es ging in der Mitte; links und rechts hatte es kaum zwanzig Zentimeter Raum. Das Wasser musste hier unglaublich tief sein. Erneut machte der Fluss eine Biegung nach links, es wurde heller und weiter, der Engpass war geschafft. Gleich am Ausgang des Nadelöhrs lag eine Art See, ruhiges, tiefes Widerwasser hinter dem Felsen. Die Gruppe hielt kurz an, ohne Möglichkeit auszusteigen.
"Das ist einfach unglaublich schön. Ich danke euch, dass ihr das mit uns macht!"
"Einzigartig, wirklich, ich bin voll deiner Meinung", bestätigte Rebecca Patrizias Aussage. Die beiden Männer strahlten und lobten die Frauen für ihren Mut und ihre Paddeltechnik.
"Es macht Spass, mit routinierten Fahrerinnen auf dem Fluss zu sein. Wir können den Dank zurückgeben."
"Wird das Räbloch jemals so ausgebaut werden wie die Aareschlucht?"
"Das hoffen wir nicht. Es wäre nicht gut. Wir hoffen, dass es ein Schutzgebiet bleibt, damit diese einzigartige Wildnis erhalten werden kann."
Kurz vor dem Ende der Schlucht gab es noch einige Stellen, an welchen kleine Bäche als Wasserfälle über die Felsen stürzten, die Emme wurde auch wieder wilder, dann hatten sie die Schlucht geschafft und das Tal öffnete sich in einer weiten Rechtskurve in Richtung Eggiwil.
An der gleichen Stelle, wo die Polizei vor einigen Tagen gewartet hatte, wasserten sie aus. Kari telefoniert kurz mit dem Büro. Dann setzten sie sich auf Steine und warteten auf ihr Taxi.
"Habt ihr schon etwas vor heute Abend?", erkundigte sich Jim.
"Ich habe mit einer Schulkollegin abgemacht, ja. Wir wollen ins Kemmerboden-Bad, essen gehen."
"Uh, gute Wahl. Aber das kennst du ja. Du kommst von hier?"
"Eggiwil, ja. Die Kollegin ist eine Schangnauerin."
"Also ich habe noch nichts vor. Warum fragst du?" Rebecca machte ein erwartungsvolles Gesicht.
"Hättest du Lust auf Eishockey in Langnau? Ich habe Tickets."
Rebecca sagte erfreut zu und Patrizia zwinkerte in Richtung Kari, der lächelnd zuhörte und nickte. Dann fuhr der blaue Bus heran. Am Steuer sass Michaela. Kari stand auf und ging ihr entgegen. "Wo ist Sandra?"
"Sie musste ins Magazin, hat sie gesagt. Wir konnten ja nicht wissen, dass du auch mit dem Kajak fährst."
"Schon gut, kein Problem. Du bist ja hier. Lasst uns die Boote sicher an Land lagern, dann holen wir den Rover."
"Könnt ihr mich vorher schon in Eggiwil abladen? Ich habe nicht mehr allzu viel Zeit. Das wäre sehr nett, entschuldigt bitte."
"Kein Ding, natürlich machen wir das. Jim, ihr passt unterdessen auf die Boote auf, okay?"
Patrizia verabschiedete sich von Rebecca. "Schnapp ihn dir! Er ist es wert", flüsterte sie der jungen Kollegin ins Ohr. Rebecca kicherte bloss kurz und bestätigte, dass sie da gleicher Meinung war.
***
Klara lag friedlich im Gras. Um sie herum war ein Kranz von Ästen gelegt, dazwischen einige Blumen arrangiert.
Das scharfe Messer reflektierte das Sonnenlicht, der Lichtpunkt wanderte über ihr Kinn, folgte dem Hals, blieb einen Moment zwischen ihren Brüsten stehen, formte eine Acht, und wanderte danach weiter über den Bauchnabel und tiefer.
Es wirkte, als sei die erschöpfte Sportlerin kurz eingenickt, noch immer war die Zufriedenheit auf ihrem Gesicht, vermischt mit dem Schrecken, der sie in ihren letzten Sekunden des Lebens erfasst hatte. Der Lichtpunkt der Klinge verschwand, die Hand im schwarzen Handschuh strich über Klaras linke Gesichtsseite, klemmte behutsam eine Haarsträhne hinter das Ohr.
"Schlafe, meine schöne Bäuerin. Es folgen viele Nächte der Einsamkeit. Ich kann noch nicht mit dir kommen, mein Werk hat eben erst begonnen, zu viele schöne Menschen warten noch auf mich. Ich muss sie erst einladen, einen nach dem anderen, sie für die grosse Reise bereitmachen, so wie dich. Dann werde ich sie zu dir schicken; dein Lover erwartet dich schon. Vergiss den Bauern, er ist nicht wichtig."
Lippen legten sich auf Klaras Mund. "Ich werde dir jetzt zeigen, was es heisst, sein Gesicht zu verlieren. Keine Angst, ich werde vorsichtig sein. Ich bin kein Unmensch - ich mache dich schöner als du jemals warst."
Das Messer wurde an der rechten Schläfe angesetzt, ein kleiner Stich erfolgte, dann zeichnete die Klinge behutsam die weichen Linien des Gesichtes nach, einen feinen roten Pinselstrich hinterlassend, als malte der Künstler eine Rose auf das grüne Gartenbeet. Einzelne Tropfen der roten Tinte rannen zum entblössten Hals, fielen ins feuchte Gras, kleine Tupfer, wie die silbernen Perlen auf der Haut einer Elfe.
Die Hände liessen sich Zeit, das filigrane Werk zu vollenden. Die Maske des Lebens wurde abgelöst, damit sie für später bewahrt werden konnte. Anschliessend fassten die Handschuhe das Kletterseil. Zehn Meter seil rannen durch die Finger, dann griffen sie fest zu. Sie scheuerten das Seil an einem schafkantigen Stein durch, sorgsam darauf achtend, dass es nicht nach Willkür aussah. Das Werk sollte nicht menschlich sein.
Der Stein mit den feinen Geweberückständen des Seils flog in hohem Bogen weit über den Abgrund des Hohgants. Dann fiel das befestigte Seil schlaff in die Tiefe, als wolle es Klara die Richtung weisen, in welche sie demnächst glitt. Klaras Körper folgte dem Seil, schlug mehrmals am Felsen auf, bevor er weit unten eine Staubwolke aufsteigen liess, welche sich Minuten später sanft auf ihn niederlegte.
Die Gesichtsmaske lag auf Eis. Die Spuren der kleinen Friedensfeier waren längst weggeräumt, nichts zeugte mehr davon. "Lebe wohl, Klara - jetzt bist du eine schöne Bäuerin." Die schweren Bergschuhe traten einige Steile los, welche mit Getöse niedergingen, mehr Steine lösten und anschliessend den Körper zur Hälfte bedeckten. Die Kühlbox wurde in den grossen Kofferraum gehievt, dann schlug die Hecktüre zu. Der schwarze Geländewagen fuhr sanft an, aus dem geöffneten Fenster erklang eine virtuose Melodie von Pink Floyd.
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