11 - Dunkle Geheimnisse
Die Zufahrtsstrasse und die Wiese beim Auswasserungsplatz an der Emme waren mit Fahrzeugen vollgestellt. Auf dem Parkplatz befanden sich die Bars sowie die Grillschalen. In jeder Ecke des Platzes brannte eine Finnenkerze, dazwischen waren Fackeln aufgestellt worden. Auf einem Anhänger hatte sich eine lokale Band eingerichtet und sorgte für die musikalische Unterhaltung.
Rebecca und Patrizia mischten sich unter die Leute. Sie waren noch keine zehn Minuten dort, als Jim sie bereits entdeckte. Patrizia hatte das Gefühl, er habe auf sie gewartet, oder viel mehr auf Rebecca. Die beiden küssten sich zur Begrüssung, was Patrizia in ihrer Annahme bestätigte. "Sieh an, sieh an, Eishockey scheint ziemlich heiss gewesen zu sein."
"Es hat funktioniert, ja. Rebecca und ich sind zusammen."
"Schön für euch, gratuliere, freut mich."
"Nun müssen wir bloss noch einen attraktiven Typen für dich finden", scherzte Rebecca.
"Untersteh dich, mich verkuppeln zu wollen. Das mache ich grundsätzlich selbst. - Willst du ein Bier?"
"Ich mache das. Hohgant-Bier aus der Waldkäserei - sehr lokal und sehr lecker! Was wollt ihr? Ein helles Hausbier, ein Heubier oder ein dunkles Räbloch?"
"Für mich ein Heubier", bestellte Rebecca.
"Klarer Fall: Räbloch. Ich mag es bitter", meldete sich Patrizia.
Jim tippelte zur Bar, die Frauen machten es sich auf einer Lounge bequem. Der Abend war angenehm warm, ein lauschiger Herbstabend.
"Hey, da seid ihr ja! Hallo zusammen, ich bin Sandra", die kräftige, kurzhaarige Frau lächelte und streckte Patrizia ihre Hand hin.
"Freut mich. Ich bin Patrizia, eine Kollegin von Rebecca." Der Händedruck war stark, selbstbewusst.
"Darf ich mich zu euch setzen? Für Jim ist immer noch Platz."
"Aber klar doch!"
Sandra suchte gleich das Gespräch mit den Kolleginnen. "Gleich zwei neue Frauen bei der Polizei! Das freut mich. Wir Frauen sind untervertreten hier im Emmental."
"Ich bin nicht wirklich hier stationiert. Ich bin bei Leib und Leben, wir haben unsere Station in Bern. Aber wenn wir Fälle untersuchen, erhalten wir Büros vor Ort." Patrizia erzählte sehr gelassen und erklärte ihren Job.
"Leib und Leben - ist das so etwas wie die Mordkommission?"
"Ja, in der Art. Aber wie in allen Berufen, benennt man die Abteilungen regelmässig neu, damit der Eindruck von Veränderung entsteht." Rebecca lachte über ihren eigenen Witz.
"Ach, wie der Supermarkt, der seine Produkte regelmässig an einen anderen Ort stellt, damit man das Gefühl hat, in einem neuen Laden zu sein."
Jim erschien mit den Getränken. "Sandra, schön bist du auch da. Hast dich etwas rar gemacht in den letzten Tagen. Hast du schon ein Bier?"
Sie hielt ihre Flasche hoch. "Klar, weisst du doch. Das Festbier kommt nicht an mir vorbei! Prost Ladies!"
"Prost. - Uh, das schmeckt lecker!" Patrizia betrachtete die Etikette der Flasche. "Und das wird hier gebraut?"
"Richtig. Vorne, im Wald, in der alten Käserei, seit fast fünfzehn Jahren schon. Es ist eine echte Bereicherung für unsere Region."
"Also das bekommt in meinem Kühlschrank einen festen Platz, cool. - Was ist das für ein Fest hier? Es ist grossartig!"
"Das ist die Saison-Schlussparty", erklärte Jim, "Wir feiern die Umstände, dass wir eine weitere Saison erfolgreich haben abschliessen können, ohne Unfälle und ohne nennenswerte Pannen. Dazu ist die Öffentlichkeit eingeladen. Wir bedanken uns bei den Menschen für ihre Toleranz uns gegenüber, weil wir manchmal laut sind. Die Musik, ein Getränk und eine Bratwurst sind gratis, wenn man in Schangnau oder in Eggiwil wohnt."
