12 - Erfolg & Misserfolg
Beide Fenster im Büro standen offen, die frische Morgenluft füllte den Raum und die Köpfe. Ueli stand mit Patrizia vor dem Flip-Chart.
"Du hast hier seit gestern einiges verändert. Erklärst du es mir wieder?"
"Klar. Gestern Abend war ich mit den Kajakern zusammen. Sie haben auch über den Unfall und den Mord gesprochen. Ich bin mir nun sicher, dass wir es mit einem einzigen Täter zu tun haben. Die Parallelen zwischen den Fällen werden deutlicher. Ich habe einiges aus dem Leben unseres zweiten Opfers erfahren."
"Das bedeutet, dass unser Täter ebenfalls beide kennen muss? Was ist mit einer Chaos-Theorie, wo wir es einfach bloss mit einem geistesgestörten Täter zu tun haben?"
"Daran glaube ich nicht. Die Wut im ersten Mord spricht dagegen. Da hat sich etwas aufgestaut, das er verarbeiten will. Ich denke, es hängt mit der Zeit zusammen, als Zwygart und Klara zusammen waren. Und da könnte auch noch Köbi Bucher mitspielen. Ich werde ihn noch einmal befragen. Ich glaube immer noch, er könnte sogar unser Täter sein. Vielleicht hat Klara ihn erpresst, weil sie das mit den sehr jungen Mädchen wusste."
"Ach deshalb ist er nun auch auf der Mindmap?"
"Ja, genau. Zudem habe ich geglaubt, den schwarzen Wagen gesehen zu haben, der mich fast gerammt hätte. Aber er gehört Sandra, der Kajakerin. Ich lag wohl falsch."
"Wieso? Könnte es nicht sie gewesen sein?"
"Nein. Alle sagten, sie sei die beste Fahrerin im ganzen Tal; sie könne alles fahren, was Räder habe. Sie wäre entweder absichtlich in mich reingedonnert oder hätte mich viel früher bemerkt und abgebremst."
"Ich habe mir gestern das Gespräch mit dem Arzt nochmals durch den Kopf gehen lassen. Ich werde ihm heute einen zweiten Besuch abstatten. Sollen wir getrennt vorgehen oder wollen wir zusammen fahren?"
"Machen wir den Morgen getrennt und treffen uns zum Essen im Löwen in Schangnau. Wir verzichten darauf, die Seiten zu wechseln. Du fährst ins Spital, ich zum Bauern? Mir ist nämlich eingefallen, woher ich den Typen kenne: Auch von der Kanti. Passt das für dich?"
"Ja, das ist für mich in Ordnung. Du solltest dich aber nicht zu sehr auf diesen Köbi Bucher fixieren. Ich denke, du irrst dich da. Er ist dir nicht sympathisch, weil er offenbar auf junge Mädchen steht. Übrigens sind gestern Abend noch Resultate von der Sitte eingetroffen. Der gesichtslose Mann von Bumbach konnte identifiziert werden. Es ist der Sohn des Metzgers. Wir sollten ihm und seinen Eltern einen Besuch abstatten."
"Na prima, dann geht es wenigstens dort vorwärts. Meinst du, er könnte unser Täter sein? Sohn des Metzgers? Und apropos Köbi - nein, er ist mir nicht sympathisch. War er nie. Er war ein Nerd. Er erinnert sich nicht an mich."
"Schon gut, ich meinte ja nur. Wir sollten zudem alle Vermutungen, die in Sackgassen geendet haben, aufschreiben. Wie Thomas Edison - zehntausend Wege gehen, die nicht ans Ziel führen, um den einen zu finden, der hinführt. Walther als Täter? Das Fachwissen könnte er sicher haben. Er ist knapp über zwanzig und offenbar geistig verwirrt."
"Wir können am Nachmittag hinfahren. Soll ich uns anmelden?"
"Ja, mach das. Ich möchte, dass alle zuhause sind, wenn wir eintreffen. Also, gehen wir zu unseren Kunden."
Ueli schloss das Fenster, durch die Türe kam Brugger herein. "Schön, dass ich euch noch erwische. Die Leiche von Klara Gruber ist freigegeben worden. Die Beerdigung findet schon morgen Nachmittag statt. Ihr solltet hinfahren und die Trauergemeinde beobachten. Eventuell zeigt sich der Mörder da. Was habt ihr?"
