4 - Dorfleben
Weit hinter dem Landgasthaus Kemmeriboden-Bad, das man in der ganzen Schweiz kannte, lagen verstreut einige Bauernhöfe im enger werdenden Tal der noch jungen Emme. Das weit ausladende Dach des alten Bauernhauses reichte fast auf Kopfhöhe herunter. Es bedeckte den hauseigenen Brunnen, wodurch man bei Regen trotzdem im Trockenen Wasser holen konnte. Aber es warf auch einen grossen Schatten, der es im Hausinneren dunkel werden liess. Unter dem Dach standen verschiedene Gerätschaften für die Landwirtschaft, neben High-Tech-Ausrüstung diverser Sportarten. Zwei topmoderne Mountain-Bikes lehnten an der Hauswand.
"Ich fahre rasch in die Metzgerei, ich brauche nicht lange!" Klara Gruber, die junge Lebenspartnerin des Bauern Gruber, schwang sich auf ihr Rad und fuhr in Richtung Dorf davon. Sepp winkte ihr nach und versuchte, eine letzte Bestellung abzugeben: "Bringe doch noch frische Bratwürste mit, wenn er hat!" Sie winkte ihm zu, als Zeichen, dass sie ihn gehört hatte, dann war sie auch schon hinter dem Nachbarshaus verschwunden.
Sepp liebte ihren Hof, den sie seit ihrer Hochzeit gemeinsam bewirtschafteten, er liebte seine Arbeit und er liebte seine Frau. Klara Gruber, ledige Hirschi, die schönste Bauerstochter im Tal. Wer hätte das je gedacht, dass sie ausgerechnet ihn auswählen würde, um ihr Leben zu teilen; Sepp war glücklich. Er widmete sich wieder seinem Gemüse im Garten, er malte sich in Gedanken bereits das leckere Nachtessen aus, das sie kochen wollten.
Die Sonne schien endlich wieder. Noch einen Tag trocknen lassen, dann konnten sie vielleicht gemeinsam eine Klettertour am Hohgant angehen. Sepp und Klara waren begeisterte Sportler, die jede freie Minute kletterten, bikten oder mit Gleitschirmen unterwegs waren.
Sie entwickelten gar Ideen für einen Action-Bauernhof, auf welchem man mitarbeiten und Abenteuer erleben konnte. Erste Pläne für einen Ausbau des grossen "Tenns", dem Heuboden, der hinter dem Wohnhaus direkt angebaut war, bestanden schon. Die entsprechenden Baugesuche lagen beim zuständigen Bauamt und mussten nur noch bewilligt werden. Der Hof allein brachte wenig Geld ein, aber verbunden mit Sportaktivitäten für B&B-Touristen, könnte durchaus etwas daraus werden.
Zudem erkundigte sich Sepp bei den Bauern in Schanganu über die Haltung von Hochlandrindern. Er könnte sich vorstellen, in seinem Stall einige solche Tiere unterbringen zu können. Auslauf auf der steilen Weide hätten sie gewiss genug. Die Zukunft sah vielversprechend aus und Sepp war sich sicher, das spürte auch sein Gemüse im Garten.
***
Klara radelte am Wellnesshotel Kemmeriboden vorbei. Sie erinnerte sich an das verheerende Unwetter vor einigen Monaten, bei welchem die überbordende Emme den alten Restaurantbereich und die Terrasse des historischen Gebäudes überflutet und mit Schlamm zugedeckt hatte. Mit unglaublichem Einsatz und Eifer hatten die Besitzer alles gesäubert und wieder instand gestellt, damit das Haus seinen Betrieb wieder hatte aufnehmen können. Sie ging mit Sepp sehr gerne dort essen, vor allem der saisonalen und biologischen Auswahl wegen aber auch, weil sie die grossen "Merängge" liebte, die man dort frisch bekommen konnte.
