5 - 5G Geschwindigkeit
Walther Dolder sass vor seinen gewaltigen Bildschirmen in seinem "Aussenquartier", wie er den Raum in Bumbach nannte. Er hatte sich in dem alten Gebäude, das seinen Eltern gehörte, einen Raum mit nahezu zweihundertsiebzig Grad Bildschirmen aufgebaut. Sein drehbarer Bürostuhl stand in der Mitte, die Konsole war am Stuhl befestigt. Er nannte es "Kommandozentrale".
Zusammen mit einer Spielerin, die sich "Rockgirl" nannte, sprintete er durch einen langen Gang, wie durch einen Kellerflur, mit Leitungsrohren und diffuser Beleuchtung.
"Aufpassen, Voltaman! Sie kommen von dort drüben!" Rockgirl zeigte nach rechts. Schnell näherkommend konnte Walther vier gesichtslose Gestalten ausmachen, die auf sie zu hechteten.
"Wir müssen eine Pforte finden. Wir müssen hier weg! Ich hasse diese Typen." Im letzten Moment konnte er an der Wand einen unsichtbaren Durchgang ertasten. "Hier durch!"
"Noclippen? Wohin führt dieser Durchgang?"
"Keine Ahnung, aber immer noch besser, als den Facelingen in die Arme zu fallen. Los, lass es uns wagen!"
Die beiden sprangen durch das Tor in der Wand und landeten auf einem mit Teppich ausgelegten Boden, in einem riesigen Büro.
"Level vier! Es hätte schlimmer kommen können."
"Ja, deutlich. Hier gibt es wenigstens keine Bösewichte."
Das Spiel begann zu ruckeln, die Bildschirme flackerten. "Volta? Bis du noch da? ... Volta?"
Walther hörte ihre Stimme, doch er konnte sie nicht mehr erreichen. Die Bandbreite seiner Anlage reichte nicht aus, das Spiel weiterhin anzuzeigen. Er hatte die Internetverbindung verloren.
Wütend riss er sich den Kopfhörer von den Ohren, warf ihn über einen Bildschirm an die Wand. Er schrie, als ob ihm jemand eine Hand eingeklemmt hätte. Walther stand auf, wie ein irrer Löwe im Käfig ging er auf und ab, noch immer schrie er und schlug mit den Händen durch die Luft. Sein Oberkörper schwankte vor und zurück.
Raus hier, dachte er. Von einem Haken an der Wand nahm er sich die Maske ohne Gesicht, zog sie über den Kopf. Unmittelbar danach ging es ihm besser. Unerkannt, kein Gesicht. Facelinge sind schöne Wesen. Er schlüpfte auch in seine Herbstjacke, griff nach dem Schlüssel, um danach das Gebäude zu verlassen.
"5G, ich brauche 5G. Wann kommt das endlich. Warum wehren sich die Menschen dagegen. Sie verstehen nicht. Jemand sollte ihnen die Augen öffnen, damit sie erkennen können. Wir können nur mit 5G überleben. Dir Grünen verstehen nicht."
Weiter mit sich und der Welt hadernd, stapfte er auf die Häuser zu, welche eine Art Zentrum von Bumbach bildeten. Das Schulhäuschen und die Turnhalle waren bloss noch von den kleinsten besetzt. Die Turnhalle war modern, das erste Gebäude der neuen Schulanlage. Der elegante Holzbau vermittelte etwas wie Fortschritt.
Walther schlenderte der Strasse entlang; er hatte kein Ziel. Eine Schar kleiner Schüler rannte an ihm vorüber, sie bestiegen das Postauto, welches an der Haltestelle auf sie wartete. Einige der Kinder betrachteten ihn angstvoll, schrien oder zeigten auf ihn. Er beachtete sie nicht, schlug weiter mit den Armen um sich und verschwand hinter dem nächsten Haus.
***
"Was war denn das?", sagte Klara zu sich selbst. Seit sie vor einem Jahr, im langen Winter, das Online-Spiel rund um die Backrooms entdeckt hatte, loggte sie sich unregelmässig ein, um sich etwas abzulenken. Heute hatte "Rockgirl", wie sie sich nannte, vor Facelingen, den unheimlichen und aggressiven Wesen ohne Gesicht, fliehen müssen, zusammen mit ihrem Kumpel, dem "Voltaman".
Klara genoss es, dann und wann zu spielen; es war für sie wie lesen oder fernsehen. Ein kurzer Moment der Ablenkung, verbunden mit unwirklicher Spannung. Heute war der Voltaman plötzlich verschwunden, doch Klara machte sich keine Gedanken darüber. Internetgamer folgen eigenen Verhaltensmustern, sagte sie immer wieder zu sich. Klara stellte die Anlage aus.
Im Wohnzimmer traf sie auf den lesenden Sepp, sie setzte sich zu ihm. "Na, Rockgirl, hast du heute gewonnen?" Er zog sie gerne damit auf.
"Irgendwie nein und auch ja; ach, es war creepy. Was liest du da?"
"Einen Krimi aus Schweden. Ziemlich brutales Zeugs, blutige Morde, gestörte Mörder."
Klara lachte. "Wir sind beide auf unsere Art verrückt nach Nervenkitzel. Wollen wir ein Spiel machen?"