"Wir befragen den Arzt nochmals. Da stimmt etwas nicht, er ist mir ausgewichen. Patrizia bleibt am undurchsichtigen Bauern dran."
"Gut. Was ist mit dem Wagen, den ihr immer wieder gesehen habt?"
"Nichts Brauchbares, Chef", erklärte Patrizia. "Das Auto, das ich untersucht habe, gehört einer Kajakerin. Offenbar habe ich mich geirrt und den richtigen Wagen noch nicht gefunden. Sobald ich ein Kennzeichen habe, gebe ich den Wagen zur Suche frei."
"Ah, auch gut. Bleibt dran. Der Staatsanwalt und Bundesbern liegen mir noch immer im Nacken."
"Machen wir. Du hörst von uns."
***
Ueli Suter parkte den Wagen im Parkhaus neben dem Spital. Die Frau am Empfang kannte ihn bereits. "Kommissar Suter, guten Morgen. Wer darf es heute sein?"
"Ich müsste nochmals zu Dr. Schneider, wenn es möglich ist."
Sie kontrollierte ihren Bildschirm. "Er hat in zwanzig Minuten eine Sitzung zur Operationsvorbereitung. Bis dahin gehört er Ihnen. Gehen Sie schon hoch, ich melde Sie an."
"Vielen Dank. Ich kenne den Weg."
Als Suter durch den Flur wandelte, sah er bereits die offenstehende Bürotür. Schneider erwartete ihn und mit ihm eine würzig-süsse Parfümwolke. Ueli rümpfte die Nase.
"Was ziehen Sie für ein Gesicht, Kommissar Suter. Passt Ihnen mein Aftershave nicht?"
"Doch, doch, sehr dezent. Danke, dass ich Sie noch einmal sprechen kann, Dr. Schneider. Ich komme gleich zur Sache. Sie haben mir nicht die volle Wahrheit gesagt. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie erzählen mir alles, oder Sie kommen mit mir auf den Posten und wir verhören Sie unter Eid."
Der Arzt erhob sich, deutete auf einen Stuhl und schloss die Tür. "Bitte, nehmen Sie Platz. Sie drohen mir?"
"Man kann es so nennen, ja."
"Einer unserer Chirurgen ist krank. Schon seit mehr als einer Woche."
"Und weshalb haben Sie das nicht gleich gesagt? Wenn er der Täter ist, hätten wir vielleicht einen zweiten Mord verhindern können."
"Sie glauben, er könnte der Täter sein?"
"Was ich glaube und was nicht, ist meine Sache. Ich handle nicht nach Glauben und Vermutungen, sondern nach Wissen und Tatsachen - was uns ziemlich sicher voneinander unterscheidet."
Dr. Schneider wollte dazu etwas sagen, doch Ueli Suter schnitt ihm das Wort ab.
"Wo finde ich diesen Arzt und mit welcher Begründung hat er sich abgemeldet?"
"Seit er vor einem Jahr am Covid-Virus erkrankt war, leidet er unter den Spätfolgen. Er kuriert sich in seinem Chalet auf der Marbachegg."
"Geben Sie mir die Kontaktdaten. Fährt Ihr Arzt einen schwarzen SUV?"
Dr. Schneider reichte ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer und einer Adresse. "Einen grossen Maserati, ja, und er ist schwarz. Wieso fragen Sie?"
"Wenn sich herausstellt, dass Ihr Kollege etwas mit den Morden zu tun hat, werden Sie wegen Beihilfe dran sein, Herr Schneider. Und dann hilft Ihnen auch Ihr Titel nichts. Guten Tag."
Ueli Suter war sauer, das konnte der Arzt deutlich sehen. Der Kommissar liess den Stuhl stehen, drehte sich um, verliess den Raum ohne sich um eine Verabschiedung zu kümmern. Die Türe liess er offen.
***
Patrizia klopfte wie beim letzten Besuch artig an. Köbi Bucher öffnete und strahlte, Patrizia verzog ihren Mund und setzte einen verachtenden Blick auf.
"Habe ich Ärger?", fragte Köbi Bucher eingeschüchtert.
"Hängt davon ab, was du mir berichtest Köbi."
"Oha, wir sind beim Du? Das ist doch ein Anfang. Komm herein und setze dich."