Klara radelte auf der Strasse der Emme entlang, vorbei an der Sägerei, durchquerte den Dorfteil Bumbach, wo sie einst Skifahren gelernt hatte und danach über den Hügel dem Dorf Schangnau zu. Sie liebte ihr Tal, obwohl es eng war. Hier vorne war es breiter, bot mehr Sonne und die Häuser schmiegten sich an die Hänge. Bei der Metzgerei hielt sie an, sie war kaum ins Schwitzen gekommen.
"Grüessech mitenang, sälü Sabrina", begrüsste sie die Menschen im Laden. Es roch verführerisch nach Wurstwaren, geräuchertem Fleisch und frischem Speck. Sabrina Dolder, die Metzgersfrau, begrüsste Klara. Neben ihr stand auch Walther, ihr Sohn, der in der Metzgerei mitarbeitete, weil er keinen erlernten Beruf hatte.
"Hallo, schöne Frau. Was darf es sein?"
"Hallo, du vorwitziger Lehrling. Gib mir bitte vierhundert Gramm vom frischen Hackfleisch, zweihundert Gramm Brät und einige frische Bratwürste." Klara schäkerte gerne mit dem Jungen, denn er hatte sonst niemanden. Walther war anders, lebte in seiner eigenen Welt und hatte die Schule abbrechen müssen.
"Gerne. Wollen wir danach noch etwas trinken gehen?"
Sabrina machte Klara gegenüber eine entschuldigende Geste, Klara aber winkte ab.
"Bist du nicht etwas zu jung für mich? Du bist immerhin erst knapp über zwanzig." Sie lächelte.
Walther lachte und meinte, die zehn Jahre Unterschied zählten nicht. Er packte ihr das Fleisch ein und reichte es ihr über die Theke. Als sie es entgegennahm, berührten sich ihre Hände, was Walther erneut lachen liess.
Klara bezahlte und verliess den Laden. Draussen, hinter dem Gebäude wartete Sabrina rauchend auf sie. "Entschuldige, Klara. Er ist so direkt. Er weiss nicht, was er sagt."
"Ach, ist schon gut, Sabrina. Wir kennen ihn doch alle. Er soll fröhlich sein; das ist gut für ihn."
"Schon. Aber ich glaube, er ist wirklich in dich verliebt."
"Dann wollen wir mal hoffen, dass Sepp das nicht mitbekommt!", scherzte Klara. "Ich werde weniger mit ihm schäkern, okay? Wenn er sich tatsächlich Hoffnungen macht, dann sollte ich ihm keinen Grund dafür liefern. Danke, dass du es mir gesagt hast."
"Ich weiss nicht, was aus dem Jungen noch wird. Trotz seiner vierundzwanzig Jahre ist er im Kopf wie ein Jugendlicher. Er verbringt viel Zeit am Computer und im Internet. Er nennt sich jetzt 'Voltaman' - was immer das auch heissen soll."
"Weisst du, womit er die Zeit im Internet verbringt?"
"Das nennt sich Backrooms; ich weiss aber nicht, was das ist. Ich habe das Gefühl, es ist eine Art Spiel oder so." Sabrina zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch in Richtung Hohgant.
"Du solltest dich informieren. Hast du schon mit Denise darüber gesprochen? Sie kennt sich bestimmt aus. Sie ist jung und als Lehrerin immer am Puls der jugendlichen Trends."
"Das ist eine gute Idee, danke, Klara. So, ich muss wieder. Vielen Dank, dass du mir zugehört hast. Ich wünsche dir einen schönen Tag. Sälü." Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, der an der Wand befestigt war und trat wieder in die Metzgerei.
Klara schnallte ihren Rucksack fest, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte los.
***
Patrizia sass bereits am Computer, als Ueli Suter ins Büro trat. "Guten Morgen, Chef. Besser geschlafen heute Nacht?"
"Wie kannst du bloss so fröhlich sein um diese Uhrzeit?"
"Es ist nach acht Uhr. Ich bin eine Bauerstochter, schon vergessen? Zudem habe ich bereits meine erste Joggingtour hinter mir, das weckt Körper und Geist."
"Du rennst vor der Arbeit schon durch die Gegend?" Suter gähnte.
"Ich hole dir einen Kaffee. Dann muss ich dir berichten, was ich gerade eben gefunden habe." Patrizia verliess das Büro.