"Das ist eine noble Idee - obwohl, so unfallfrei habt ihr dieses Jahr nicht abgeschlossen", gab Rebecca zu bedenken.
Jim protestierte postwendend. "Hey, der tote Politiker geht nicht auf unser Konto. Der ist einfach so in unsere Schlucht gefallen. Der zählt nicht."
"Wisst ihr eigentlich schon mehr über die Umstände? Ich meine Dinge, die ihr erzählen dürft." Sandra lehnte sich etwas zurück.
"Da musst du Patrizia fragen. Ich weiss nicht mehr, als du schon in der Zeitung lesen konntest."
"Ist da was dran, dass die Tote am Hohgant mit dem Politiker zusammenhängt?"
"Es sieht wohl danach aus, denke ich."
"Rebecca! Bitte. Das sind Untersuchungsdetails. Die darfst du nicht ausplaudern." Patrizia fühlte sich plötzlich nicht mehr so wohl. Jim und Sandra hingegen hörten aufmerksam zu.
"Ich hole mir etwas zu essen." Patrizia stand auf und schritt Richtung Grill, wo sie von Kari abgefangen wurde.
"Hoppla! Was ist denn dir über die Leber gekrochen? Das ist eine Feier hier, kein Kampf!"
"Kari, sälü! Sorry, Rebecca plaudert mir zu stark aus internen Dingen. Da musste ich weg. Das geht einfach gar nicht."
"Ach, lass gut sein. Schau, dort hinten sitzt die Lehrerin mit dem Pfarrer und der Journalistin - dort drüben trinken die zwei Gemeindeammänner zusammen Schnaps und beim Feuer kuscheln sich der Finanzverwalter des einen Dorfes und die Gemeindeschreiberin des anderen. Hier bleibt alles unter Verschluss, kannst mir glauben. Es wird verbreitet, bis es alle wissen, dann bleibt es hier und Bern hört nichts davon. Emmental ist nun mal Emmental, das war schon bei Gotthelf so."
"Deine Ruhe möchte ich haben! Ermittlungen sind nun mal nicht für die Öffentlichkeit, auch nicht für die Familie. Rebecca ist unprofessionell."
"Wirst du sie melden?"
"Nein. Aber ich werde mit ihr reden. Auch wenn sie jetzt hier einen Freund hat, muss sie sich an die Regeln halten."
"Gute Entscheidung. Siehst du, du bist bereits eine von uns. - Bison-Steak?"
"Ja! Definitiv ja! Gross und blutig!"
"Mordkommission, ja? - Okay! Gefällt mir." Kari grinste und reichte ihr einen Teller. Patrizia hatte sich wieder beruhigt.
"Danke. Wollen wir uns setzen, ohne die anderen, für einen Moment?"
Kari zog die Augenbrauen hoch, wies ihr dann jedoch einen kleinen Tisch hinter der Bar. Dankbar verzog sich Patrizia vom Rummel und setzte sich.
"Was hat sie denn gesagt, das dich so in Sorge brachte?"
"Weisst du, es ist verzwickt. Wir kommen nicht voran. Niemand sagt uns etwas, und doch habe ich das Gefühl, jeder weiss etwas."
"Ja, das kenne ich, das ist hier so. Ich zog von Grindelwald hierher. Das waren harte Jahre, bis die Eggiwiler und die Schangnauer mich als einen der ihren akzeptierten. Das kannst du mir glauben."
"Ist das nicht überall auf der Welt so?" Patrizia nahm einen Schluck Bier.
"Nein. Ich war in Chile, ich war in Neuseeland, ich war in Namibia. Es gibt Orte auf der Welt, da spielt es keine Rolle, woher du kommst, sondern nur, wer du bist."
"Der eingewanderte Bison hier, also der ist bei mir sehr willkommen! Wow, das schmeckt köstlich."
Kari lachte. "Willkommen im Emmental!"
"Willkommen zurück, meinst du. Ich bin eine Eggiwilerin und fühle mich in meiner Heimat so fremd wie mitten in Tokyo."
"Ach, das kommt schon wieder. Lass dir Zeit. - Welcome home!"