"Du erinnerst dich nicht an mich, oder?"
"Wenn wir Männer so beginnen, werft ihr uns jeweils eine billige Anmache vor. Nein, ich erinnere mich nicht. Sollte ich?"
"Kanti Burgdorf. Wir waren nicht in der gleichen Klasse, aber ich erinnere mich an dich - du warst der Nerd der Schule und damals schon der beste Freund von Reto Zwygart."
"Das stimmt. Und du bist?"
"Wie schon beim letzten Besuch gesagt, Patrizia Stettler. Ich ging danach in die USA, schon möglich, dass du dich nicht an mich erinnerst. Aber ich bin nicht deswegen hier."
"Weswegen dann?"
"Ich möchte mehr von eurer Freundschaft wissen. Du hast mir nicht alles erzählt und ich erinnere mich nicht mehr, denn ihr wart mir ziemlich egal damals. Wie gut war der Kontakt zu Reto?"
"Na gut, du findest es sowieso raus. Unser Kontakt war sehr gut. Unsere Clique von damals hatte noch immer einen regen Austausch. Wir trafen uns einmal im Monat, meistens in Bern. Komisch, dass du mich darauf ansprichst. Das hat die Journalistin auch getan."
"Die Kosic war hier? Was hast du ihr gesagt?" Patrizia nervte sich gerade über die neugierige Journalistin, die ihre Nase überall reinsteckte.
"Dasselbe wie dir. Reto und ich machten bis heute Geschäfte miteinander."
"Geschäfte? Welche Art Geschäfte?"
"Wir handelten mit Kryptowährungen und ich half ihm beim Traden. Wir waren noch immer sehr erfolgreich. Damit konnte er seine politische Laufbahn und einige Umweltschutzprojekte finanzieren. Wir wollten hier ein Zentrum für nachhaltigen Tourismus errichten."
"Und Klaras Klettergarten stand euch dabei im Weg, verstehe. Deshalb musste sie sterben."
"Nicht doch! Klara war voll dabei. Wir kannten uns doch alle von früher und sie wollte das mit uns zusammen durchziehen. Ihr Mann hingegen war eher skeptisch."
"Lief da wieder etwas zwischen den beiden, Reto und Klara meine ich?"
"Nein. Klara wies ihn zurück. Ich glaube, er fand sie immer noch attraktiv, aber sie war absolut treu ihrem Sepp gegenüber."
"Mit wem war Reto zusammen?"
"Er hatte nichts Festes. Er hatte überall seine Freundinnen."
"Die vermutlich sehr jung waren."
"Woher nimmst du diese Vermutungen? Das hast du mir bei deinem letzten Besuch schon vorgeworfen. Entweder du bringst klare Beweise oder du lässt diese Anschuldigungen sein. Dass du bei den Bullen bist, macht keinen Eindruck auf mich."
Patrizia lächelte. "Und wieder wirfst du mich bei dieser Bemerkung raus, Köbi Bucher. Dass ich bei den Bullen bin, sollte dich beunruhigen, denn ich werde dir nicht mehr von der Pelle rücken. Und lass deine Finger von Lea, hörst du! Oder soll ich dem Toni einen kleinen Tipp geben?"
Bucher wurde bleich. "Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst."
Patrizia lächelte immer noch, sie genoss ihren Auftritt und beschloss insgeheim, an der Sache dranzubleiben; und ebenfalls wollte sie diese Journalistin sprechen. Sie musste erfahren, was Köbi ihr erzählt hatte.
Als sie mit ihrem Wagen wegfuhr, wurde weiter oben im Tal ein Fernglas weggelegt. "Sieh an, du bist hartnäckig, Bullenschlampe. Lass meinen Nerd in Ruhe, hörst du?" Eine Wagentüre wurde heftig zugeknallt und der kraftvolle Motor erwachte heulend zum Leben. Die durchdrehenden Räder des anfahrenden Wagens wirbelten Kies auf.
***
Über die grosse Treppe an der Stirnseite des Emmentaler-Hauses gelangte man zum Eingang des Gasthofs. Zur Linken befand sich danach ein grosser Saal, der für besondere Anlässe gebucht werden konnte. Rechts führte eine Tür in die Gaststube, die ihrerseits aus drei Räumen bestand. Alles war in Holz gefasst, Arve und Tanne. Die Stühle jeder einzigartig geschnitzt und dennoch passten sie alle zusammen.