Nur Sekunden später schaute Hauptkommissar Brugger vorbei. "Morgen, Ueli, wie weit seid ihr mit Zwygart?"
"Morgen, Rolf, noch nirgends. Wir wissen, dass der Täter offensichtlich sehr wütend gewesen sein muss, haben jedoch noch keine Ahnung, weshalb."
"Das stimmt so nicht ganz. Ich habe schon eine Ahnung, Ueli aber noch nicht. Morgen, Chef - hätte ich gewusst, dass beide Chefs hier sind, dann hätte ich drei Kaffees gebracht." Patrizia lächelte, als sie mit zwei Kaffeetassen zur Tür hereinkam. "Weisst du was, nimm den hier. Ich hatte schon einen."
"Danke. Dann kläre uns zwei alten Männer auf." Brugger setzte sich auf einen freien Stuhl, Patrizia an ihren Schreibtisch. Den Kaffee stellte sie Ueli vor die Nase.
"Danke. Du weisst mehr? Da bin ich gespannt."
"Seht her: Vor vier Monaten hat Zwygart an einer Diskussion im Schweizer Fernsehen teilgenommen. Er vertrat dort die Meinung, dass die Bauern mit den Tieren ähnlich vorgehen sollten, wie mit den Pflanzen. Er wehrte sich gegen die Haltung fremder, also nicht einheimischer Tierrassen."
"Das wissen wir schon. Wie bringt uns das weiter?" Ueli war leicht ungeduldig an diesem Morgen. Brugger warf ihm einen fragenden Blick zu.
"Es gibt eine Verbindung zu einem Bauern beim Kemmeriboden, er heisst Gruber, und er will seinen Hof demnächst mit schottischen Rindern aufrüsten. Als man Zwygart darauf ansprach, reagierte er gereizt. Offenbar bestand zu diesem Bauern eine persönliche Beziehung."
"Und wie hängt das mit unserem Fall zusammen?"
"Zwygart war mehrmals auf diesem Hof gesehen worden. Man warf ihm vor, nicht überall mit gleichen Ellen zu messen. Während die Bauern in Schangnau ihre Rinder verkaufen müssten, wollte er bei Gruber etwas grosszügiger sein. Das muss einen Grund haben."
Ueli Suter lehnte sich zurück, er nahm einen Schluck Kaffee. "Wir sollten zu diesem Bauern fahren. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass unser Täter ein Bauer ist. Man schlägt doch nicht einem Menschen den Schädel ein, bloss weil er sich gegen die Haltung von Bisons einsetzt."
"Ihr solltet heute noch zu diesem Gruber fahren. Danach wissen wir mehr. Ich lasse euch mal, danke für den Kaffee." Brugger ging wieder in sein Büro.
"Ich bin einverstanden mit dem, was du sagst, Ueli. Ich habe auch das Gefühl, dass es nicht so einfach sein kann. Aber es ist eine erste Spur."
"Du bist richtig gut. Ich sollte Chefin zu dir sagen."
"Hör auf. Das war doch nur Zufall." Sichtlich stolz über das Kompliment drehte Patrizia sich wieder ihrem Computer zu, Suter lächelte und widmete sich der Post, die auf seinem Schreibtisch lag.
***
Klara drehte sich immer wieder um, blickte nach hinten. Seit dem Aufstieg durch den Grünwald zur Waldegg hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie konnte jedoch kein Fahrzeug erkennen. Dieses Gefühl hasste sie. Sie trat stärker in die Pedale, fuhr schneller, doch der ungemütliche Geist folgte ihr. Es war wie beim Langlauf, wenn man hinter sich jemanden atmen hört, obwohl da keiner ist.
Sie schwitzte und war froh, als sie endlich beim Steinbruch vorbeifuhr, dass es nicht mehr weit war. Wenig später stellte sie ihr Bike unter das Dach. Der Jeep war weg, Sepp war wahrscheinlich zu den Schafen gefahren. Ausgerechnet jetzt, dachte sie, denn das ungute Gefühl hatte sie nicht losgelassen. Auch jetzt war da immer diese kalte Hand, die sie an der Schulter fasste.