"Danke." Patrizia lächelte. Sie blickte um sich. Die Hügel lagen unter dem orangen Abendhimmel, die Konturen waren bereits dunkel. Hinter ihnen rauschte die Emme. Als sie den Parkplatz mit ihren Augen überflog blieb sie plötzlich wie versteinert stehen. Da parkte doch tatsächlich der grosse, schwarze SUV, der sie beinah gerammt hatte.
"Kennst du die Autos der Bewohner hier?"
"Was ist denn das für eine Frage? - Nein. Ich interessiere mich für die Natur. Die Karren sind mir egal."
"Wem gehört beispielsweise dieser schwarze SUV dort hinten?"
"Treffer im Spiel! Etwa fünfzig Leute hier fahren einen schwarzen SUV. Früher waren es die Landrover, heute sind es die 4x4 Nobelkarren. Jeder fährt einen ähnlichen Wagen und die meisten wählen die Farbe schwarz. Frag mich lieber nach dem schnuckligen, mintgrünen Toyota dort drüben - der ist wenigstens einzigartig und er gehört dem Pfarrer. Warum interessiert dich das Auto überhaupt?"
"Ach nur so. Ich glaube, ich habe ihm einen Parkschaden beschert", log Patrizia. Sie nahm sich vor, das Kennzeichen aufzuschreiben, sobald sich eine Gelegenheit bot.
***
Zeljka Kosic hatte sich neben die Lehrerin gesetzt, ihr gegenüber sass der Pfarrer der Gemeinde Schangnau. Ein sehr junger Pfarrer, wie Zeljka fand, und durchaus attraktiv. Aber wie es schien, hatte er mehr Interesse an der Lehrerin als an ihr. Wer konnte es ihm verdenken, sie war schliesslich nicht von hier.
"Können wir hier reden?"
"Du wolltest mich sprechen, das ist der Ort. Wir haben hier keine Geheimnisse. Wenn viele Ohren hören, was ich dir sage, dann werden auch viele Augen lesen, was du danach schreibst. Ich bin Denise, die Lehrerin hier, und ich möchte nicht zitiert werden.
"Und ich bin Matthias, der Pfarrer, freut mich. Du bist also die Frau, die unser Dorf im ganzen Land berüchtigt macht."
"So idyllisch, wie ihr glaubt, ist es doch längst nicht mehr. Die schlechten Nachrichten kommen nicht von mir, für die ist euer Serienmörder verantwortlich."
"Was macht dich glauben, dass es Mord war?"
"Das Verhalten der Polizei. Sagen wir einfach, ich weiss es."
"Apropos Polizei - du kannst sie direkt fragen gehen. Sie sitzen beide da drüben." Denise zeigte auf die Gruppe der Outdoor-Sportler mit den beiden Polizistinnen.
"Ich würde aber lieber mit dir reden. Wie gesagt, arbeite ich an einem Artikel, der Klara Gruber würdigen soll."
"Klara war eine von uns. Hier geboren, zur Schule gegangen und nun leider auch hier gestorben. Sie hatte grosse Pläne für unser Dorf. - Matthias, holst du uns bitte zwei Bier? Danke."
Der Pfarrer stand auf und schlenderte zur Bar. Zeljka schaute ihm nach, Denise schmunzelte. "Da wird nichts draus. Ich glaube, er steht eher auf mich."
"Habe ich schon bemerkt. Ein schöner Mann."
"Vor allem aber ein guter Mann. Du solltest nächste Woche zur Abdankung für Klara kommen und sehen, wie einfühlsam und menschlich er seinen Job macht."
"Zurück zu Klara. Sie war eine hervorragende Kletterin, ich habe sie damals interviewt, als sie die Meisterschaft gewann. Ich kann nicht glauben, dass sie abgestürzt ist."
"Unser Berg ist brüchig. Das ist schon möglich. Klara riskierte oft viel, suchte nach dem Nervenkitzel."
"Sie und Sepp hatten Pläne für ein Bed and Breakfast?"
"Du bist gut informiert. Ja, das hatten sie. Dadurch wären wohl mehr Touristen nach Schangnau gekommen, Biker, Kletterer, Wanderer. Die Kajaker dort waren nicht alle begeistert vom Projekt, denn es wäre eine ernstzunehmende Konkurrenz geworden. Klara hatte aber Ideen, wie sie beide davon hätten profitieren können."
"Was war an der Sache mit dem getöteten Politiker dran?"