Patrizia sass bereits an einem kleinen Zweiertisch, als Ueli Suter das Restaurant betrat. Sie winkte ihn herbei, er bestellte eine Flasche Wasser und ein Bier, als er an der Bar vorbeikam.
"Sälü Chef, auch schon da."
"Tschou. Ja, ich hatte einen längeren Anfahrtsweg als du. Aber ich habe Hunger - hast du die Karte schon angeschaut?"
"Ja; es gibt bereits herbstliche Wildspezialitäten."
"Die Kürbissuppe hier soll phänomenal sein, hat man mir gesagt."
"Oh, danke, das sage ich gerne weiter!" Die Frau, die das Wasser und das Bier brachte, strahlte. "Wenn ihr Fragen zum Menü habt, einfach rufen."
Patrizia entschied sich für einen Nüsslisalat mit Ei und danach die hausgemachten Kürbisravioli an einer leichten Currysosse. Ueli nahm die Kürbissuppe und danach Geschnetzeltes vom Reh mit Chnöpfli und einer Pilzrahmsosse.
"Erzähle mir. Wie war es beim Arzt?"
Suter wischte sich den Schaum vom Mund und lächelte. "Er wird an meinem Besuch wohl noch etwas zu nagen haben. Ich mag diese selbsternannten Götter in Weiss nicht."
"O-oh, du hast ihn bluten lassen. Lebt er noch?"
"Stell dir vor: Seit mehr als einer Woche fehlt einer seiner Chirurgen und der Idiot hat das nicht für nötig gefunden, uns schon beim ersten Besuch zu erzählen."
"Sie haben einen Arzt verloren? Eigenartig. Ich verliere höchstens mal meine Schlüssel oder so - aber gleich einen Arzt?" Patrizia und Ueli lachten.
"Spass beiseite - es ist gut möglich, dass wir hier unseren Täter hätten. Er sei auf der Marbachegg und erhole sich von Long-Covid, hat der Herr Doktor erzählt."
"Dann sollten wir morgen hinfahren."
"Das werden wir tun. Und bei dir? Köbi schon eingebuchtet?"
Der Salat und die Suppe wurden serviert.
"Der Kerl ist bestimmt in irgendwelche Schweinereien verwickelt. Doch auch er war ziemlich gesprächig. Er erzählte mir von einigen Streichen, die ihre Clique früher unternommen hätten. Er und Zwygart waren bis heute sehr gute Freunde, wie auch die anderen der alten Clique. - Mmh, lecker!" Patrizia kaute und genoss ihren Salat. "Sie wollten übrigens mit Klara zusammen eine Art Zentrum für nachhaltigen Tourismus aufbauen; drüben, in Bumbach. - Wie schmeckt die Suppe?"
"Himmlisch. - Sieh einer an: Beide bisherigen Opfer hatten ein gemeinsames Projekt und mittendrin ist auch noch dieser Köbi Bucher. Was fährt er für einen Wagen?"
"Das weiss ich noch nicht. Ich habe kein Auto gesehen. Vielleicht hat er Reto zuliebe gar keines und macht auf Grün."
"Der Arzt auf der Marbachegg fährt einen schwarzen SUV."
"Wow! Scheint, als ob es vorwärts geht, mit unseren Ermittlungen. Wir sind ein unschlagbares Team!"
Das Essen wurde serviert. Zusätzlich zur Bedienung trat eine Frau mittleren Alters an den Tisch und wünschte ihnen guten Appetit. Sie stellte sich als Kathrin Loosli vor, sie sei die Besitzerin des Restaurants.
Eine Weile assen sie schweigend und genossen ihr Menü. Patrizia griff den Faden der Diskussion als erste wieder auf.
"Was wollen wir heute Nachmittag von den Dolders erfahren?"
"Wir sollten versuchen herauszufinden, was mit ihrem Sohn nicht stimmt."
"Entschuldigt, bitte, ich habe das soeben gehört. Sprecht ihr von Walther Dolder, dem Sohn des Metzgers?"
"Lauschst du immer, wenn deine Gäste sich unterhalten?"
"Nein, aber ich wollte grad zu euch und nachfragen, wie das Essen schmecke, und da habe ich eben den Namen gehört."