Klara öffnete die Haustüre und trat in die Küche. Das war bei allen alten Bauernhäusern so - man betrat das Haus durch die Küche. Der ehemalige Steinboden war durch einen eleganten Plattenbelag ersetzt worden. Zur Linken stand ein grosser, massiver Holztisch vor einer Eckbank. An der gegenüberliegenden Wand war eine moderne Küche erstellt worden, in welche man jedoch den alten Herd und die Feuerstelle integriert hatte.
Klara legte das Fleisch in den Kühlschrank und nahm gleichzeitig den Fruchtsaft heraus. Sie leerte die Flasche ohne abzusetzen; das tat richtig gut. Danach setzte sie sich an den Küchentisch. Sie öffnete die Zeitung von vorgestern. Seit der schrecklichen Meldung über den gewaltsamen Tod des Politikers, lag die Zeitung auf dem Tisch.
Klara wusste nicht, wie oft sie den Artikel schon gelesen hatte. Ihr Schulschatz war tot. Sie konnte es nicht fassen. Sie dachte an ihre junge Liebe, an die romantischen Abende an der Emme, an das Nacktschwimmen zu zweit. Noch immer wusste sie nicht genau, weshalb diese Liebe nicht gehalten hatte. Reto wollte die Welt erobern, während sie damals noch nicht dazu bereit gewesen war. Dann plötzlich tauchte er wieder auf, zehn Jahre später, hier auf dem Hof. Klara erinnerte sich an den Streit, den die beiden Männer hatten. Sepp mochte Reto nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte.
Würde Sepp wissen, dass Reto mehrmals hier war, würde er toben. Dabei war sie ihm treu, aber er würde denken, sie hätte eine Affäre mit ihrem Ex. Immer wenn Reto kam, war Sepp nicht zuhause, das hatten sie dem Frieden zuliebe so ausgemacht. Klara hasste es, vor Sepp Geheimnisse zu haben. Doch sie wusste nicht, wie sie es ihm hätte erklären sollen. Klara stütze den Kopf auf ihre Hände, bedeckte ihr Gesicht damit und weinte.
Dann klopfte jemand an die Türe. Klara schoss panisch auf, trat einen Schritt zurück. Der Verfolger! Er ist hier! Erneut klopfte es, zwei Stimmen waren zu hören. Vorsichtig schlich Klara zum Fenster und warf einen Blick nach draussen. Zwei Personen, eine blonde Frau und ein Mann, der sich gerade umdrehte. Es war Ueli Suter, der Polizist.
Erleichtert öffnete Klara die Türe. Sie blickte in zwei erstaunte Gesichter. Die Frau kam ihr seltsamerweise bekannt vor. "Polizei? Kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Frau Gruber? Wir sind Frau Stettler und Herr Suter von der Kriminalpolizei. Wir haben einige Fragen an Sie. Dürfen wir reinkommen?"
"Ich kenne Sie, Herr Suter, grüessech, und grüessech Frau Stettler. Bitte, kommen Sie herein." Klara wies die Gäste an den Küchentisch. Patrizia blickte auf die geöffnete Zeitung mit dem Artikel über den Mord. Sie blickte die Bäuerin noch einmal an. Irgendwoher kamen ihr diese Gesichtszüge bekannt vor.
Klara verstand schneller, woher sie die Polizistin kannte. "Stettler? Patrizia? Ich bin's, Klara. Klara Hirschi." Sie hob beide Hände nach aussen gekehrt hoch.
Patrizia strahlte und fasste Klara an den Händen. "Das ist jetzt nicht wahr, oder? Klara! Was machst du denn hier? Lass dich drücken!" Die Frauen umarmten sich. Suter stand daneben wie ein Tourist, der soeben den Zug verpasst hatte. Er verstand bloss Bahnhof.
"Ueli, darf ich dir vorstellen? Das ist Klara Gruber, ledige Hirschi, vom Bumbächli-Hof. Sie war die Schönheitskönigin der Schule und hat allen Bauernsöhnen den Kopf verdreht!"