"Woran denkst du?"
"Siedler? Heute schlage ich dich!" Klara sprang auf. Aus dem Schrank nahm sie das Kartenspiel, setzte sich an den Arventisch und legte die Karten bereit.
Sepp hatte das Buch weggelegt und half seiner Frau bei der Spielvorbereitung. "Keine Chance. Ich bin auch heute unschlagbar."
"Mit oder ohne Magie-Karten? - Mit! Frauen sind die besseren Zaubererinnen!"
"Das heisst 'Hexen', mein Schatz."
Ein kleiner Stapel Karten flog in seine Richtung; er sammelte sie lachend vom Boden auf.
Sie begannen ihr Spiel; schon nach kurzer Zeit lag Sepp in Führung. Klara betrachtete die Situation sorgenvoll. "Wenigstens bin ich im Klettern besser", scherzte sie. "Was meinst du, werden wir bald auf den Hohgant können?"
"Ich denke, noch einen oder zwei Tage Sonnenschein, dann sind die Routen wieder klar. Du kannst es kaum erwarten, oder?"
"Es gibt wenige Dinge in meinem Leben, die ich wirklich brauche. Dazu gehört, neben dir natürlich, auch mein Berg."
"Ich freue mich darauf, wenn du mit unseren Touristen Touren machen kannst."
Klara senkte den Blick. "Sepp, ich muss dir einige Dinge sagen; du musst mir aber versprechen, mir ruhig zuzuhören und nicht wütend zu werden, okay?"
"Du schummelst beim Spiel? Das ist nichts Neues." Als er ihren Blick sah, fügte er an: "Okay, ich verspreche es."
Sie berichtete ihm von den Besuchen Retos, den Gründen und den Plänen für den Ausbau. Er lauschte ihren Erklärungen, stellte zwischendurch einige Fragen, dann nickte er. "So war das also. Entschuldige, ich hätte dich fragen sollen."
"Ach, schon gut. Neulich, als Patrizia und Ueli hier waren, habe ich mich über deine Reaktion erschrocken. Ich kenne dich nicht so unbeherrscht."
"Reto war ein Idiot, das weisst du. Aber ja, keiner hat einen solchen Tod verdient. Mir sind die Sicherungen durchgebrannt, als er hier auftauchte. Nach allem, was er dir angetan hatte."
"Das ist alles längst vorbei. Wir waren noch halbe Kinder. Und die Beziehung mit ihm war meine erste; sie gehört zu meinem Leben, schreibt ein kleines, eigenes Kapitel darin. Du hast bestimmt auch solche."
"Ja. Es tut mir leid! Ich liebe dich."
"Uns." Klara lächelte.
Sepp blickte sie fragend an. "Wie 'uns'? Natürlich liebe ich uns."
"Ich habe mich verändert, Sepp."
"Ah. Okay. Das kommt zwar überraschend, aber es ist in Ordnung. Ich habe keine Probleme damit, Hauptsache, du fühlst dich wohl. Genderneutralität ist auch im Emmental nichts Neues mehr."
Sie lachte, schüttelte ungläubig den Kopf. "Wow! So beherrscht reagierst du darauf? An was du auch gleich denken musst. Aber nein, du liegst falsch. Ich bin schwanger, du Dödel. Da wächst ein kleines Klärchen heran - oder ein Seppli."
Das Kartenspiel war uninteressant geworden. Sepp sass längst bei Klara auf der Bank hinter dem Tisch, nahm sie in den Arm und küsste sie. "Ich habe dich doch schon lange verstanden, mein Schatz. Ich freue mich riesig für uns. Du machst und gerade das schönste Geschenk überhaupt!"
"Verstehst du nun, weshalb ich noch einmal klettern muss? Ich werde eine lange Zeit nicht am Seil sein können. Morgen möchte ich eine letzte Tour machen, allein."
"Du bist die beste Klettererin, die ich kenne. Aber sei bitte vorsichtig und geniesse es! - Wir sollten ein Kinderzimmer planen."
***
Zurück in seiner Kommandozentrale, sass Walther wieder auf dem Stuhl. Der Rundgang durch das Dorf hatte ihn beruhigt. Facelinge sollten eigentlich nicht aggressiv sein. Sie verjagen dich, aber sie töten dich nicht. Walther setzte den Kopfhörer auf, startete sein System und noclipte in die Welt, die er mittlerweile als seine richtige Welt ansah.
Er traf auf Level vier ein, das er schon oft besucht hatte. Er wusste, wo und wie man es verlassen konnte. Das Ziel war, Rockgirl zu finden. Die Frau, die ihm gefiel, für die er sich verantwortlich fühlte. Wo war sie? Was war mit ihr geschehen, nachdem er rausgeworfen wurde?
Er erinnerte sich an die Möglichkeit, im Spiel miteinander zu kommunizieren, öffnete die Chat-Funktion und schrieb Rockgirl eine Nachricht.
"Rockgirl, geht es dir gut? Wo bist du? Wollen wir uns heute auf Level vier wieder treffen? Ich bin da und warte auf dich. Volta."
Er wusste, dass er hier sicher war. Doch er täuschte sich. Hinter ihm tauchte ein hundeähnliches Wesen auf und zerriss ihn.
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