"Das Essen schmeckt hervorragend, vielen Dank. Warum interessiert dich dieser Walther?"
"Er hat bei uns eine Lehre angefangen, nachdem er die Lehre als Metzger abbrechen musste. Er wollte Küchenhilfe werden. Aber das hat auch nicht funktioniert. Der arme Kerl."
"Was ist mit ihm?"
"Er ist behindert. Er sollte in einem Heim arbeiten können, aber so etwas gibt es nicht hier."
"Du meinst geistig beeinträchtigt? Welche Diagnose hat er?"
"Das weiss ich nicht. Aber für die Schule hat es nicht gereicht. Er musste jede Lehre abbrechen. Er lebt immer noch bei seinen Eltern. Die gute Sabrina kann einem leid tun."
"Wir werden mit ihr reden. Du hast uns sicher erkannt, oder?"
"Ja, man spricht praktisch nur noch von euch und den Toten. Ich hoffe, ihr kriegt den Typen bald. Man bekommt es hier mit der Angst zu tun."
"Wir sind dran. Kannst du uns noch zwei Kaffee bringen?"
Patrizia hatte die Diskussion amüsiert mitverfolgt. "Nicht aufregen, Chef. Das ist ein kleines Dorf und jeder kennt jeden."
"Schon klar. Trotzdem staune ich immer wieder, auf welchen Wegen wir an Informationen gelangen: Dieser Walther kann also mit Messern umgehen. Und er glaubt, ein gesichtsloser Mensch zu sein. Das passt fast zu gut. Ich bin sehr auf die Familie gespannt."
Draussen auf dem Parkplatz zögerte Ueli plötzlich. "Lassen wir die Autos doch hier. Bei der Metzgerei hat es bloss wenige Plätze und es ist ja nicht weit. Gehen wir ein Stück."
"Das Essen war hervorragend. Das müssen wir uns merken; nun kenne ich schon drei sehr gute Restaurants hier in der Gegend. Spannend."
"Woran erinnerst du dich, als du in der Kanti warst?"
"Nicht an Restaurants. Höchstens an die angesagten Bars in Burgdorf. Aber ich weiss, worauf du ansprichst. Bloss an sehr wenig. Klara und ich waren Freundinnen, doch mit ihrer Clique kam ich nicht zurecht. Als sie mit Reto zusammenkam, trennten sich unsere Wege. Das war nach dem Tod meines Bruders. Ich ging dann nach Amerika, weil mir hier alles zu viel wurde."
"Wie hast du das gemacht?"
"Eine Freundin meiner Mutter lebt in Arizona. Ich kam bei ihr unter, beendete die Schule und machte eine erste Ausbildung. Ich war vier Jahre dort."
"Dann weisst also nicht, wer in dieser Clique war?"
"Nein. Reto und Köbi sicher. Dann wahrscheinlich auch Klara, weil sie ja mit Reto zusammen war."
"Und zwei davon sind ermordet worden. Wir müssen den Grund wohl dort suchen. Aber hören wir zuerst, was uns Familie Dolder berichtet."
Sie klingelten an der Tür, wenig später wurde ihnen Einlass gewährt. Sabrina Dolder führte sie ins Wohnzimmer, wo Hans, ein sehr grosser und kräftiger Mann und sein Sohn Walther bereits warteten.
"Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee vielleicht?"
"Mach doch nicht so ein Theater. Die Herrschaften wollen Informationen und ich habe wenig Zeit. Was wollen Sie wissen und warum sind Sie bei uns?" Hans Dolder war sichtlich genervt.
"Entschuldigen Sie unser Eindringen. Wir haben einige Fragen zu Ihrem Sohn."
"Was hat er nun wieder angestellt? Der bringt mich noch zur Verzweiflung."
Sabrina Dolder stellte einige Kekse auf den Tisch und setzte sich ihrem Mann gegenüber. Walther spielte mit einem Kugelschreiber. Er blickte niemanden an.
"Sie wissen schon, dass er Sie hören kann, oder?"
"Hören Sie, ich muss in den Laden zurück. Meine Frau kann Ihnen sicher Informationen geben. Sie erzählt es mir nachher. Wir sind anständige Leute. Sie sollten besser den Irren fangen, der hier rumläuft. Auf Wiedersehen." Hans Dolder verliess das Wohnzimmer und verschwand in Richtung Metzgerei.