"Patrizia übertreibt, Herr Suter. Wir sind zusammen durch die verschiedenen Schulen gegangen. Wir kennen uns seit Kindsbeinen und Patrizia war übrigens ebenso beliebt. Na ja, hübsch bist du ja immer noch! Setzt euch, setzt euch! Das ist eine Freude, dich hier zu sehen. Du bist bei der Polizei?"
Suter lächelte und versuchte mehrmals erfolglos, den Redeschwall der Bäuerin zu unterbrechen. Er spürte die Erleichterung der Frau, konnte diese jedoch nicht einordnen. Als sie endlich einmal Luft holen musste, meldete er sich zu Wort: "Bitte, nenne mich Ueli. Eine Freundin meiner Partnerin ist auch meine Freundin."
"Das ist charmant, danke. Also, Patrizia, erzähle."
Patrizia warf ihrem Partner einen dankbaren Blick zu und nickte fast unmerklich in Richtung Zeitung. Er bestätigte ihr, dass er den Hinweis auch erkannt hatte. Unterdessen stand Klara am Herd. "Kann ich euch einen Kaffee machen?"
"Gerne. Ja, ich bin bei der Polizei. Das wollte ich doch damals schon. Ich könnte dir so vieles erzählen, aber wir müssen ein anderes Mal zusammensitzen und von den alten Zeiten schwatzen. Wir sind leider dienstlich hier, Klara."
"Das habe ich schon verstanden. Was führt euch denn zu mir?"
Suter bedankte sich für den Kaffee, der ihm in einer weissen Tasse mit einem goldenen Rand hingestellt wurde. Er zeigte auf den Artikel in der Zeitung. "Du hast die alte Zeitung nicht weggeworfen. Wir sind deswegen hier."
Patrizia lachte und korrigierte: "Also, nicht wegen der alten Zeitung, sondern wegen des Mordes an Reto." Suter machte ein beleidigtes Gesicht und trank seinen Kaffee.
"Ja, schlimme Sache. Ich kann es noch nicht fassen. Du kanntest ihn auch, oder?"
"Welche Frau kannte ihn nicht?"
Klara setzte sich lachend neben Patrizia. "Ja, da hast du recht. Er war der Traumschwiegersohn aller Emmentaler Mütter."
"Und du hast ihn gekriegt. Wir waren ziemlich wütend auf dich."
"Wie du siehst, wurde ich nicht glücklich mit ihm. Wenn du mich nicht kanntest, hattet ihr einen anderen Grund, hierher zu kommen. Darf ich erfahren, weshalb ihr auf uns aufmerksam wurdet?" Klara beobachtete ihre Gäste.
"Patrizia hat herausgefunden, dass Zwygart mehrmals hier war. Wir würden gerne erfahren, weshalb."
Patrizia entging nicht, dass Klaras heitere Stimmung auf einmal kippte. Sie schien nervös zu werden. Patrizia warf ihrem Partner einen bittenden Blick zu, er verstand und erkundigte sich nach der Toilette.
"Klara, auf die Schnelle: Lief da wieder was, zwischen euch?"
"Nein, Patrizia, also zumindest von mir aus nicht. Bei ihm war ich mir nicht sicher. Aber ich würde meinen Sepp niemals betrügen, das musst du mir glauben. Das mit Reto war vorbei, endgültig." Sie hielt dem Blick ihrer Schulkollegin stand. Dann kam Suter zurück.
"Warum war Zwygart hier, und das gleich mehrmals?"
"Es ging um eine Umweltverträglichkeitsprüfung unseres Projektes. Wir werden zu einem Bed & Breakfast, so eine Art "Ferien auf dem Bauernhof" ausbauen. Ich wollte mich von ihm beraten lassen, was es alles braucht, damit wir Subventionen vom Kanton erhalten können. Da er aus der Gegend ist, wurde er von seiner Firma geschickt. Zudem war er als Grüner Nationalrat sehr daran interessiert, dass wir energieneutral werden können. Das ist hier hinten nicht einfach, die Sonne scheint zwischen Ende Dezember und Mitte Februar nie richtig ins Tal."