Matthias kam zurück und reichte den Frauen je ein Honigbier. "Welche Sache?"
"Er soll sich mit Klaras Mann gestritten haben."
"Klara war eine treue Frau, wenn du darauf hinaus willst." Denise bedankte sich beim Pfarrer, der sich wieder gesetzt hatte. "Sie kannte Reto von früher, im Zusammenhang mit dem Bauprojekt haben sie sich erneut getroffen und Sepp glaubte wohl, er wäre ihretwegen gekommen. Früher, als sie noch zur Schule gingen, waren sie zusammen, aber das war längst vorbei. Du suchst die dunklen Geheimnisse der Protagonisten deiner Geschichte. Die wirst du hier nicht finden."
"Köbi Bucher hat mir etwas von einem Internetspiel erzählt, welches Klara, du und er gespielt habt."
"Ja, das stimmt. Klara war eher selten online, so wie ich auch. Köbi kennt das Spiel deutlich besser."
"Kannst du mir etwas über diesen seltsamen Voltaman berichten?"
"Ich weiss nicht, was das mit einer Reportage über Klara zu tun haben soll."
"Ich möchte gerne verstehen, wie sie gelebt hat, damit ich alles richtig schreiben kann." Zeljka setzte ihren unschuldigsten Gesichtsausdruck auf.
Matthias grinste. "Wenn du so guckst, glaubt dir Denise kein Wort. Diese Miene kennt sie von ihren Schülern gut genug. Sei einfach ehrlich, dann kannst du vielleicht etwas erfahren." Denise und er prosteten sich zu.
"Okay, verstanden. Ich vermute, dieser Spieler könnte etwas mit ihrem Tod zu tun haben."
"Du gibst nicht auf, wie? Es war ein tragischer Unfall. Und dieser Voltaman könnte jeder sein. Er könnte in London wohnen oder in Sydney - diese Spur wirst du wohl verlassen müssen. Was allerdings stimmt ist, dass Voltaman Klara mehrmals in den privaten Chat eingeladen hat."
"Ist sie der Einladung gefolgt?"
"Das weiss ich nicht. Möglich wäre es. Wie schon gesagt, sie liebte den Nervenkitzel."
Zeljka hatte für den Moment genug gehört und verabschiedete sich von den beiden. Sie wollte sich später über diesen Voltaman informieren, tippte dazu eine Kurznachricht an ihren Kollegen, der sich mit dem Internet sehr gut auskannte. Als sie über das Festgelände schlenderte, fiel ihr der schwarze SUV auf dem Parkplatz auf. Sofort ging sie darauf zu, umrundete das Fahrzeug.
"Suchst du etwas Bestimmtes?" Sandra von den Kajakern stand hinter der Journalistin.
"So ein Wagen hat mich von der Strasse gedrängt und ich wollte sehen, ob es vielleicht dieser hier gewesen sein könnte. Weisst du, wem er gehört?"
"Ja, weiss ich."
"Sagst du es mir?"
"Ich kenne dich nicht. Meine Mutter hat mir verboten, mit Fremden zu reden."
"Ich bin Zeljka Kosic, von der Presse." Sie betrachtete die grosse, rauchende Frau mit den schwarzen Haaren.
"Berichtest du über unser Fest?"
"Wer will das wissen?"
"Sandra Eicher, von den Kajakern." Sie streckte der Journalistin ihre Hand entgegen. Zeljka betrachtete die Tattoos auf dem Arm der Sportlerin.
"Ja, ich kann über euer Fest berichten. Wem gehört nun der Wagen?"
"Mir. - Komm mit, ich stelle dich den anderen vor."
"Hast du mich in die Emme gedrängt?"
"Hätte ich das gewollt, würdest du im Spital oder auf dem Friedhof liegen und wir könnten nicht zusammen Bier trinken gehen. Die Antwort ist nein. Solche Wagen gibt es hier viele und schlechte Fahrer auch." Sandra schritt auf die Bar zu, Zeljka folgte ihr. Im Versteckten schoss sie noch schnell ein Foto vom Auto.
"Leute, das ist Zeljka von der Presse. Passt ab sofort auf, was ihr sagt, sonst könnt ihr es morgen in der Zeitung lesen." Sandra lachte herzhaft über ihren Witz und reichte Zeljka ein Bier. "Zel - das sind die anderen. Sei nett zu ihnen."
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