"Vater ist enttäuscht von mir. Ich bin nicht gut genug. Ich verstehe vieles nicht." Walther blickte auch jetzt, wo er sprach niemanden direkt an.
"Sie müssen meinen Mann entschuldigen. Er macht sich grosse Sorgen um die Metzgerei. Wenn wir keinen Nachfolger finden, werden wir wohl schliessen müssen."
"Wir sind wegen Walther hier. Er wurde mit einer Gesichtsmaske gesehen, in Bumbach. Er hat Kindern Angst gemacht."
"Facelinge! Sie waren hinter mir her. Ich musste mich tarnen. Facelinge dürfen dich nicht erwischen." Walther wippte stärker vor und zurück, er drehte den Kugelschreiber wild in den Händen.
Patrizia setzte sich zu ihm aufs Sofa. "Ich bin Patrizia. Hallo Walther. Willst du mir von den Facelingen erzählen? Das klingt spannend." Sie winkte Ueli und Sabrina weg.
Sabrina bat Ueli in die Küche. Sie bereitete zwei Kaffees vor. "Walther war schon als Kind eigenartig. Wir haben ihn abklären lassen. Man sagt, er habe autistische Züge. Er arbeitet langsam und entscheidet sehr genau, was er tun will und was nicht. Es war nicht einfach, als er in der Schule war. Hans kommt damit nicht klar." Sie stellte Ueli einen Kaffee hin.
"Danke. Was macht Walther, wenn er keinen Beruf hat lernen können?"
"Er hilft uns in der Metzgerei. Manchmal geht er auch in der Sagi aushelfen. Er arbeitet gerne mit Holz. Er ist auch gerne draussen, im Wald oder beim Räbloch."
"Spielt er am Computer?"
"Ja, sehr oft. Er hat in Bumbach seinen eigenen Spielraum eingerichtet, mit dem Geld, das er in der Sagi verdient hat. Wir haben dort noch ein zweites Gebäude. Es ist eine alte Metzgerei, die hat schliessen müssen. Hans wollte zuerst eine Filiale daraus machen, für Walther. Aber als das mit der Ausbildung nicht klappte, wurde daraus nichts."
"Halten Sie es für möglich, dass Walther jemandem etwas antut?"
"Nein. Er hat eine ausgeprägte Empathie für Menschen. Er mag einfach alle. Klara liebte er. Er ist sehr traurig, dass sie nicht mehr lebt."
"Woher kannte er Klara?"
"Sie kam oft in die Metzgerei. Zudem spielte sie wohl das gleiche Spiel wie er. Manchmal nannte er sie "Rockgirl" und sie ihn "Volta". Ich glaube, sie hatten Spass zusammen, in diesem Spiel."
"Wissen Sie, wie das Spiel heisst?"
"Walther nennt es "Backrooms". Ich wollte mit Denise - das ist die Lehrerin in Bumbach - darüber reden, was das für ein Spiel sei. Verdächtigen Sie Walther, die Morde begangen zu haben?" Sabrina blickte Ueli mit traurigen Augen an.
"Wir folgen jeder Spur, die wir finden. Walther ist da leider in unser Blickfeld gerückt. Er lief mit dieser Gesichtsmaske herum, in der Nähe der Schule. Zudem kennt er sich mit Messern aus."
"Er würde so etwas nie tun. Sie kennen ihn nicht."
"Würde das nicht jede Mutter über ihren Sohn sagen?"
"Nein. Meine Schwiegermutter hätte Ihnen Hans in der gleichen Situation skrupellos ans Messer geliefert."
Ueli blieb konsterniert sitzen, trank seinen Kaffee aus. "Vielen Dank, Frau Dolder. Sie haben mir sehr geholfen. Wir lassen Sie nun wieder. Wenn wir mehr wissen, werde ich Sie informieren; das verspreche ich Ihnen."
"Vielen Dank. Ihre Partnerin scheint zu Walther einen Draht gefunden zu haben. Er mag Frauen sehr. Leider wird er wohl keine finden, die mit ihm leben will." Sabrina blickte noch immer traurig in Uelis Augen. "Auf Wiedersehen, Herr Suter."
Draussen erzählte Patrizia, was sie von Walther erfahren konnte. Sie beide waren mit den Fortschritten des Tages zufrieden.
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