"Bedeutet das, dass euer Projekt nationales Interesse hat?"
"Nein, Reto kam nicht als Bundespolitiker her, sondern als Vertreter der Solarenergie Technikfirma. Ich wusste nicht, dass er kommen würde, und wir waren beide überrascht, als er das erste Mal auftauchte."
"Und dein Mann fand das nicht gut." Suter liess sich einen zweiten Kaffee eingiessen.
"Was heisst hier nicht gut? Er hat eine richtige Szene gemacht. Die beiden Männer hatten einen heftigen Streit, Sepp wollte Reto mit der Mistgabel vertreiben, weil er dachte, er sei meinetwegen hier."
Draussen hörten sie ein Auto vorfahren. Patrizia beobachtete, dass Klara leicht aufschreckte.
"Das ist Sepp. Er war bei den Schafen."
Die Türe öffnete sich und der Bauer trat ein; er blickte die Gäste erstaunt an. "Oha, Polizei? Schatz, alles in Ordnung? Hattest du einen Unfall?"
"Nein, mein Bär, aber süss, dass du dir Sorgen machst. Das sind Kommissar Suter und seine Partnerin Patrizia Stettler. Stell dir vor, Patrizia und ich kennen uns seit der Schule und nun ist sie hier die neue Polizistin."
"Sehr angenehm. Ich bin der Sepp, freut mich." Er nahm sich auch eine Tasse Kaffee und setzte sich an den Tisch. "Worum geht es denn?"
"Wir hatten einige Fragen zum ermordeten Nationalrat", erklärte Suter entspannt. Der Bauer schoss hoch.
"Zum Grünschnabel, der meiner Frau nachsteigt? Um den ist es nicht schade. Ich war's nicht, was ich bereue. Der verträumte Spinner war nur bei den Grünen, weil er noch grün hinter den Ohren war. Das ist alles, was wir sagen können." Er leerte seinen Kaffee in einem Zug und stampfte durch den hinteren Küchenausgang in Richtung Stall.
Patrizia, Ueli und Klara starrten ihm erschrocken und verständnislos nach.
"Was war denn das?", fragte Patrizia.
"Unser Stichwort, Partnerin. Lass uns gehen. Vielen Dank für die Gastfreundschaft, Klara. - Du solltest es ihm sagen, aber besser nicht jetzt."
Patrizia und Klara tauschten ihre Telefonnummern aus und versprachen sich gegenseitig, sich zu melden, damit sie einmal im Kemmeriboden essen gehen könnten. Dann verabschiedeten sich die Polizisten und fuhren wieder aus dem Tal.
"Was auch immer du von ihr erfahren hast, ich gehe davon aus, dass du es mir sagst, wenn es für die Ermittlung wichtig ist."
Patrizia lehnte sich kurz nach links und gab ihrem Partner am Lenkrad einen Kuss auf die Wange. "Das werde ich. Danke, dass du mir vertraust."
Er lächelte verschmitzt. "Also daran könnte ich mich gewöhnen. - Autsch, daran eher nicht."
Patrizia amüsierte sich über seine Reaktion auf den leichten Faustschlag, den sie ihm versetzt hatte.
***
Mit dem Feldstecher konnte man fast bis ins Wohnzimmer sehen. Die Polizisten fuhren endlich weg. Aber Sepp war heimgekehrt. Keine Chance mehr heute. Der Streit, den die beiden hinter dem Hof austrugen, war dennoch interessant, erzeugte ein schadenfreudiges Lachen.
Als die beiden sich zur Versöhnung küssten, verschwand der Feldstecher in der Tasche. Der Reissverschluss wurde gezogen, die Tasche hochgehoben. Zurück blieb das kleine, flachgestampfte Plateau unter der Tanne, das in den letzten Tagen immer wieder besucht worden war.
"Du läufst mir nicht davon. Wir sehen uns morgen wieder, meine schöne Bäuerin."
Wenig später wurde ein Motor gestartet und ein schwarzer Wagen fuhr davon.
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